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Maria ist achtzehn und möchte raus aus Portugal. Mitte der Siebzigerjahre bietet das Land einer jungen Frau wenig Perspektiven. Maria aber will nicht heiraten und Kinder kriegen, sie will mehr vom Leben. Als das neue Jahrzehnt anbricht, geht sie nach Berlin, beginnt ein Studium und eine Beziehung mit einem rebellischen Theatermacher, die bald scheitert. Allen Plänen vom unabhängigen Leben zum Trotz findet sich Maria schließlich als Ehefrau und Mutter in der nordrhein-westfälischen Provinz wieder und schaut ihrem Mann Hartmut beim Karrieremachen zu. Lang arrangiert sie sich mit den…mehr

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Produktbeschreibung
Maria ist achtzehn und möchte raus aus Portugal. Mitte der Siebzigerjahre bietet das Land einer jungen Frau wenig Perspektiven. Maria aber will nicht heiraten und Kinder kriegen, sie will mehr vom Leben. Als das neue Jahrzehnt anbricht, geht sie nach Berlin, beginnt ein Studium und eine Beziehung mit einem rebellischen Theatermacher, die bald scheitert. Allen Plänen vom unabhängigen Leben zum Trotz findet sich Maria schließlich als Ehefrau und Mutter in der nordrhein-westfälischen Provinz wieder und schaut ihrem Mann Hartmut beim Karrieremachen zu. Lang arrangiert sie sich mit den Verhältnissen, aber als die Tochter erwachsen und auf dem Sprung aus dem Haus ist, trifft Maria eine Entscheidung.

Lissabon nach der Nelkenrevolution, die Hausbesetzerszene in Westberlin, die deutsche Provinz vor und nach der Wende: Stephan Thome erzählt in markanten, spannungsreichen Szenen eine bekannte Geschichte neu und völlig anders. Gegenspiel ist ein berührender und manchmal verstörender Roman über Täuschung und Selbsttäuschung, über Aufbruch und Verantwortung, auch gegenüber dem eigenen Leben - ein Roman voller Empathie und psychologischer Raffinesse.
Autorenporträt
Thome, Stephan
Stephan Thome wurde am 23. Juli 1972 in Biedenkopf, Hessen geboren. Nach dem Zivildienst in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung in Marburg studierte er Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Berlin, Nanking, Taipeh und Tokio. 2005 erschien unter dem Titel Die Herausforderung des Fremden: Interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken seine Dissertationsschrift. Zur selben Zeit begann er als DFG-Stipendiat am Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der Academia Sinica zu arbeiten, wo er über konfuzianische Philosophie des 20. Jahrhunderts forschte. Bis 2011 betätigte er sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Forschungseinrichtungen in Taipeh und übersetzte unter anderem Chun-chieh Huangs Werk Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung ins Deutsche. Sein Roman Grenzgang gewann 2009 den aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres und stand - wie auch sein zweiter Roman Fliehkräfte - auf der Shortlist zum

Deutschen Buchpreis. 2014 wurde Thome von der Akademie der Künste Berlin mit dem Kunstpreis Literatur ausgezeichnet. Im gleichen Jahr erhielt die Verfilmung des Romans Grenzgang den Grimme-Preis. Seit 2011 lebt und arbeitet Stephan Thome als freier Schriftsteller; derzeit lebt er in Taipeh.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Schwer beeindruckt, aber letztlich nicht restlos befriedigt ist Felicitas von Lovenberg von Stephan Thomes drittem Roman "Gegenspiel". Darin schreibt der Autor seinen zweiten Roman, "Fliehkräfte", fort, genauer gesagt schildert er dessen Geschichte aus einer anderen Perspektive: statt des Bonner Philosophieprofessors Hartmut Hainbach steht nun dessen Frau Maria Pereira im Zentrum, ihr Aufwachsen im revolutionsbewegten Portugal, der Umzug in die Westberliner Hausbesitzerszene und schließlich die trügerische Bürgeridylle mit Mann und Kind in Bonn, fasst die Rezensentin zusammen. Ein enormer Bogen, den Thome gekonnt meistert, doch der kapriziösen, von innerer Spannung zerrissenen Protagonistin und vor allem ihrer Entwicklung von der neugierigen Adoleszentin zur frustrierten Fünfzigjährigen wird der Autor letztlich nicht überzeugend Herr, meint Lovenberg.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.01.2015

