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Adornos Vorlesung von 1960/61 muß - und kann - für jenes Buch über Heidegger stehen, das der Autor nicht geschrieben hat und nicht schreiben wollte. Es ist gleichsam die verspätete Ausführung eines Projekts, das niemand anderer als Benjamin schon um 1930, bald nach dem Erscheinen von Sein und Zeit, verfolgt hatte, ohne es auszuführen: "den Heidegger zu zertrümmern", wie er formulierte. Für Adorno bedurfte es nicht der Erinnerung an den Plan des Freundes; wie dieser hatte er bereits unmittelbar nach Erscheinen von Sein und Zeit, also längst vor Heideggers berüchtigter Rektoratsrede, reagiert…mehr

Produktbeschreibung
Adornos Vorlesung von 1960/61 muß - und kann - für jenes Buch über Heidegger stehen, das der Autor nicht geschrieben hat und nicht schreiben wollte. Es ist gleichsam die verspätete Ausführung eines Projekts, das niemand anderer als Benjamin schon um 1930, bald nach dem Erscheinen von Sein und Zeit, verfolgt hatte, ohne es auszuführen: "den Heidegger zu zertrümmern", wie er formulierte. Für Adorno bedurfte es nicht der Erinnerung an den Plan des Freundes; wie dieser hatte er bereits unmittelbar nach Erscheinen von Sein und Zeit, also längst vor Heideggers berüchtigter Rektoratsrede, reagiert und die Fundamentalontologie abgelehnt. Heidegger galt ihm als eher bescheidener, freilich um so gefährlicherer Denker.
Nach seiner Rückkehr aus dem Exil galt Adorno weithin als der intellektuelle Gegenpart Heideggers, und tatsächlich hat er sich mit diesem intensiver beschäftigt als mit irgendeinem anderen zeitgenössischen Philosophen. Adorno hat Heideggers Denken vielfach der Kritik unterzogen; nirgends jedoch in der Form der politischen Denunziation, sondern indem er den Zusammenhang des philosophischen Gehalts mit dem politischen aufzeigte: als Plädoyer für Aufklärung und Rationalität.
Autorenporträt
Adorno, Theodor W.
Theodor W. Adorno wurde am 11. September 1903 in Frankfurt am Main geboren und starb am 06. August 1969 während eines Ferienaufenthalts in Visp/Wallis an den Folgen eines Herzinfarkts. Von 1921 bis 1923 studierte er in Frankfurt Philosophie, Soziologie, Psychologie und Musikwissenschaft und promovierte 1924 über Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie. Bereits während seiner Schulzeit schloss er Freundschaft mit Siegfried Kracauer und während seines Studiums mit Max Horkheimer und Walter Benjamin. Mit ihnen zählt Adorno zu den wichtigsten Vertretern der »Frankfurter Schule«, die aus dem Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt hervorging. Sämtliche Werke Adornos sind im Suhrkamp Verlag erschienen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2002

