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Karl Heinz Bohrer gilt als einer der streitbarsten deutschen Intellektuellen. Wann immer er in den letzten Jahrzehnten das Wort ergriff, meist in direkter Konfrontation mit dem Mainstream - die höchste Aufmerksamkeit, häufig auch Erregung seiner Zeitgenossen war ihm sicher. Als Leiter des Literaturteils der FAZ im eigenen Haus umstritten, als Herausgeber des Merkur für Reaktionsschnelligkeit und kühne Thematik berüchtigt, als Hochschullehrer eine Gegenfigur der Linken, als Wissenschaftler mit seiner zentralen Theorie der Plötzlichkeit eine Herausforderung für alle, die es gewohnt sind, sich…mehr

Produktbeschreibung
Karl Heinz Bohrer gilt als einer der streitbarsten deutschen Intellektuellen. Wann immer er in den letzten Jahrzehnten das Wort ergriff, meist in direkter Konfrontation mit dem Mainstream - die höchste Aufmerksamkeit, häufig auch Erregung seiner Zeitgenossen war ihm sicher. Als Leiter des Literaturteils der FAZ im eigenen Haus umstritten, als Herausgeber des Merkur für Reaktionsschnelligkeit und kühne Thematik berüchtigt, als Hochschullehrer eine Gegenfigur der Linken, als Wissenschaftler mit seiner zentralen Theorie der Plötzlichkeit eine Herausforderung für alle, die es gewohnt sind, sich geschichtsphilosophische Sinnhorizonte zurechtzubiegen.

In neun Kapiteln spannt Bohrer mit Jetzt den Bogen seiner Lebensgeschichte seit den späten 60er-Jahren: vom Konflikt mit der FAZ und seiner Freundschaft mit Ulrike Meinhof über die realistisch-hochsubjektiven Erfahrungen seiner langjährigen Aufenthalte und universitären Engagements in Frankreich, England, den USA bis hin zum kompromisslosen Rundumblick auf die augenblickliche "Lage". Scharf geschnittene Porträts von Weggefährten und Freunden, erbitterten Gegnern und geliebten Frauen wechseln mit intellektuellen Abenteuern und erotischen Eskapaden. Es ist die Sucht nach Fremdheit und "Differenz", die den Erzähler vorantreibt, unbeirrbar in seiner Erwartung, dass die banale Gegenwart umschlägt in das phantastische Jetzt.
Autorenporträt
Bohrer, Karl HeinzKarl Heinz Bohrer, geboren 1932 in Köln, war Literaturkritiker, Herausgeber, Wissenschaftler, Verfasser vieler Werke um die zentrale Idee des Momentanismus, der »Plötzlichkeit«. Langjährige Aufenthalte in Frankreich und England als bewusste Erfahrung der »Fremde«. Hochschullehrer in Deutschland, Frankreich und den USA. Als scharfzüngiger, auch polemischer Zeitkritiker stand er immer wieder im Zentrum heftiger Diskussionen. Bohrer verstarb am 4. August 2021 in London.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.03.2017

