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Keiner versteht es so wie Roman Markin, Menschen einfach verschwinden zu lassen. Wer im Leningrad der 1930er-Jahre staatlich liquidiert wird, dessen Foto landet auf dem Tisch des Retuscheurs. Nicht ein einziges Bild soll bezeugen, dass diese Person je existiert hat. Doch eines Tages will Roman nicht dem Vergessen dienen, sondern sich erinnern: an seinen Bruder - und bringt sich damit in große Gefahr ...Anthony Marra erzählt von Menschen zu ganz unterschiedlichen Zeiten: von der Primaballerina, die im Gulag Schwanensee tanzen muss; von ihrer Enkelin Galina, die sich an das Einzige klammert, was…mehr

Produktbeschreibung
Keiner versteht es so wie Roman Markin, Menschen einfach verschwinden zu lassen. Wer im Leningrad der 1930er-Jahre staatlich liquidiert wird, dessen Foto landet auf dem Tisch des Retuscheurs. Nicht ein einziges Bild soll bezeugen, dass diese Person je existiert hat. Doch eines Tages will Roman nicht dem Vergessen dienen, sondern sich erinnern: an seinen Bruder - und bringt sich damit in große Gefahr ...Anthony Marra erzählt von Menschen zu ganz unterschiedlichen Zeiten: von der Primaballerina, die im Gulag Schwanensee tanzen muss; von ihrer Enkelin Galina, die sich an das Einzige klammert, was ihr von ihrer Jugendliebe bleibt: ein Gemälde des idyllischen Ortes, an dem er starb; von Kolya und seinem Bruder, die sich in der Trostlosigkeit einer sibirischen Bergbaustadt an den einzigen Traum klammern, der ihnen bleibt: die Weite des Weltalls, im Ohr die Nussknacker-Suite. Wie kann man Menschen erinnern? Und woran sich halten, wenn alles verloren ist? Anthony Marra schreibt von dort,wo nichts geblieben ist außer Ruinen und Erinnerungen. Von dem, was uns auseinanderreißt, und dem Kitt, der uns alle zusammenhält - der Hoffnung auf Erlösung. Geschichten von berückender Schönheit, die zusammen so episch und ergreifend sind wie ein Roman.
Autorenporträt
Anthony Marra, geboren 1984 in Washington, D. C., lehrt an der Stanford University. Seine Arbeit wurde u. a. mit dem Whiting Award und dem Pushcart Prize ausgezeichnet. Sein Debütroman Die niedrigen Himmel katapultierte ihn in die vorderen Ränge der amerikanischen Gegenwartsliteratur.

Stefanie Jacobs, geboren 1981, lebt in Wuppertal. Sie ist freie Übersetzerin und hat unter anderem Benjamin Kunkel, Mark Watson und Nick Cave ins Deutsche gebracht.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ulrich M. Schmid erkennt in Anthony Marras Prosamosaik, das er in der Tradition russischer Novellenzyklen verortet, in der fragmentierten Darstellungsweise, den unterschiedlichen Schauplätzen, Epochen und Schicksalen im Buch eine dem russischen Bewusstsein angemessene Form. Das Russland der Sowjetzeit und das jüngere Russland kennt der Autor gut, versichert Schmid. Die neun Erzählungen aus dem stalinistischen Leningrad, dem tschetschenischen Grosny oder dem nordrussischen Kirowsk verbinden sich vermittels der erzählerischen Kraft des Autors für den Rezensenten zu einem "anspruchsvollen Geflecht von Tragödie, Krieg und Verrat", das ohne Täter-Opfer-Schema auskommt. Für Schmid keine entspannende Lektüre, sondern ein unter die Haut gehendes Ereignis, das ihm das Überleben unter schwierigen politischen, ökonomischen und emotionalen Bedingungen vermittelt, ohne wohlfeile Moral, sondern mit Bewusstsein für die ethischen Dilemmata der Menschen und ihre tragischen Biografien im Russland des beginnenden 21. Jahrhunderts.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.06.2016

Gruppenbildstörung
Anthony Marra zählt zu den Stars der jungen amerikanischen Literatur, aber er schreibt über Russland.