Wenn nichts verbindet außer Liebe
Stephan Thome schildert in seinem neuen Roman „Gegenspiel“ zum zweiten Mal die Ehekrise von Maria und Hartmut,
die man bereits aus „Fliehkräfte“ kennt, nun aber aus der Sicht der Frau – sein Buch erzählt von einer Beziehung im Stresstest
VON MEIKE FESSMANN
Was man in welchen Momenten sagen kann und wann man lieber die Klappe hält, gehört zur Kunst des menschlichen Umgangs, von der wir im Privaten womöglich noch mehr erwarten als auf dem politischen Parkett. Das falsche Wort zur falschen Zeit hat schon manche Ehe aus den Angeln gehoben, auch wenn wir zur Beruhigung annehmen, es müsse Konflikte gegeben haben, die allzu lang unter den Teppich gekehrt wurden. Dass die Ehe nach so vielen Eheromanen immer noch ein interessanter Gegenstand ist, hat auch damit zu tun, dass die intime Vertrautheit der Partner den Worten ein anderes Gewicht verleiht. Was in einer Krise gesagt wird, kann Sprengkraft entwickeln, was nicht gesagt wird, ebenfalls.
  Für einen Romancier wie den 1972 geborenen Philosophen und Sinologen Stephan Thome, der seine Figuren stets mit Geduld und Genauigkeit betrachtet, ist das ein dankbares Sujet. Thome ist weder auf pikante Beschreibungen aus noch auf allgemeingültige Theorien, vielmehr zeigt er seit seinem 2009 erschienenen Debütroman „Grenzgang“ eine Vorliebe für offene Versuchsanordnungen. In der Charakterzeichnung präzise, lässt er seinen Figuren genügend Raum, sich in unvorhergesehene Richtungen zu entwickeln.
  Sein neuer Roman „Gegenspiel“ nimmt nun noch einmal die Ehekrise in Augenschein, von der er bereits in seinem zweiten Roman erzählte. In „Fliehkräfte“ stand der Philosophieprofessor Hartmut Hainbach im Zentrum. Nun ist es seine Frau, die aus Portugal stammende Maria Pereira, mit Ende vierzig rund zehn Jahre jünger als er. Die beiden führen seit zwei Jahren eine Wochenendehe. Pünktlich mit dem Auszug der erwachsenen Tochter aus dem Bonner Eigenheim hat sich auch Maria auf den Weg gemacht. Als Assistentin eines Theatermachers, der zu Mauerzeiten ihr Liebhaber war, zieht sie nach Berlin, wo sich das Ehepaar Mitte der Achtzigerjahre kennengelernt hat und wohin es gern zurückgekehrt wäre. Doch Hartmut bewarb sich vergeblich um eine Professur.
  Ihr neues Leben sieht Maria als große Befreiung und auch als Chance für ihre Ehe. Auf Hartmut jedoch wirken die Veränderungen eher bedrohlich. Seine Eitelkeit ist gekränkt, seine Bequemlichkeit eingeschränkt. Wenn er abends in ein leeres Haus kommt, fühlt er sich so einsam wie früher Maria. Ihre Wohnung in Pankow, die er mit seinem Gehalt finanziert, eine Tatsache, die er ihr gern vorhält, erinnert sie an ihr Leben als Studentin. In seinen Augen hält die Bruchbude dem Vergleich mit dem verschmähten Eigenheim nicht stand.
  Je weniger Alltag sie teilen, desto schwieriger wird es, die Worte des anderen zu deuten. Ständig kommt es zu Missverständnissen. Ihre Gespräche tappen durch vermintes Gelände, mal übervorsichtig, mal voller Ungeduld. Anrufe kommen ohnehin immer im falschen Moment. Beiden ist klar, dass ihre Ehe auf diese Weise vor die Hunde geht. Ohne Hartmuts Wissen sorgt Maria dafür, dass er das Angebot eines Freundes erhält, in dessen Berliner Verlag einzusteigen. In „Fliehkräfte“ schickte Thome seinen Helden auf eine lange Reise in den Süden, um Vor- und Nachteile des Angebots abzuwägen. So wenig Hartmut weiß, dass Maria hinter der Offerte steckt (und der Freund nach dem Bewerbungsgespräch einen Rückzieher gemacht hat), so wenig weiß sie von seiner Reise.
  „Uns beide verbindet nichts außer Liebe, und das klingt viel romantischer, als es ist“, sagt Maria einmal im Gespräch mit dem befreundeten Verleger, der einst in Ostberlin Heiner Müller zur Hand ging. Stephan Thome erzählt die Liebesgeschichte eines Paars, das eigentlich nicht zueinander passt. Wie genau er es damit nimmt, zeigt sich an der unterschiedlichen Gestaltung ihrer Lebenserfahrungen. Während Hartmut auf seiner Reise trotz aller Selbstzweifel ganz bei sich sein darf – ein geübter Philosoph, der endlich einmal Zeit findet, sein eigenes Leben in Ruhe zu betrachten –, gerät Maria ständig in Situationen, die sie in die Enge treiben.
  Ihre postnatale Depression, in „Fliehkräfte“ nur angedeutet (wie hier Hartmuts Reise), erhält in dem aus ihrer Perspektive erzählten Roman ein ausführliches Kapitel. Die klaustrophobische Enge einer Hausfrauenexistenz, mitsamt ihren Ausbruchsversuchen wie dem schnellen Sex mit einem Nachbarn im heimischen Waschkeller, wird mit aller Wucht spürbar.