Wege
ins Jetzt
Von London nach Bielefeld
und zurück: Der Kritiker und
Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer
erzählt die Geschichte seiner
Abenteuer mit der Phantasie
VON THOMAS STEINFELD
Am Ende des Buches „Granatsplitter”, der „Phantasie einer Jugend“ (München, 2012), erzählte Karl Heinz Bohrer von einer Begegnung mit Laurence Olivier in den frühen fünfziger Jahren. Dieser „absolut englische Schauspieler“ sei Ehrengast einer Gesellschaft in London gewesen, zu der auch der deutsche Student eingeladen worden war. Als die beiden aber einander vorgestellt worden seien, habe Karl Heinz Bohrer, wie er selbst erzählt, nur einen Satz herausgebracht: „Yes, I like you very much“. Manch einem wäre ein solches Kompliment peinlich gewesen. Doch weit davon entfernt, sich seiner Unbeholfenheit zu schämen, soll der junge Mann mit seinem Auftritt zufrieden gewesen sein: „Was hätte er, der in allem so Unerfahrene, diesem großen Künstler denn gesagt, wenn er der Sprache mächtig gewesen wäre? Dass er ihn bewundere?“ Viel besser als alle wortgewandten Schmeicheleien erscheint doch dieses Gestotter: „Nein, es war besser so, wie es war. Er hatte ihn gesehen und ihm die Hand gegeben und gelächelt.“
Laurence Olivier, der britische Schauspieler, der sein Dasein mit jeder Rolle verändern konnte und dabei immer im äußersten Sinne physisch blieb, starb am 11. Juli 1989. Kurz darauf, erschüttert vom Tod des bewunderten Schauspielers, mitgenommen auch von den Feiern zum 200. Jahrestag der französischen Revolution, verließ Karl Heinz Bohrer seinen damaligen Wohnort Paris und fuhr mit der Bahn nach Deutschland. Einmal in der Woche musste er während des Semesters eine solche Reise unternehmen. In den Jahrzehnten zuvor war er Leiter des Literaturressorts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und nun Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Bielefeld, die zu jener Zeit noch eine der interessantesten neuen Hochschulen in Deutschland war. Als er dort eintraf, hatten sich Schauspielerei und Revolution vermengt: „Revolution und Olivier hatten nichts miteinander zu tun bis auf einen entscheidenden Umstand: Beide hatten meinen theatralischen Instinkt ins Wallen gebracht.“ Die Bielefelder Studenten wussten wenig von der französischen Revolution. Laurence Olivier kannten sie gar nicht. Karl Heinz Bohrer erteilte ihnen eine Lektion in Ergriffenheit aus doppeltem Anlass.
Das Buch „Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie“ ist die Fortsetzung der fantastischen Erinnerungen mit dem Titel „Granatsplitter“. Sie ist nicht in der Dritten Person, sondern in der Ich-Form geschrieben, und umfasst sein ganzes Leben als Erwachsener, von den Studienjahren in Göttingen und Heidelberg bis zur Gegenwart. Auch dieses Buch ist keine der üblichen Autobiografien. Eher ist es eine chronologisch fortlaufende und offenbar keineswegs abgeschlossene Auseinandersetzung mit den Menschen, Ereignissen und Ideen, die ihn, einen Intellektuellen ganz und gar, über sechzig Jahre hinweg beschäftigten. Vor allem aber ist es eine Erklärung und Verteidigung des einen Gedankens, der Karl Heinz Bohrer von vornherein mehr als alles andere beschäftigte, der sich allmählich entfaltete, über Stationen wie „Plötzlichkeit“ und „Erwartungsschrecken“ hinweg, und der schließlich in eine Apologie der Kategorie führt, die dem Buch das letzte Wort und den Titel geben: in das „Jetzt“.
Karl Heinz Bohrer ist eine einzigartige Gestalt unter den deutschen Gelehrten – ein Journalist, dem die Universität die Möglichkeit gab, dem Schreiben aus Gelegenheit zu entkommen, ein Professor, der im akademischen Leben die Freiheit suchte, eine intellektuelle Leidenschaft zu verfolgen, ein Publizist, der dieser Obsession wegen zum Strategen der Öffentlichkeit wurde, vor allem mit der Zeitschrift Merkur, die er von 1984 bis 2011 herausgab. Es gab in den vergangenen zweihundert Jahren nicht viele Menschen, die den bürgerlichen Glauben, die Kunst sei nicht nur autonom, sondern allen lebenspraktischen Verhältnissen überlegen, tatsächlich ernst nahmen. Karl Heinz Bohrer tut es. Er ist, so wie es aussieht, der Letzte in einer Tradition, die in den Werken Friedrich Hölderlins, Charles Baudelaires oder André Bretons einen erhabenen, absolut sinnlich gewordenen Geist wahrnehmen. Sie gelten ihm, in ihren eindrücklichsten Passagen, als Erscheinung eines rein Ästhetischen, dem man, weil es ist, was es ist, mit Begriffen nicht beikommt. Deswegen war ihm auch das Gestotter gegenüber Laurence Olivier lieber als das ausstudierte, aber auch stets verlogene Kompliment.