Sein neuer Erzählungsband zeigt ein historisches Panorama von der Stalin-Ära bis zum Krieg in Tschetschenien
VON VIOLA SCHENZ
Roman Markin ist eigentlich Porträtmaler, doch unter Stalins Terror wird ein Künstler schnell zum Zensor. Markin arbeitet beim Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten in Leningrad. Seine Aufgabe ist, „Verräter, Umstürzler, Saboteure, Konterrevolutionäre und Volkshelden“ aus Gemälden und Fotografien zu entfernen – und damit aus der sowjetischen Gesellschaft und Geschichte. Zu den in Ungnade Gefallenen gehört sein eigener Bruder Waska. Waska war religiös, glaubte an ein Leben nach Stalin, an ein Paradies – törichte, lebensgefährliche Ideen. Markin muss das Gesicht des Bruders in einem Familienbild übermalen. Doch statt auch diesen Auftrag sauber und spurenlos zu erfüllen, ersetzt er von da an jede eliminierte Person mit einem Porträt seines Bruders.
  Roman Markin ist eine von vielen Figuren in diesem aus neun Geschichten zusammengestückelten Panorama – man wird seinen Taten und Werken noch begegnen auf den 339 Seiten. Die Geschichten spannen sich durch Zeit und Raum, vom Großen Terror der Dreißigerjahre bis in die Gegenwart, von Sibirien bis zum Kaukasus. Nicht nur die Dekaden und Figuren wechseln, sondern auch Tempi und Perspektiven. Die Kapitel sind mal im Präsens, mal im Imperfekt, in der ersten oder der dritten Person geschrieben, eines sogar in der ersten Person Plural, als sechs Freundinnen einem griechischen Chor gleich gemeinsam auftreten. Was anderswo irritieren könnte, bereichert dieses erzählerische Gebilde zauberhaft, das raffinierte Changieren zeigt die Sprach- und Erzählkunst des Autors.
  „Letztes Lied einer vergangenen Welt“(im Original „The Tsar of Love and Techno“) ist Anthony Marras zweites Werk, und es ist genauso grandios wie sein Erstling. „Die niedrigen Himmel“ kam 2014 auf Deutsch heraus. „A Constellation of Vital Phenomena“ war die ein Jahr zuvor erschienene amerikanische Ausgabe betitelt, und wie solch seltsame Übersetzungen von Buchtiteln zustande kommen, wird wohl für immer das Geheimnis der Verlage bleiben. Marras Debüt spielt während des Zweiten Tschetschenienkrieges, es wurde mit Lob und Preisen überhäuft, und das zu Recht. Der damals 29-jährige Autor erhielt die beiden wichtigsten amerikanischen Literaturnachwuchspreise.
  Marra, Absolvent der University of Southern California, ist inzwischen 32 und mit weiteren Auszeichnungen dekoriert. Das vergangene Jahr verbrachte er mit einem Stipendium in Berlin, inzwischen lehrt er in Stanford – „Fiction“, was sonst. 2006 ging Marra zum Studieren in die Tschechische Republik. „Die Menschen dort hegten eine tief sitzende kulturelle Antipathie gegenüber Russland“, schreibt er in einem autobiografischen Essay. Neugierig geworden zog Marra, um Geschichte und Russisch zu studieren, im Jahr darauf nach Sankt Petersburg, „wo fremdenfeindliche Gewalt weit verbreitet ist“, besonders gegen Tschetschenen, die automatisch gleichgesetzt wurden mit Terroristen. Sein Faible für die tschetschenische Geschichte und für mutige, regimekritische russische Journalisten wie Anna Politkowskaja, die im Jahr vor Marras Ankunft in Sankt Petersburg ermordet worden war, entstand in dieser Zeit,
  Marra, der früh ergraute, bei öffentlichen Auftritten und Lesungen stets schüchtern und uneitel wirkende Shooting Star, macht es seinen Landsleuten und Lesern nicht leicht mit der Wahl seines Sujets. Ungewöhnlich genug, dass ein amerikanischer Student nach Osteuropa geht, aber das seit den schrecklichen Kriegen in Vergessenheit geratene Tschetschenien als Inhalt zu wählen, ist geradezu verwegen. Nicht ohne Grund wählen Schriftsteller, egal ob amerikanische oder europäische, gerne Familiengeschichten, zumindest Themen, die im eigenen Land spielen, damit sich ihre Leser damit identifizieren können. Doch dann kommt ein kalifornischer Jüngling daher und landet mit schauderhaften, exotischen Inhalten einen Bestseller.