  Das gleiche Muster prägt auch die Passagen, die Marias Jugend in Lissabon nach der Nelkenrevolution vergegenwärtigen: als Szenerie von Chaos und Gewalt, jugendlicher Lebenslust und Unbedarftheit. Verliebt in den freundlichen Luis, lässt sie sich von einem zur alten Elite gehörenden Fotografen entjungfern. Als sie schwanger wird, spendiert er ihr eine illegale Abtreibung und obendrein einen Deutschkurs fürs Studium in West-Berlin. Auch dort lebt sie mit ihrem ganzen Freiheitswillen nicht das Leben, das sie eigentlich will. Wie man entschlossen auftritt, weiß die schöne Portugiesin. Doch eigentlich ist sie unsicher und orientierungslos, gerät versehentlich auf Demos, wirft Steine, landet auf der Polizei, zieht in WGs, die sie eklig findet, und verliebt sich in jenen Theatermacher, der sie später zurück nach Berlin lockt und schon damals ziemlich mies behandelte.
  Maria und Hartmut haben einander Affären verschwiegen. Aber das bringt sie noch lange nicht auf den gleichen Stand. Ihre Erfahrungen könnten unterschiedlicher nicht sein: heillos demütigend die ihre – im Keller des Eigenheims, mit einem Mann, der das Spiegelbild des eigenen Unglücks ist; von beglückender Übereinstimmung die seine – mehrmals traf er sich in Paris mit seiner ersten großen Liebe aus seiner Zeit als Doktorand in Amerika.
  Marias Leben ist ein einziges Bild bedrängender Umstände. Im Theateralltag ist sie lediglich der „Puffer“ zwischen einem genervten Ensemble und dem jähzornigen Regisseur, der krampfhaft versucht, an seine kurze Glanzzeit nach der Wende anzuschließen. In einem früheren Streit sagt Maria auf einer Autofahrt zur Hochzeit von Hartmuts Neffen, also ausgerechnet wieder in einem klaustrophobischen Innenraum, sie wolle ihre Ehe „retten“. Dieser eher als Beschwichtigung gemeinte Ausdruck löste bei ihm Panik aus: Bisher habe er gar nicht gewusst, dass ihre Ehe „in Gefahr“ sei. Schließlich lenkt er, ob aus Absicht oder aus Versehen bleibt offen, das Auto auf die Gegenfahrbahn. Dieses Ereignis, von Maria mit einer Ohrfeige beendet, kann sie nicht vergessen. Zum ersten Mal hatte sie Angst vor ihrem Mann. Doch das Paar musste weiter funktionieren. Also hat es „den großen Streit“ unter den Teppich gekehrt, wo er still vor sich hinschwelte.
  Als sie sich nach einem Gastspiel in Kopenhagen am Ende von Hartmuts Reise in Portugal treffen, wo ein gemeinsamer Familienurlaub alles ins Lot bringen soll, sind beide nur noch zermürbt. In einem Anfall von Trotz und Selbstbehauptung hat Maria der Tochter sowohl von ihrer Abtreibung in Lissabon als auch von ihrer Affäre mit dem Nachbarn erzählt. Und Philippa hat es dem Vater in einem schwachen Moment erzählt. Nun weiß er etwas, das er nicht vergessen kann. Der Philosoph ist mit seiner Weisheit am Ende.
  Während die knappen Dialoge in den retrospektiven Szenerien Lissabons und West-Berlins gelegentlich arg schematisch sind, ist Stephan Thome dann auf der Höhe seiner Kunst, wenn er seine Figuren in langen Gesprächen zeigt. Wenn Maria dem schwulen Verleger ihr Herz ausschüttet, sich mit dem Theatermacher zankt, mit ihrer Tochter skypt oder mit einer jüngeren Frau am Theater über weibliche Lebensentwürfe spricht, kommt sein Schreiben in einen Flow, in dem sich Figurenzeichnung und Zeitdiagnose vereinen. Etwa wenn der Verleger zu Maria sagt, er sei trotz aller Promiskuität für seinen kranken Freund womöglich der „bessere Partner“, weil er nicht ihn, sondern sich selbst für sein Glück verantwortlich mache.
  Wie sehr Maria in ihrer Opferrolle gefangen ist, zeigt sich an zwei fast identischen Formulierungen, einmal in Hinsicht auf ihre Abtreibung in Lissabon, das andere Mal in Hinsicht auf Hartmut, wo es heißt: „Er hatte den größeren Einsatz geleistet und sie den höheren Preis bezahlt.“ Wer sich als Opfer stilisiert, versucht einen Mehrwert aus der eigenen Bedrängnis herauszuschlagen: Es ist ein Betrug an sich selbst und dem anderen, auf Kosten der eigenen Souveränität.
  Man muss „Fliehkräfte“ nicht gelesen haben, um „Gegenspiel“ zu verstehen. Wer den Reiz des Projekts voll auskosten will, wird ohnehin beide Romane zur Hand nehmen. Für ungeduldige Leser kann die Kenntnis des Vorgängerromans allerdings auch zum Hindernis werden. In den Passagen, die Hartmut und Maria gemeinsam zeigen (es sind gar nicht so viele), meint er beständig, ein Echo zu hören. Denn der in wörtlicher Rede formulierte Teil ihrer Dialoge wird exakt wiederholt. Was sich aber in den Passagen der erlebten Rede tut, ist eine wahre Fundgrube für Ehe-Philologen. Denn dort werden Gespräche indirekt, also in der Wahrnehmung der jeweiligen Hauptfigur wiedergegeben – und auch deren Gedanken. Im neuen Roman von Stephan Thome erfahren wir, dass Maria die Äußerung, sie wolle ihre Ehe „retten“ sofort als Fehler erkannte. Nur zurücknehmen ließ sie sich nicht.
Die Pendelsituation sieht
Maria als neue Chance für sich,
aber auch für ihre Ehe
Er habe den größeren Einsatz
geleistet, sie den höheren Preis
bezahlt, heißt es einmal
Für einen Romancier mit einer Vorliebe für offene Versuchsanordnungen wie Stephan Thome ist die Ehekrise ein dankbares Sujet. Dabei legt er es weder auf pikante Beschreibungen an noch auf allgemeingültige Theorien, sondern auf genaue Charakterzeichnung.
Foto: Isolde Ohlbaum/laif
          