Einen radikalen Bürger könnte man Karl Heinz Bohrer nennen, oder anders: einen Konservativen, der um seiner bürgerlichen Prinzipien willen zum Radikalen wird. Seine berufliche Bestimmung schien er gefunden zu haben, als er im Jahr 1968 Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde und dort die Leitung des „Literaturblatts“ übernahm. Glaubt man Karl Heinz Bohrer, muss die Redaktion dieser Zeitung damals ein milder Orden gewesen sein, eine Assoziation ebenso souveräner wie gebildeter Köpfe, in der man dieselben allenfalls sacht schüttelte, wenn der Literaturkritiker nach Berlin fuhr und mit den revoltierenden Studenten sympathisierte (was er, wie schnell deutlich wird, keinesfalls der Politik wegen tat, sondern um einer energetischen Erscheinung wegen). Oder wenn die Wissenschaft mit einer neuen, theoretischen Sprache Einzug in die Literaturkritik hielt.
Ein Skandal, der sich ankündigte, als Ulrike Meinhof, mit dem Redakteur befreundet, im Jahr 1970 in den terroristischen Untergrund ging, wurde mit einem Ehrenwort abgewendet. Als Karl Heinz Bohrer nach sechs Jahren in diesem Amt auf Wunsch Joachim Fests, des neuen Herausgebers der Zeitung, durch Marcel Reich-Ranicki abgelöst wurde, nahm er diese Entscheidung deswegen nicht nur als persönliche Herabsetzung, sondern auch als Verrat an jener Souveränität wahr: Seinen Nachfolger, erinnert sich Karl Heinz Bohrer, habe er damals einen „im krassen Naturalismus und Psychologismus steckengebliebenen Kritiker“ genannt, „quasi von gestern“. Die eigene Aufgabe hatte er völlig anders verstanden: nicht als Rückwendung zum realistischen Erzählen und zu den Lieblingen des Publikums, sondern als Hinwendung zum möglichst wahrhaftigen Ausdruck der jeweiligen Zeiterfahrung – wobei dessen Gemeinverständlichkeit keine Rolle spielen darf, geschweige denn ein Bedürfnis nach Harmonie. Mit der Insistenz auf dieser Zeiterfahrung verschwand aber auch, erst allmählich und dann sehr schnell, die ästhetische Moderne aus dem Register der deutschen Literaturkritik.
Ein Jahr verging nach dem erzwungenen Abschied von der Kritik. Dann, im Jahr 1975, schickte die Zeitung ihren ehemaligen Literaturchef als Kulturkorrespondenten nach London. Eine Neigung zu England hatte Karl Heinz Bohrer schon seit seiner Kindheit gehegt, wie man in „Granatsplitter“ nachlesen kann, einer im Konservativen verwurzelten Liberalität wegen, aber auch, weil er in Großbritannien ein unbefangenes Verhältnis nicht nur zur Repräsentation und zum Ritual zu finden glaubte, sondern auch zu einer „Ästhetik des Schreckens“, die er dem Staat zubilligte.
Großbritannien scheint ihm dabei entgegengekommen zu sein, in Gestalt von Einladungen zum Tee, in der Verehrung für William Blake, in einer besonderen Leidenschaft für den Fußball – und im Krieg, den das Land im Jahr 1982 gegen Argentinien führte, der Falkland-Inseln wegen. Karl Heinz Bohrer kritisierte damals die „Sehnsucht, in einer Gartenlaube vor den Gefahren der Welt abgeschirmt zu leben“, die er in Deutschland zu Hause wähnte. Damals war er noch Redakteur, aber schon auf die Professur in Bielefeld berufen. Es soll dort zu jener Zeit Bestrebungen gegeben haben, die Bestallung zurückzunehmen.
Karl Heinz Bohrer ist kein politischer Denker. Wenn er Partei nimmt für einen auch formell selbstbewusst auftretenden Staat, wenn er erklärt, nicht mehr in Deutschland leben zu können, sondern in London oder in Paris wohnt, wenn er, nach dem Brexit, aus William Shakespeares „Richard II.“ zitiert: „Dies gekrönte Eiland, dies Land der Majestät, der Sitz des Mars, dies zweite Eden, halbe Paradies, dies Bollwerk, das Natur für sich gebaut“ – dann mag dabei der Wunsch, aus einem sich der eigenen Macht gewissen Staat auf die deutsche Provinz herabschauen zu müssen, eine Rolle spielen. Doch ist dieses Verlangen komplizierter. Denn es verbirgt sich darin auch das Begehren, an einem Erhabenen teilzuhaben, das in seinem Inhalt gar nicht mehr zu bestimmen wäre (denn anderenfalls wäre es kein Erhabenes mehr). London oder Paris, alternativ: Irland oder Stanford, gelten hier vielmehr Orte jenseits von Geografie und Zeit.