Seht euch nur den Teddy an, wie der Teddy toben kann!
Eine Theorie, die ständig für Nachschub an Gegnern sorgen muss: In seinen Frankfurter Vorlesungen übte Adorno sich zweimal pro Woche im Heideggerzertrümmern
Fünfzehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs griff Theodor W. Adorno das Projekt „Heidegger zertrümmern” auf, das Walter Benjamin einige Jahre nach Erscheinen von „Sein und Zeit” notiert hatte. Dabei sollte in parlamentarischen Nachkriegszeiten statt Gegenwehr gegen die tödlichen Denkfiguren des deutschen Faschismus eine Unterweisung für Studenten in Sachen Sektenführer des Denkens herauskommen. Weniger Erkenntnistheoretisches als vielmehr Erkennungsdienstliches bot die Heidegger-Vorlesung Adornos, die jetzt in der Reihe der Nachgelassenen Schriften erschienen ist: unfehlbare Kriterien zur Enttarnung falschen Philosophierens oder, denkpolizeilicher ausgedrückt, eine Tatbestandsbeschreibung des Delikts Fundamentalontologie.
Zweimal wöchentlich schärfte der Professor für Philosophie und Soziologie im Wintersemester 1960/1 seinen Hörern und wohl auch einigen Hörerinnen im Frankfurter Hörsaal ein, nur ja nicht dem Bedürfnis nach Ontologie zu erliegen, das der Sprachmagier in Freiburg bediene wie die Kulturindustrie das Konsumbedürfnis der Massen. Zwar seien auch schon Kinder mit dem Bedürfnis ausgestattet, hinter Begriffen die Sache greifen zu wollen, doch sei diese ohne Umweg, ohne Vermittlung des Subjekts, nun mal nicht in den Händen zu halten. Wenn Heidegger das verspricht, mache er sich der Infantilisierung der Philosophie und schlimmer noch: des mythologischen Denkens schuldig.
Mythos ist Ungeschiedenheit und darum der größte Feind der Kritik, die bekanntlich emsig unterscheidet. Nichts gruselt sie mehr als Vermischungen wie das Heideggersche Amalgam aus deutschtümelnder Philologie und antiker Philosophie. Die „Unbestimmtheit, das konturlose Ineinanderspielen aller denkbaren Gestalten, das Vermischtsein von allem mit allem” ist für sie ein Morast. Die Kritische Theorie tritt an, den ontologischen Sumpf trocken zu legen. Sie bedarf der trennenden Gegnerschaft, schon um ihrem Namen gerecht zu werden. Das wöchentliche Abarbeiten am Heroenkult des Seins mündete daher theoriegemäß in eine Programmschrift der Kritischen Theorie. Einige Kapitel der Negativen Dialektik gingen aus der Vorlesung hervor. Von der kritisierten Seinsphilosophie blieb am Semesterende nur ein Zerrbild übrig, das im Jargon der Eigentlichkeit von 1964 in einer eher wohlfeilen Verspottung von Heideggers Sprachduktus zur Lächerlichkeit gesteigert wurde.
Unter dem Eindruck einer Philosophie, die sich dem Nationalsozialismus zur geistigen Führung anempfohlen hatte, fixiert Adorno seinen Gegner auf dessen Hauptwerk von 1927, „Sein und Zeit”. Heidegger hatte das Sein nach der von ihm zur Kehre stilisierten Änderung der eigenen Denkrichtung zwar zur Seinsgeschichte umgeschrieben. Doch Adornos Hauptvorwurf gegen die Ontologie, der Rückfall in ungeschichtliche Archaismen blieb eine ausgemachte Sache für denjenigen, der selbst so bodenlos ahistorisch verfährt, dass er in mythischen Helden wie Odysseus niemand anderen als das bürgerliche Individuum seiner Gegenwart wiedererkennt.
Was ihn rasend machte
Geschichte lässt sich auf der Basis solcher Kurzschlüsse jedenfalls nicht schreiben. Heutige Studenten der Kulturwissenschaft gehen darum dialektikvergessen an ihr historisches Material. Statt nach dem Sinn von Kultur fragen sie nach Faktizität, die bei Heidegger als Geste des Faktischen – so und nicht anders – vorkommt und Adorno rasend gemacht hat.