  Marra verfügt über eine enorme Sprachgewalt, ein Gespür für Details, das sofort Bilder im Kopf in Gang setzt. Er formuliert zugleich brutal und poetisch sanft, scharfsinnig und geistreich: „Ein Glas unabgekochtes Leitungswasser ist ein Erlebnis, das ich nicht mal einem russischen Oligarchen gönne.“ „Wohlstand zeigt sich in Dingen, die leicht kaputtgehen und schwer zu reinigen sind.“ „Leute, die es leicht haben, erzählen einem immer, wie schwer sie es haben.“ „Wenn eine kaputte Uhr zweimal am Tag die richtige Zeit zeigt, ist eine üble Frisur zweimal im Jahrzehnt angesagt.“ Man muss inmitten der Grausamkeiten von Terror und Krieg immer wieder laut auflachen, und das ohne schlechtes Gewissen, denn davor bewahrt einen Marra. Es ist nicht wirklich schwarzer Humor, der sich hier bemerkbar macht, Marras Humor erinnert eher an die Flüsterwitze und Küchengespräche, wie sie nur in totalitären Staaten aufkommen können. Dieser Autor hat seine Lektion in russischer Geschichte gelernt.
  Es treten auf: die Primaballerina, die ein Spionageverdacht in den Gulag bringt, wo sie den Schwanensee tanzt, während sie in Leningrad aus Fotos wegretuschiert wird. Ihre Enkelin Galina, die in Kirowsk aufwächst. Dort, in der sibirischen Bergarbeiterstadt, „hängt immer ein Fallschirm aus gelbem Qualm, mit dicken Schwaden an den Schornsteinen festgezurrt“. Diese sogenannten Zwölf Apostel umstellen einen künstlichen See aus Industrieabwässern. Kirowsk konkurriert mit dem chinesischen Linfen um den Titel, die Stadt mit der höchsten Schadstoffbelastung der Welt zu sein. In dieser Hölle verliebt sich Galina in Kolja, der bald in den zweiten Tschetschenienkrieg ziehen wird. Kolja landet in Gefangenschaft, an dem Ort, der für den einstigen Vizedirektor des Museums für Heimatkunst in Grosny, Ruslan Dokurow, sehr wichtig ist, verewigt in einem berühmten Landschaftsgemälde, das auf Reisen geht und schließlich seinen Weg zurück zu ihm findet – so wie die Protagonisten über die neun Geschichten irgendwie zusammenfinden.
  Alle müssen sie in ihren kaputten Welten überleben, unter Stalins Terror, im verseuchten Kirowsk, im postapokalyptischen Grosny – physisch, psychisch, moralisch angeschlagen. Marra spricht in einem Interview von Tschetschenien als „einem bemerkenswerten Land mit bemerkenswerten Menschen, die sich daran gewöhnt haben, ihr Leben immer wieder neu aufzubauen“. In den Geschichten geht es um das Erinnern und Vergessen und darum, welche Rolle die Kunst dabei spielen kann.
  Wenn man bedenkt, dass die deutsche Ausgabe kurz nach dem Original erschienen ist, haben die Übersetzer Ulrich Blumenbach und Stefanie Jacobs sowie ihre Lektoren allemal gute Arbeit geleistet. Zwar sind Kleinigkeiten durchgerutscht, Kommafehler oder Pleonasmen wie „kleine Kunststückchen“ („party tricks“) und, zwölf Zeilen später, „vorprogrammiert“. Auch ist wohl niemandem aufgefallen, dass dieselbe Textpassage zweimal auf dem Umschlag steht. Aber was soll’s, der Bedeutung dieses großartigen Buches kann das keinen Abbruch tun.   
            
    
Anthony Marra: Letztes Lied einer vergangenen Welt. Stories. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs und Ulrich Blumenbach. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016,
339 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Alexander Maltschenko, einer der Anführer des
Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse
(hinten links), wurde nach seiner Verhaftung 1929
aus diesem Foto mit Lenin (Mitte) entfernt,
das Lenins Frau Nadeschda Krupskaja um 1897
aufgenommen hatte.
Foto: Krupskaja (CC)
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»Marra verfügt über eine enorme Sprachgewalt, ein Gespür für Details, das sofort Bilder im Kopf in Gang setzt. Er formulilert zugleich brutal und poetisch sanft, scharfsinnig und geistreich.« Viola Schenz Süddeutsche Zeitung 20160617