Solche Orte sind, so meint Karl Heinz Bohrer, in besonderem Maß dazu geeignet, sich der Trostlosigkeit der Welt zu widersetzen – wobei ein großer Teil seiner Erinnerungen den Wanderungen durch diese Städte gewidmet ist, und das heißt: den Versuchen, des Erhabenen im Trostlosen habhaft zu werden. Es sind aber letztlich auch die Bücher solche Orte des Widerstands, außerhalb von Geografie und Zeit. Karl Heinz Bohrer zwei Dutzend geschrieben, und auch sie wandern durch dieses Buch der fantastischen Erinnerung, von der „Ästhetik des Schreckens“ (1978) bis zum „Großen Stil“ (2007). Dass es so viele sind, und dass sie alle um dieselben Themen kreisen – um die Plötzlichkeit, den Schrecken, das Präsens, die Ekstase oder das Böse –, hat einen Grund, der im Denken Karl Heinz Bohrers selbst liegt: Sie sind Versuche, mit den Mitteln des Arguments an eine Erfahrung zu rühren, die jenseits aller Argumente zu Hause sein muss.
Man sieht in diesem Buch die Kollegen vorüberziehen, die Bücher, die Debatten. Es gibt Frauen, Lebensgefährtinnen und lange, offene Auseinandersetzungen mit dem Körper und dem sexuellen Verlangen, einschließlich eines Bekenntnisses zur in keiner Weise zu sublimierenden Sinnlichkeit von weiblichen Akten. Es gibt Freunde, frühe wie Jürgen Habermas und späte wie Hans Ulrich Gumbrecht. Aber es gibt auch ein elementares Bewusstsein, im Grunde stets auf sich gestellt zu sein: „Mein Alleinsein war nichts anderes als die unmittelbare Wahrnehmung der anbrandenden Welt um mich herum. Das erzeugte keine Langeweile, keine Leere, sondern das Gegenteil davon. Es lief auf die Empfindung hinaus, über alles zu verfügen. Nicht im Tun, sondern in der Vorstellung. Es war das Glück absoluter Souveränität.“
Diese Haltung hat nichts Verbindliches, nichts Vermittelndes, sie ist auf eine gesellige Weise unversöhnlich und manchmal sogar kriegerisch. Sie gründet im Nichts, und sie genießt sich im Wissen, auf nichts gegründet zu sein. Das Seltsamste, wirklich Ungewöhnliche aber ist, dass die „anbrandende Welt“ diesem Gelehrter, Denker und ja auch: Schriftsteller nicht widerspricht. Sie tut recht daran.
Dem Buch „Granatsplitter“ ist ein kurzes „Postscriptum“ beigegeben, in dem Karl Heinz Bohrer das Verfahren und den Sinn „fantastischer Erinnerungen“ erläutert: „Der Erzähler sagt nicht das, was er über seinen Helden weiß, sondern das, was sein Held selbst wissen und denken kann – je nach seinen Jahren.“ Es wäre hilfreich gewesen, auch das Buch „Jetzt“ mit einem solchen Hinweis zu versehen: um der Erwartung entgegenzutreten, Karl Heinz Bohrer habe seine Autobiografie geschrieben – und der Neugier auf ein privates Schicksal nachzugeben. Das aber ist nicht der Fall, und es wäre ihm vermutlich auch nie in den Sinn gekommen, sich freiwillig in die Lebensgeschichte eines einzelnen Menschen zu verwandeln. Statt dessen erzählt er, wie sich Gedanken und Erfahrungen gleichsam durch einen Menschen hindurchziehen, wie sie sich entfalten und verändern, in einer erst durch den Tod abgeschlossenen Bewegung. Er vollzieht am eigenen Leben die theoretische Erkenntnis, die ihn offenbar von seinen Studienzeiten bis auf den heutigen Tag begleitet: die Erkenntnis nämlich, dass es keine Erinnerung ohne Fantasie gibt – und umgekehrt. In diesem Ineinander aber ist die Möglichkeit von Individualität begründet.
In den Werken von Hölderlin
oder Breton nimmt er absolut
sinnlich gewordenen Geist wahr
Er brauchte und fand Orte,
sich der Mittelmäßigkeit, ja der
Trostlosigkeit, zu widersetzen
„Der Erzähler sagt
nicht das, was er über
seinen Helden weiß,
sondern das, was sein
Held selbst wissen
und denken kann – je nach
seinen Jahren.“
POSTSCRIPTUM ZU „GRANATSPLITTER“
Karl Heinz Bohrer:
Jetzt. Geschichte meines
Abenteuers mit der
Phantasie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
542 Seiten, 26 Euro.
E-Book 21,99 Euro.
Im Oktober 2016
las Karl Heinz Bohrer
auf dem Suhrkamp-
Kritikerempfang zum ersten Mal aus „Jetzt“.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2017