Adorno braute aus seiner Kritik an Heidegger den Stoff zusammen, mit dem eine ganze Generation geimpft werden sollte, nicht nur gegen die inzwischen immer seltener auftretende Krankheit namens Ontologie, sondern grundsätzlicher gegen ein Denken, das unkritisch, mythologisch verfährt. Der Theoretiker der Kritik verlangte seinen Hörern eine Entscheidung ab, keine Wahl wie zwischen CDU und SPD, wie er betont, sondern das Bekenntnis einer Fundamentalabsage an die Ontologie. Als Hörer der Vorlesung in den sechziger Jahren hätte man sich der Einschwörung auf die Dialektik vielleicht gar nicht entziehen können. Doch war die Theorie mit dieser flächendeckenden Zertrümmerung einer befeindeten Philosophie nicht damals schon an ihr Ende gekommen? Welche Gegnerschaft hatte sie noch zu gegenwärtigen, nachdem sie in Heidegger ihren ultimativen, Mythos und Nationalsozialismus auf sich vereinigenden Gegner aufgebaut hatte? In glatter Verkehrung zum Problem des Anfangs im Ungeschiedenen, das die Dialektik mit der Ontologie hat, bereitet sich die Theorie, die ständig für Nachschub an Gegnern sorgen muss, um ihren Existenzgrund aufrechtzuerhalten, ein Problem des Endes.
Fraglos verfolgte Adorno mit seiner Vorlesung nicht dasselbe Ziel wie das Zertrümmerungs-Projekt, das 1930 ein eher schwieriger Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung angezettelt hatte. In der Wahrnehmung Adornos war in den sechziger Jahren schließlich eine andere Gefahr im Verzug als die des Faschismus im Philosophengewand. Es galt, gegen die „herrschende Heideggerei” (Adorno) die Schlüsselposition des Denkens in der sich gerade demokratisierenden Bundesrepublik einzunehmen. Man muss nicht entscheiden, ob damals ein Kampf entschieden wurde und ob überhaupt ein Kampf zu entscheiden war. Er prägte jedenfalls ein Muster der Auseinandersetzung hierzulande, dessen Urszene der Band der Vorlesungsmitschrift in aller Ungeschütztheit frei gesprochener Professorenworte dokumentiert. Nicht allein teilte die Vorlesungsszene die geistes- und sozialwissenschaftliche akademische Nachkriegswelt in Adorno- und Heideggerschüler. Als Muster rastert sie immer noch die Hör- und Lesegewohnheiten eines Publikums, das, bevor es überhaupt mit dem Nachdenken beginnt, nach richtig und falsch sortiert, was ihm dargeboten wird.
Die scheinbaren und deswegen unerträglichen Gemeinsamkeiten, um die es Benjamin vermutlich bei seinem Abgrenzungsprojekt gegen Heidegger gegangen wäre, liegen im blinden Fleck der Kritik Adornos. Erst aus der Distanz zu den beiden zu ihrer Zeit ranghöchsten Philosophen der Bundesrepublik lässt sich ein Blick darauf, etwa auf das Moment der Gefahr werfen, das beide Denker eint.
Doch während der Ontologe es zum Prinzip seiner Philosophie erhob, wendete der Dialektiker es von Anfang an moralisch. Die Unterscheidung in gut und schlecht soll jegliche Gefahr bannen. Es scheint, als wurde bei aller deklarierten und geforderten Freiheit in Frankfurt letztlich doch ein recht ängstliches Denken gepflegt. Den Denker der Angst wird es kaum angefochten haben. Nahm Heidegger die Auseinandersetzung in Frankfurt überhaupt zur Kenntnis, zog er es aus strategischen Gründen vor, nicht öffentlich Stellung zu nehmen? Adorno gab ihm dazu auch keine Veranlassung. Er adressiert seinen Gegner nur indirekt. Stattdessen richtet er seine Kritik an den französischen Heideggerianer Maurice Merleau-Ponty, als er Passagen der Vorlesung in Paris vorträgt. Doch auch jenseits des Rheins scheint er keine unmittelbare Reaktion auf seine Anwürfe erhalten zu haben und deutet dies im Tagebucheintrag unter dem 18. April 1961 mit den lapidaren Worten: „Merleau-Ponty chokiert.” CORNELIA VISMANN
THEODOR W. ADORNO: Ontologie und Dialektik (1960/1). Hrsg. von Rolf Tiedemann (Nachgelassene Schriften, Band 7 , hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv). Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002. 446 Seiten, 32,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Das Virtuose ist nicht das Unwahre
Adornos Fragmente zur musikalischen Reproduktion: ein Hauptwerk / Von Gustav Falke