  
  
  
  
  
Stephan Thome: Gegenspiel
Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 464 Seiten,
22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2015

Für den ersten Joint ist es auch mit sechzig nicht zu spät

Nach den "Fliehkräften" ihr "Gegenspiel": Stephan Thome erzählt seine Ehegeschichte nun aus der Sicht der Frau. Es geht um Portugal, Berlin, Bonn und den Freiheitsdrang der Orientierungslosen.

Fragt man Schriftsteller nach ihrem Verhältnis zu ihren Romanfiguren, bekommt man sehr unterschiedliche Antworten. Die einen entwerfen ihre Charaktere mit kühlem Kopf und halten sie unter Kontrolle wie Marionetten, andere verschmelzen mit ihren Figuren und leben mit und durch sie selbst andere Leben - Variationen von Flauberts stolzem Bekenntnis "Madame Bovary, c'est moi". Die allermeisten Autoren jedenfalls geben zu, dass ihre Figuren ein Eigenleben haben oder jedenfalls beim Schreiben entwickeln, das sie selbst höchstens begleiten und leiten, aber nicht unbedingt bestimmen können.

Maria Pereira ist eine solche Romanfigur, der man ein Höchstmaß an Eigensinn zubilligen muss. Ständig ist die gebürtige Portugiesin hin- und hergerissen, dauernd ändert sie ihre Meinung, stets ist sie bereit, sich ihren Stimmungen hinzugeben. Das ist anstrengend. Für ihren Ehemann, den durch und durch diesseitigen Philosophieprofessor Hartmut Hainbach, und die gemeinsame Tochter Philippa ebenso wie für die engen Freundinnen, die sie zeitweise hat, aber fast immer wieder verliert. Nicht weniger anstrengend als für ihre Mitmenschen aber ist Maria für den Leser, und vermutlich war sie es auch für den Autor. Nun hat Maria Pereira das Glück, an den klugen, um Gerechtigkeit ringenden Stephan Thome geraten zu sein. Ein anderer hätte wahrscheinlich kurzen Prozess mit ihr gemacht, doch Thome bietet ihr in "Gegenspiel" die Bühne ihres Lebens. Was dort vor allem geboten wird, sind zahlreiche Anläufe Marias zur durchschlagenen Selbstinszenierung.