Die ganze Unerheblichkeit des sogenannten Lebens
Sinnsuche als Paradox: Karl Heinz Bohrer gibt sich in seinen Erinnerungen als Don Quijote der Geistesrepublik

Was wäre aus Karl Heinz Bohrer geworden, wenn diese Zeitung ihn nicht 1975 als Feuilletonkorrespondenten nach London entsandt hätte? Als Joachim Fest Herausgeber wurde, ersetzte er ihn als Literaturchef durch Marcel Reich-Ranicki. 2012 veröffentlichte Bohrer seine Kriegskindheitserinnerungen. "Jetzt", sein zweites autobiographisches Buch, enthüllt, dass an ihm ein Doppelgänger von Wilhelm Genazino verlorengegangen ist. "Die Wochenenden, an denen man draußen auf der Straße umherging, waren so deprimierend. Warum? Ich hatte die Vorstellung, dass der nicht arbeitende, feiertägliche, eintagsferiengelaunte Mensch dann die ganze Unerheblichkeit des sogenannten Lebens offenbarte. Denn eigentlich ereignete sich nichts."

Mit dem Koller des Frankfurter Flaneurs erklärt Bohrer, wie er seine Lebensarbeitsaufgabe fand: das Projekt hinter den literaturkritischen Bemühungen um die Rettung der ästhetischen Autonomie. "Es ging letztlich gar nicht um literarische Urteilskriterien. Es ging um das Selbst. Die Priorität von Alltäglichkeit war unerträglich geworden." Langeweile und Ekel: Diese Ur-Reflexe gegen das Gesellschaftliche begründen Bohrers Interesse am "Ereignis". Als "gewissermaßen asozial begabt" charakterisiert er sich - und erkannt haben soll dieses Talent zum Brückensprengen eine Frau, die der Gesellschaft den Krieg erklärte: Ulrike Meinhof.

Bohrer erinnert sich an eine wechselseitige Attraktion. "Als ob sie die Absicht verfolgte, meinen analytischen Literaturinstinkt anzuwenden auf die politische Situation, die sie umtrieb." Bevor Meinhof untertaucht, gibt es ein letztes Gespräch über die Vergeblichkeit von Bildungsreformen. Bei ihm bleibt ein "schlechtes Gewissen" zurück, weil er die "arbeitenden Massen" verdrängt hat. "Als Zehnjähriger hatte ich einmal, in aller Frühe, aus dem Eisenbahnfenster gesehen, wie in den Badezimmern, an denen wir vorbeifuhren, sich Männer zur selben Zeit rasierten. Ich fand das deprimierend und dachte nur: Niemals einen Beruf ergreifen wie alle anderen und mit ihnen zur selben Zeit aufstehen!" Also wurde er Journalist.

Die Versetzung bot die Chance, die Priorität der Alltäglichkeit zu überlisten. Bohrers "ganze England-Existenz war nichts anderes" als "eine neue Form, den Wochenenden mit fröhlichen, nichtarbeitenden Menschen zu entkommen". Dort gab es zwar auch Alltag; aber der blieb dem Deutschen fremd, der die Sprache nicht genau genug beherrschte. Seiner Abneigung gegen Hegel zum Trotz möchte Bohrer nämlich immer in Begriffen reden. Das Sinnliche, die Erscheinung, der Moment sind seine Themen. Aber er ist besessen von der Vorstellung, dass diese Ideen sich fixieren lassen. Daher der Wechsel von der Zeitung in die Universität, von London nach Bielefeld. "Wenn irgendetwas einen von den Tautologien des Alltags entfernte, wenn irgendetwas einen auf das Unerwartete stoßen ließ, wenn irgendetwas einen selbst verwandelte in ein anderes Selbst, was war es anderes als die Theorie?"