Gegenstand der Musikwissenschaft sind heute Texte. Das wäre nicht anders, untersuchte man mündliche Traditionen, Improvisationen oder Interpretationen. Sie würden als Abweichung vom Maß der Schrift genommen. Es scheint gar nicht anders sein zu können, denn erst auf die Schrift läßt sich zurückkommen, erst die Schrift ermöglicht Nachprüfbarkeit, Objektivität. In der Literaturwissenschaft verhält es sich ebenso. Doch vielleicht führt gerade die Ähnlichkeit zwischen einem literarischen und einem musikalischen Text in die Irre. Denn zugleich ähnelt ein Musikstück einem Gemälde. Wir brauchen seine sinnliche Gegenwart, und dazu genügt keine bloße Aktualisierung des Geschriebenen. Die mathematisch präzise Umsetzung einer Partitur wäre wohl noch als Musik zu erkennen, aber nur, weil wir aus der Erfahrung angemessenen Vortrags jetzt selber Gruppierungen, Gewichtungen vornähmen. Sie ließe uns kalt.

Die textorientierte musikwissenschaftliche Analyse trägt der Erfahrung der Hörer nur unzureichend Rechnung. Das zeigt sich als Unzulässigkeit der Analyse selbst. Der Text läßt uns bevorzugt auf geregelte Zusammenhänge achten: Kadenzen, Syntax, Formen, motivische Ableitungen. Die melodische Erfindung dagegen bleibt als das in den Zusammenhängen Zusammenhängende ein schlicht Gegebenes, irreduzibles Produkt des kompositorischen Genies. Und auch über Klangfarbe ist lesend wenig herauszufinden. Gelesene Musik ist immer disegno, nie colore. Am folgenreichsten aber lenkt der Text darin, daß er als das, worauf ich zurückkommen kann, eine ideale Gleichzeitigkeit unterstellt. In dieser Gleichzeitigkeit muß ich nicht mehr zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden oder zu Erwartendes und Erinnertes aufeinander beziehen. Ob ich in Motiven oder in Melodien, melodisch oder kontrapunktisch, in Vierteln oder ganztaktig denken soll, ob eine motivische Ableitung zwei Gestalten als verwandt ausweist oder nur dem Satz eine Grundtönung gibt, ob einem Thema der tragende Boden entzogen wird oder ob es energisch einem Ziel zustrebt, diese für den ausführenden Musiker wie für den Hörer höchst wichtigen Fragen haben am reinen Text gar keinen rechten Sinn. Überall, wo der Musiker sich entscheiden muß, ob er dies oder jenes hervorhebt, kann sich der Analytiker zurücklehnen: Es ist eben beides da. Sinnvoll aber wird das Stück für den Hörer erst aus dem Ineinander der gewichtenden Entscheidungen.

"Aller bestehenden Musik ist das Interpretiertwerden wesentlich." Dieser Satz aus Adornos Aufzeichnungen zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion müßte für die Musikwissenschaft wie für die orthodoxen Adorno-Anhänger ein Skandal sein. Es gibt für Adorno das reine Werk, aber nur als (regulative) Idee der wahren Interpretation. "Der verantwortliche Musiker läßt die Unterscheidung von richtiger und falscher Interpretation so wenig sich verkümmern wie die eines richtig oder falsch gegriffenen Akkords, eines reinen oder unreinen Tons." Er sucht im Text nach Hinweisen für den richtigen Vortrag, aber erst bei dieser Suche zeigt sich, was im Text steht. Der Text hat Wirklichkeit, musikalischen Sinn, nicht schon in der analytischen Lektüre, sondern erst im Versuch, ihn vorstellend oder vortragend zu realisieren.

"Ausgehen von der Frage: was ist ein musikalischer Text. Keine Anweisung zur Aufführung, keine Fixierung der Vorstellung, sondern die notwendig lückenhafte, der Interpretation bis zur endlichen Konvergenz bedürftige Notation eines Objektiven." Für den Begriff von Interpretation entwickelt Adorno, was man bei ihm nicht ohne weiteres vermutet: eine Wahrheitstheorie, eine Hermeneutik des Textverstehens (lange vor Gadamer) und zumal (lange vor Derrida) eine Metaphysik der Schrift. Grundsätzlich steht für ihn auch die Notenschrift natürlich im Horizont der Dialektik der Aufklärung. "Die ersten Schriftzeichen sind die starr regelmäßigen Trommelschläge der Barbaren, und vielleicht ist die musikalische Schrift überhaupt Nachahmung jener rhythmisch-disziplinären Systeme, die selber bereits die musikalischen Zeitverhältnisse durch die zeitfremde Regelmäßigkeit der Abstände verräumlichen. Jedes Notenzeichen ist das Bild eines Schlages." Doch anders als die Buchstabenschrift ist die Notenschrift doppelten Ursprungs. In ausführlichen Frühmittelalterstudien (man glaubt es kaum!) kommt Adorno zur Unterscheidung eines neumischen von einem mensuralen Moment. Die Neumen koordinieren, mit Vorlauf in der Cheironomie des antiken Chorführers mit ihren festgelegten Handzeichen, eine schriftlose kollektive Praxis, mit der Mensuralnotation werden Dauer und Höhe der Töne fixiert.