Stephan Thome, der mit "Grenzgang" 2009 ein bestechendes Debüt vorlegte und drei Jahre später mit "Fliehkräfte" die in ihn gesetzten Hoffnungen eindrucksvoll einlöste, ist mit seinem dritten Roman ein Wagnis eingegangen. Zeichnete er in "Fliehkräfte" in der angegrauten Gestalt von Hartmut Hainbach das nuancierte, feinfühlige Porträt eines deutschen Jedermann, der mit Ende fünfzig der Frage "Was nun?" nicht mehr durch das Weiter-so von Arbeit und Routine ausweichen kann, widmet er nun abermals fast fünfhundert Seiten dessen Frau. "Gegenspiel" heißt der Roman, der gewissermaßen das Negativ zu dem vorhergehenden bildet und zentrale Ereignisse und Stationen mit ihm gemein hat. Obwohl es sich nicht entfernt um eine platt in seine und ihre Sicht aufgeteilte Paargeschichte handelt, ist zumal "Gegenspiel" erkennbar von dem Wunsch getragen, die weibliche Perspektive ebenso zu ihrem Recht kommen zu lassen wie zuvor die männliche. Zwar muss man "Fliehkräfte" keineswegs gelesen haben, um "Gegenspiel" zu verstehen. Aber man hat mehr davon.

Beide Romane enden in Portugal am Strand und in der gemeinsamen Ratlosigkeit eines Ehepaars, das nach zwei Jahrzehnten eines mehr oder minder gemeinsamen Lebens feststellt, dass man sich womöglich nie richtig kennengelernt hat. Und genau wie "Fliehkräfte" beleuchtet nun auch "Gegenspiel" Stationen, die dahin geführt haben, nur eben die der anderen Seite. Hier sind es die in Lissabon durchtanzten Nächte der jungen Maria-Antonia, die mit aller Macht aus den beengten Verhältnissen ihrer portugiesischen Heimat herauswill, durch eisernen Willen und mit fremder Hilfe schließlich zum Studium nach Berlin kommt, sich in die Stadt, die Freiheit und einen avantgardistischen Theatermacher verliebt, die hochfliegende Träume und Theorien hat, aber Mitte der Achtziger trotzdem mit einem jungen Dozenten in die rheinische Provinz zieht, heiratet und ein Kind bekommt. Ihre Familie und ihre Heimat besuchen sie jeden Sommer, doch das Fremdheitsgefühl im eigenen Leben bleibt für Maria in Deutschland wie in Portugal bestehen. Als die Tochter aus dem Haus geht, nimmt sie das Angebot an, für den Theaterintendanten in Berlin zu arbeiten. Ihr Mann bleibt fürs Erste an seinem Platz, an der Universität wie im Haus mit Garten in Bonn, doch die geographische Distanz der Fernbeziehung macht den inneren Abstand zwischen den Partnern unübersehbar.

Es ist ein gewaltiger Bogen, den Thome hier spannt: vom Portugal der siebziger Jahre, das auch nach der Nelkenrevolution nicht zur Ruhe kommt, über die Intellektuellen-Szenen im West-Berlin der Achtziger bis hin zur trügerischen bürgerlichen Beschaulichkeit des Bonner Professorenhaushalts der Hainbachs. Doch während er in "Fliehkräfte" ein ähnliches Pensum leicht schulterte, ist dieser Roman bis in die Struktur von der inneren Zerrissenheit seiner Heldin geprägt. Während Thome sich bei Hartmut Hainbach Zeit nahm, Situationen und Gespräche zu schildern, ist der vorherrschende Eindruck in "Gegenspiel" der von Gehetztheit und Unruhe. Das liegt nicht an der Sprache, die in ihrer Ausgeruht- und Ausgewogenheit ein mitunter seltsames Gegengewicht zur Volatilität der Protagonistin bildet. Maria ist immer darauf aus, anderen ihre Unberechenbarkeit zu demonstrieren, ob durch Vulgärsprache, Ohrfeigen, Bisse oder indem sie ihrem fast sechzigjährigen Mann seinen ersten Joint verordnet. Ein Freund nennt es treffend "den Freiheitsdrang der Orientierungslosen". Immer wechseln Szenen, Orte und Zeiten, doch da viele Charaktere bleiben, fällt die Orientierung mitunter schwer. Der Schnitt zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Buches ist Marias Weggang aus Berlin, verbunden mit der Geburt der Tochter, die sich der Leser irgendwann auf 1987 zurückdatieren kann, so dass fortan das Alter Philippas zum verlässlichsten Indikator für die springenden Erzählzeiten wird.