Ein Paradox über den Theoretiker steckt in dieser Verwandlungslehre. In der klassischen Philosophie richtet sich das theoretische Vermögen auf die Erkenntnis der wahren Welt. Für Bohrer ist die Theorie die Chiffre einer Gegenwelt, die er sich ausgedacht denkt. Er assoziiert die Theorie mit dem Theater. Dem Schleier der metaphysischen Tradition entspricht in Bohrers postmetaphysischem Denken der Vorhang. "Ja, die Theorie hatte, wenn sie wirklich eine Erfindung war, etwas Theatralisches." Bohrer blieb in England ein Zuschauer. Er füllte die Rolle des Korrespondenten brillant aus, weil er, seit er als Student Laurence Olivier auf der Bühne gesehen hatte, das Schauspielerische für den Schlüssel zum englischen Nationalcharakter hielt. Aus Westminster und Oxford berichtete er wie ein Theaterkritiker.

Der Alltag als Tautologie

Nicht nur der Alltag hat seine Tautologien, sondern auch das Außeralltägliche: Gesten der Intensität und Selbststeigerung. Am Autor dieses Buches, der uns in seine Künstlergarderobe einlädt, fasziniert das Theoretische stärker als jede der Theorien, deren Genese skizziert wird.

Ein Korrespondent schrieb nicht nur für die Zeitung, sondern schöpfte auch aus den Zeitungen, die vor vierzig Jahren nur lesen konnte, wer ein gedrucktes Exemplar vor sich hatte. "Die Art und Weise, wie eine Zeitung das darstellte, was passiert war, wurde zum Appell der Ereignishaftigkeit. Selbst banale Vorkommnisse täuschten, wenn von ihnen spannend berichtet wurde, über die mutmaßliche Sinnlosigkeit von allem hinweg." Anders gesagt: Auch die Zeitung verwendet Theorien, Schemata zur Exposition von Außergewöhnlichem. War Bohrers Abschied vom Journalismus ein Missverständnis? Nein: Zeitungsartikel hätte er nicht so nonchalant als Erfindungen ausgeben können wie Theoreme zur Voraussetzungslosigkeit der absolut modernen Literatur.

Eigenwillig verfährt der Autobiograph bei der Benennung der Nebenfiguren. Viele Kollegen und Schüler werden nur beim Vornamen genannt: Diese Okkupation der Geistesrepublik durch Vertraulichkeiten hätte Bohrer früher Stoff für eine seiner Provinzialismus-Glossen im "Merkur" geboten. Habermas wird fast immer als "der Philosoph" geführt. Er entpuppt sich als Alter Ego des Verfassers, steht für die diskursive Rückversicherung des Denkens, gegen die Bohrer revoltiert und der er doch ihr Recht zuerkennt. Der germanistische Doktorvater, dem Bohrer von Göttingen nach Heidelberg folgte, tritt nie unter seinem Namen auf. Dieser Erinnerungsbann ist die Strafe dafür, dass Arthur Henkels philologische Methode in Bohrers Referat darauf hinauslief, den Studenten den Geschmack am Neuen auszutreiben: Alles, was man las, erwies sich als Wiederholung von Mustern; erst recht alles, was man schrieb.

Ein löwenfreundlicher Löwenjäger

Gegen den Verdacht mangelnder Originalität nimmt Bohrer sogar den Protagonisten der Weltliteratur in Schutz, der die Risiken übermäßiger Lesefreude verkörpert. "Wenn Cervantes' Held gegen die Windmühlen anrennt, dann nicht einfach deswegen, weil er durch die Lektüre antiquierter Ritterromane verrückt gewesen wäre, sondern weil ihm gegen die Wirklichkeit etwas einfällt." Don Quijote nimmt die mutmaßliche Sinnlosigkeit von allem nicht tatenlos hin. Mit einem Vergleich hebt Bohrer an den Unternehmungen des sinnreichen Junkers ein Moment der Disziplinierung hervor: "Don Quijotes Einfall mit dem Orden der ,irrenden Ritter' hat die gleiche spirituelle Bedeutung wie Ignatius von Loyolas Gründung des Jesuitenordens, nachdem ihn Visionen überwältigt hatten." Die Ordensregel der irrenden Ritter erläutert Don Quijote nach der Begegnung mit dem Löwen, der bei offener Käfigtür kein Interesse daran zeigte, sich zum Kampf fordern zu lassen: "Ich also, da mein Schicksal es wollte, einer aus der Zahl der irrenden Ritterschaft zu sein, darf es nicht unterlassen, alles anzugreifen, was mir unter die Gerichtsbarkeit meines Amtes zu gehören scheint." Angriffslustig kennt man Bohrer, und so teilt er aus gegen Intellektuelle, Politiker und Journalisten, denen nicht im Traum einfällt, den Käfig konventionellen Denkens zu verlassen.