Adornos etwas seltsame paläontologische Divinationen, in denen Mittelalter (die Zeit vor Monteverdi), Barbaren, Griechen, Buschmänner, Slawen bunte Reihen bilden, haben ihren philosophischen Sinn in dem materialistischen Bemühen, Musik auf ursprüngliche somatische Impulse zurückzubeziehen. Musikhistorisch wird die Unterscheidung von Neumischem und Mensuralem dagegen erst relevant, wo es nicht nur wie im achtzehnten Jahrhundert um den richtigen Vortrag zeitgenössischer, sondern wie seit der Romantik um die richtige Interpretation historischer Kompositionen geht. Da nämlich macht sich bemerkbar, daß die scheinbar mathematisch genaue Notation eine wesentliche, wie Adorno es nennt, Unbestimmtheit hat. Das Geschriebene fußt auf musiksprachlichen Selbstverständlichkeiten, die wir nur unzureichend kennen. Ebendiese prinzipielle Unbestimmtheit des Textes ist der legitime Ort der Subjektivität des Interpreten. Das Idiomatische seines Spiels greift ein, um das Neumische am Text, die mehr oder weniger expliziten Anweisungen für den richtigen Vortrag, zu übersetzen. "Kategorien wie Geigenton, Anschlag und so weiter, überhaupt ein Die-Sprache-des-Instruments-Sprechen. Auch Caruso. Ohne dies Moment keine große Interpretation." Adorno kommt gleich zur philosophischen Sache: der falschen Vorstellung, es könne das Werk an sich aufgeführt werden. Doch damit soll nicht der Geist gegen den Buchstaben gehalten werden. "Unter keinen Umständen darf die Theorie je mit Kategorien wie Persönlichkeit und so weiter sich abspeisen lassen." Die ganzen Bemühungen um eine Theorie der Notenschrift haben ihren Sinn überhaupt nur im Nachweis, daß der Historismus nicht wider den Geist, sondern wider den Buchstaben sich vergeht. Seine Texttreue ist treulos, weil sie übersieht, daß der Text in seiner prinzipiellen Unbestimmtheit nach dem mitdenkenden Interpreten verlangt.

Gemeinhin bringen die Adorno-Anhänger hier den fortgeschrittensten Stand der Kompositionsgeschichte herbei, verstehen unter dem mitdenkenden den strukturanalytischen Vortrag und kämpfen in seinem Namen gegen die authentische Aufführungspraxis. Doch das Geviert von Mensuralem, Neumischem, Musiksprachlichem und Idiomatischem bewährt sich gerade an dieser Praxis. Adorno kannte nur Historisten, die den Text Note für Note umsetzen wollten und dann in der Tat die einsetzende Langeweile mit Aura bekämpfen mußten. Die spätere Rekonstruktion von Spieltechniken dagegen führte zu der manche überraschenden Einsicht, daß, je mehr wir von den zeitgenössischen Praktiken wissen, um so unterschiedlicher die Interpretationen ausfallen. Harnoncourt und Gardiner sind einander so fern wie Toscanini und Furtwängler. Die Kenntnis der Musiksprache verleiht dem Neumischen eine textuelle Dichte, die dem Idiomatischen überhaupt erst einen Spielraum eröffnet.