Der Einzige, der es mit Maria aufnehmen kann, weil er ihre Stimmungen weitestgehend ignoriert oder einfach mit seiner eigenen Egozentrik neutralisiert, ist zunächst Falk Merlinger, jener Berliner Theatermacher, mit dem sie als Studentin in Kreuzberg das Bett teilt und für den sie viele Jahre später als Assistentin arbeitet. Die faszinierendsten Passagen sind jene, in denen das Lebensgefühl im West-Berlin der späten siebziger und frühen achtziger Jahre aufblitzt. Doch so nah wie zuletzt etwa im Video zu David Bowies "Where Are We Now" oder in Katja Lange-Müllers Roman "Böse Schafe" kommt einem die Zeit hier nicht.

Zwar mag Stephan Thome, der 1972 im hessischen Biedenkopf geboren wurde, die letzten Ausläufer dieser glorreich kreativen Ära während seines Studiums an der FU noch erlebt haben. Aber wenn er die Kreuzberger Hausbesetzerszene schildert, die Atmosphäre an der Uni ("das Einzige, wovor man echten Respekt hatte, war die eigene Meinung"), die WG-Gesetzmäßigkeiten im Kampf gegen Spießigkeiten wie Ordnung oder Sauberkeit oder das Treiben rund um Falk, wird man den Eindruck der angelesenen Anschaulichkeit nicht los. Trotzdem ist Falk Merlinger die vielleicht interessanteste Figur des Buches: der Theatermacher, der sich als Republikflüchtling ausgibt, später sein eigenes Ensemble gründet und mit "Sprech / Akte / Ost" Autor einer legendären Stasi-Farce wird, über die man indes gern mehr erfahren hätte, als dass es sich um ein "unverschämtes, sich um keine Konvention scherendes" Stück handelt.

Falk aber bietet Reibungsfläche, und genau das ist es, was Maria sucht. An Falk reizt sie dessen Begeisterungsfähigkeit, seine Hingabe an seine Arbeit - und zugleich seine Weigerung, irgendetwas von diesen Eigenschaften in der Beziehung zu ihr an den Tag zu legen. Vollgesogen mit den Schriften von Simone de Beauvoir, lautet ihr Mantra: Ich bin hier, weil ich es will. Nur lässt sich bei ihr fast nie auseinanderhalten, wie viel davon Überzeugung und wie viel Trotz ist.

An innerer Spannung gewinnt der Roman, wenn er in Marias Gedankenwelt abtaucht, zumal im zweiten Teil, der sie mit einer lange uneingestandenen Kindsbettdepression am Rand des physischen und psychischen Zusammenbruchs zeigt. Hier kommen Thomes erzählerische Stärken voll zum Tragen, ebenso wie in den Szenen einer reifen Ehe, die zwar nicht glücklich, aber auch nicht abgeklärt ist. Trotzdem bleibt "Gegenspiel" weit hinter den "Fliehkräften" zurück. Schuld daran ist vor allem der Mosaikcharakter des Romans. Zwar wird in den vielen Einzelszenen viel Handlung vermittelt, aber die Verwandlung von einer hellwachen, neugierigen, rebellischen jungen Frau in eine frustrierte, ratlose, sich selbst betäubende Fünfzigjährige bleibt rätselhaft. Wie sagt es Hartmut Hainbach? Sie könnten nicht zurück in ihr altes Leben. "Weil wir entweder zu viel wissen oder immer noch zu wenig."

FELICITAS VON LOVENBERG

Stephan Thome: "Gegenspiel". Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 458 S., geb., 22,95 [Euro].

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"Wahrscheinlich hat seit dem jungen Martin Walser niemand mehr so genau über das Gefühlsleben der westdeutschen Mittelschicht geschrieben wie Thome in diesen beiden Büchern."
Tobias Rapp, DER SPIEGEL 10.01.2015