Die Gerichtsbarkeit, in deren Namen er ins Feld zieht, ist eine Art Feme: Als souveränes Individuum, frei geboren, wehrt er sich dagegen, dass das Leben berechenbar werden soll. Sein Gegner ist die ordentliche Gerichtsbarkeit unserer Debatten, deren Prozessordnung "der Philosoph" niedergelegt hat. Marxisten und Germanisten "zerrten die geheimsten, die sublimsten, die unübersetzbarsten Vorstellungen vor ihr Amtsgericht". Indem Bohrer sein Buch im Untertitel "Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie" nennt, meldet er sich als Erbe Don Quijotes - und unterwirft sich dem Amtsgericht. Das Donquichotteske seines Unternehmens ist ihm bewusst. Darin liegt die Donquichotterie.

Heinrich Heine, Bohrers liebster Schutzpatron, berichtete über seine Cervantes-Lektüre: "Wir fühlten, dass der Heldensinn des Ritters darum nicht mindere Bewunderung verdient, wenn ihm der Löwe ohne Kampflust den Rücken kehrte, und dass seine Taten umso preisenswerter, je schwächer und ausgedörrter sein Leib, je morscher die Rüstung, die ihn schützte, und je armseliger der Klepper, der ihn trug." Bohrers Leser bewundert gerührt, wie der Autor selbst dafür sorgt, dass seine Rüstung so verbeult aussieht. Der "satirische Sinn", den Bohrer an den Engländern schätzt, bewährt sich in der drastischen Benennung eigener Widersprüche.

Dieser Sinn für das Willkürliche in seinen Positionen kommt Bohrer erst auf den letzten Seiten abhanden, wenn er die Ereignisse kommentiert, über die er während der Niederschrift des Buches in der Zeitung las. Beziehungsweise die Nicht-Ereignisse: Grenzöffnung für Flüchtlinge und Brexit genügen seinem Ereignisbegriff nicht, was ihn nicht daran hindert, mit Sloterdijk und Safranski um die Wette zu schimpfen. Leider häufen sich gegen Ende auch die Fehler. Edmund Kean spielte Richard III. nicht Anfang des achtzehnten, sondern des neunzehnten Jahrhunderts.

Dem englischen Fußball empfiehlt Bohrer die erneute Einübung "des langen Balls in den Strafraum", der "im Zuschauer die Erwartung hochhielt, dass dort gleich etwas Explosives geschehen werde". Das kann doch wohl nicht wahr sein: dass das Ereignis das ist, was beim absehbarsten taktischen Manöver herauskommt? Man stellt sich das Erwartungsmanagement subtiler vor.

In diese Richtung deutet ein Witz aus Bohrers Heimatstadt, der ihm "einmalig" erscheint. Tünnes auf Löwenjagd in Afrika. Wie viele Löwen hat er denn erschossen? Keinen. "Als daraufhin Schäl seine Enttäuschung ausdrückt, sagt Tünnes selbstsicher: ,Für Löwe is datt vill.'" Hans Blumenberg zitiert den Witz in seinem Anekdotenbuch "Löwen" nach Odo Marquard, ohne kölnische Provenienz. Der Unterschied: Es ist ein Zuhörer, der dem beutelosen Jäger Trost spendet durch "das weise Zugeständnis", keiner "sei bei Löwen schon viel". Blumenberg schließt die Frage an, ob man dem "löwenfreundlichen Löwenjäger", um ihn endgültig zu trösten, nicht hätte sagen sollen, "er sei lebenslang auf der Löwenpirsch gewesen, wo es gar keine Löwen gebe". Karl Heinz Bohrer hat sich das dann und wann selbst schon gesagt. Sein Zweifel rechtfertigt seine Selbstsicherheit. Er jagt weiter, weil er vom Trost nichts wissen will.

PATRICK BAHNERS

Karl Heinz Bohrer: "Jetzt". Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.

542 S., geb., 26,- [Euro].

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»... ein unerwarteter Glücksfall für die oft allzu brav gewordene Geschichte des deutschen Geistes.«
Alexander Cammann, DIE ZEIT 02.03.2017