Um so schärfer fällt der Vorwurf treuloser Texttreue auf die Modernisten zurück. "Alle Formen des Objektivismus, von Stockhausen bis Walcha, meinen eigentlich dasselbe", sind Flucht in die abstrakte Negation des Espressivo. Es werde zuwenig phrasiert, heißt es fast schon wie bei Sandor Végh, obwohl doch Musik einzig vermöge der Phrasierung spricht. Und zumal das Kauderwelsch, die Sinnlosigkeit von Aufführungen Neuer Musik resultiere daraus, daß niemand mehr sich eine Melodie zu spielen getraut. Natürlich verlangt der angemessene Vortrag eine genaue analytische Lektüre. Das Idiomatische muß das Neumische aus dem Mensuralen heraus bestimmen, darf sich zum Text nicht wie die Kolorierung einer Postkarte verhalten. Doch die Analyse bleibt Mittel. Interpretation ist die "Wiederherstellung des mimischen Elementes durchs analytische hindurch". "Espressivo spielen heißt: den immanenten Vollzug der Musik durchs Subjekt sich zueignen." Das wäre in der Endfassung sicher viel dialektischer, ideologiekritischer und wohl auch strategischer formuliert worden. Hier jedoch ist ganz klar: Es geht Adorno um ein Mehr an interpretatorischer Subjektivität. So ist auch unübersehbar, daß die Adorno-Anhängerschaft unrecht hatte, Michael Gielen oder Walter Levin mit dem Öl der philosophischen Theorie zu salben. Das Öl ist nicht geweiht.

Die Auseinandersetzung mit Adornos Musikphilosophie hat durchgängig den Antagonismus von Ausdruck und Konstruktion, Mimesis und Rationalität zugunsten der analysierbaren Strukturen aufgelöst. In den Fragmenten zum Beethoven-Buch wie jetzt in denen zur Reproduktionstheorie wird deutlich, daß es sich bei Adorno selber genau umgekehrt verhält. Musik ist "mimischen Wesens und der musikalische Sinn als Zusammenhang nichts anderes als die Totalität ihres Gestus. Das impliziert aber die unabdingbare Verpflichtung der musikalischen Erkenntnis auf das sinnliche Erscheinende als ihr strenges Objekt. Man könnte sagen, das konsequente, zum Bewußtsein seiner selbst gesteigerte Aushören der Musik." Mit der gegenwärtigen Musikwissenschaft ist das nicht zu machen. Adorno zielt auf eine Analyse, die nicht aus Angst vor dem Subjekt auf die Daten des Textes starrt, sondern sich Rechenschaft gibt über das eigene Hören, das wiederum notwendig ein Hören von Interpretationen ist - er zielt auf eine interpretierende Musikwissenschaft. Demgegenüber haben die Adorno-Anhänger Adorno betriebskompatibel gemacht. Man kann auch sagen, daß sie ihrer eigenen konventionellen Praxis den lauten Anstrich avanciertester Theorie gegeben haben.

Darin liegt freilich nicht nur Verfälschung. Rolf Tiedemann vermutet im Herausgebervorwort der Beethoven-Fragmente, daß sie nicht zum Buch werden konnten "in einem Zeitalter, in dem die ,besseren Welten', von denen Florestan sang, nur noch blutiger Hohn auf diese Welt hier sind, neben der Pizarros Kerker sich idyllisch ausnimmt". Vielleicht hatte Adorno hier ebensolche Hemmungen. Wahrscheinlicher ist, daß er sich der Mittel nicht sicher war, die Rede über musikalischen Ausdruck zwischen tönend bewegter Form unbeschadet hindurchzusteuern.

Ästhetischer Ausdruck soll intentionslos sein. "Es ist die These des Buches, daß Musik keine Sprache sei." Der Sinn einer Komposition kann in der Tat unmöglich in dem bestehen, was sich der Komponist bei ihr gedacht hat. Wir kämen in einen unendlichen Regreß. "Eine pathetische Stelle bedeutet nicht Pathos, sondern verhält sich pathetisch." Diese Sich-Verhalten bringt dann die lange Kette der Mimesis mit sich. Der Theoretiker verhält sich mimetisch zum Gehörten, der Hörer zum Vorgetragenen, der Interpret zum Text, der Text zur Idee der Musik, die Musik zu den körperlichen Gesten. Aber die genetische Kette hält überhaupt nur zusammen, weil bei jedem neuen Glied die Unmittelbarkeit des Verstehens neu entsteht. Für den musikalischen Interpreten betont Adorno das. Warum sollte das nicht auch für den Wissenschaftler gelten? Ob eine Phrase pathetisch ist, läßt sich rhythmisch, harmonisch, diastematisch genau analysieren, aber um diese Analyse zu vollziehen, muß ich sie als pathetisch bereits verstanden haben.

Aus der Furcht, die leibliche Unmittelbarkeit der Musik, Schopenhauers und Nietzsches Erbe, an die Intentionalität zu verraten, zieht sich Adorno auf ein kategoriales Philosophieren zurück. Gegenstand des Reproduktionsbuches sei "Interpretation als Form". Da er aber zugleich der Philosophie Sachhaltigkeit vindiziert, wird er auf eben die Musikwissenschaft zurückgeworfen, gegen deren Objektivismus seine eigene ästhetische Theorie angeht. An Schubert oder Mozart sieht er die Notwendigkeit, einen "tieferen Begriff der Idealität und Konsistenz des Werkes einzuführen als den der Einheit in der Mannigfaltigkeit der motivisch-thematischen Konstruktion. Das letztere schwebt mir längst vor, aber es entfernt sich von der ,Gegebenheit' der materialen Beschaffenheit der Musik so weit, daß es in eigentlich musikalischen Kategorien kaum mehr sich fassen läßt." Der Fortschritt im Stande der Materialbeherrschung, dieser goldene Knochen all derer, die musikalisch dem Weltgeist voranzulaufen dachten, hatte Adorno schon lange nicht mehr befriedigt. Aber der Konsequenz, daß sich Musik in eigentlich musikalischen Kategorien nicht angemessen fassen läßt, wollte er nicht nachgehen.

Vielleicht bilden die vom Herausgeber gut präsentierten, in weiten Teilen ungeheuer schwer zu lesenden Fragmente zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion zusammen mit den Beethoven-Fragmenten Adornos zweigeteiltes musikphilosophisches, das heißt ästhetisches, das heißt philosophisches Hauptwerk. Sie halten sich weitgehend frei von ideologiekritischer Erbaulichkeit und parteilicher Rücksichtnahme. Und sie führen im Nachvollzug von Adornos ruheloser Selbstkritik wirksamer in die philosophische Arbeit ein, als es eine zur Lehre geronnene Darstellung überhaupt könnte.

Theodor W. Adorno: "Nachgelassene Schriften". Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften. Band 2: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Hrsg. v. Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 400 S., geb., 78,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Seht euch nur den Teddy an, wie der Teddy toben kann". So keck formuliert Rezensentin Cornelia Visman ihren Eindruck, den die Lektüre von Theodor W. Adornos 1960/61 gehaltener Vorlesung "Ontologie und Dialektik", die nun in der Reihe der Nachgelassenen Schriften erschienen ist, bei ihr hinterlassen hat. Adorno bietet nach Vismans Ansicht darin weniger "Erkenntnistheoretisches" als vielmehr "Erkennungsdienstliches", nämlich: "unfehlbare Kriterien zur Enttarnung falschen Philosophierens oder, denkpolizeilich ausgedrückt, eine Tatbestandsbeschreibung des Delikts Fundamentalontologie." Kurz, es geht um eine Abrechnung mit Adornos Lieblingsfeind Martin Heidegger. Von Heideggers Seinsphilosophie bleibe am Semesterende allerdings nur ein "Zerrbild" übrig, hält Visman kritisch fest. Adornos Hauptvorwurf an Heidegger, der Rückfall in ungeschichtliche Archaismen, hält die Rezensentin Adornos eigenes ahistorisches Verfahren entgegen, wenn dieser im mythischen Helden Odysseus ausgerechnet das bürgerliche Individuum erkennt. Zudem wirft sie Adorno vor, die Gemeinsamkeiten in seiner und Heideggers Philosophie ignoriert zu haben.

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