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Der Vater, ein Pionier der frühen Schellack-Kultur, holt in den zwanziger und dreißiger Jahren die Tanz- und Varietéorchester Berlins ins ODEON-Aufnahmestudio. Später, in der Nachkriegszeit, bringt er jeden Abend aus der Stadt eine neue schwarze Scheibe mit, aus der zum Schrecken der Tochter laute Musik ertönt. Der Vater erscheint ihr als Zauberer, der Opernsänger, Pianisten und ganze Orchester in das winzige Format der Schallplatte zwängen kann. Nichts interessiert die Tochter mehr, als herauszufinden, was es mit der geheimnisvollen, väterlichen Welt der Musik auf sich hat. Deshalb nimmt sie…mehr

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Produktbeschreibung
Der Vater, ein Pionier der frühen Schellack-Kultur, holt in den zwanziger und dreißiger Jahren die Tanz- und Varietéorchester Berlins ins ODEON-Aufnahmestudio. Später, in der Nachkriegszeit, bringt er jeden Abend aus der Stadt eine neue schwarze Scheibe mit, aus der zum Schrecken der Tochter laute Musik ertönt. Der Vater erscheint ihr als Zauberer, der Opernsänger, Pianisten und ganze Orchester in das winzige Format der Schallplatte zwängen kann. Nichts interessiert die Tochter mehr, als herauszufinden, was es mit der geheimnisvollen, väterlichen Welt der Musik auf sich hat. Deshalb nimmt sie Klavierunterricht, studiert mit dem Vater Couplets und kleine Tänze ein und versucht sich als Kinderstar, scheitert aber auf skurrile Weise mit jedem dieser Versuche. Sie muß sich also etwas anderes einfallen lassen.

"Wir machen Musik", die erste große Prosaarbeit der Essayistin und Theaterautorin Gisela von Wysocki, ist die szenenreiche Geschichte einer éducation musicale. Zwischen Burleske und Drama erzählt sie von Täuschungen und Enttarnungen und der Faszination eines Kindes für die Welt der Musik: eine vom Mysterium der Technik berührte "Alice in Wonderland" aus der Mark Brandenburg.

"In ihren glänzend geschriebenen Essays und Theaterstücken werden die Grenzen zwischen Bild und Abbild, trübem Schein und heller Durchsicht virtuos übersprungen. Sie schreibt nicht mit Distanz, sondern mit Haut und Haaren." -- Gerhard Stadelmaier
Autorenporträt
Wysocki, Gisela von
Gisela von Wysocki, geboren in Berlin, Essayistin, Theater- und Hörspielautorin, Literaturkritikerin, studierte Musikwissenschaft in Berlin und Wien und Philosophie bei Theodor W. Adorno. Sie promovierte über den österreichischen Dichter Peter Altenberg und wurde für ihre Buchveröffentlichungen Die Fröste der Freiheit. Weiblichkeit und Modernität. Über Virginia Woolf und Fremde Bühnen. Mitteilungen über das menschliche Gesicht mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihre Bühnenstücke - Abendlandleben, Schauspieler Tänzer Sängerin u.a. - entwarfen neuartige szenische Vorlagen für das Theater. Sie lebt in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2010

Tragödien
segeln vorbei
Wie die Luftschiffe: Gisela von Wysocki erzählt von
einer Kindheit aus Musik Von Lothar Müller
Das Kind denkt an das Märchen vom Geist in der Flasche, der, kaum ist er befreit, seinen Befreier zu tyrannisieren beginnt. Hat sich ein solcher Geist der Mutter bemächtigt und sie in eine Aufziehpuppe verwandelt, die stundenlang, tagelang zum Grammophon geht, immer wieder die Nadel in die Rille setzt, um die tiefe Stimme der Schauspielerin Pola Negri hervorzuholen: „Ich fühl in mir, ich spür in mir das wilde, heiße Blut“?
Wenn die Mutter zu erklären versucht, wie sie zur Aufziehpuppe wurde, spricht sie in dem beunruhigenden Ton, den sie nur anschlägt, wenn sie von Stimmen, Filmen oder Frauen spricht. Sie lässt die Negri-Stimme in sich hineinfahren, um dem Kind die zermürbende Wirkung der erst aufsteigenden, dann in Halbtönen abwärts geführten Melodie begreiflich zu machen: „Während sie sang, blickt ich ängstlich auf ihre halbgeschlossenen Augenlider, die schläfrig aussahen. So, als wollten sie gleich auf ein Kissen niedersinken. Die Augen schienen in eine Grube gefallen zu sein, und die Stimme hörte sich an, als käme sie aus dem Rachenraum eines Tieres.“
Die Geschichte vom Negri-Rausch der Mutter ist eine der Kindheitserinnerungen, die Gisela von Wysocki in ihrem Buch „Wir machen Musik“ in Prosaminiaturen von meist nur wenigen Seiten fasst. Oft nehmen in Kindheitsbüchern von Autoren die ersten Lektüren die Schlüsselposition ein, fesseln die Buchstaben die Einbildungskraft. Hier spielt die Literatur nur die zweite Geige, und es gelingt etwas Bemerkenswertes: eine Kindheitsgeschichte, die ganz aus der akustischen Dimension hervorgeht.
Die Essayistin, Theater- und Hörspielautorin, geboren 1940 in Berlin, ist die Tochter von Georg von Wysocki, der seit den zwanziger Jahren Produktionsleiter bei der Schallplattenfirma Lindström-Odeon war, zuständig für die Studioaufnahmen und die Engagements der Künstler und Techniker. Wie er es wurde, das ist eine der Passagen im Buch seiner Tochter, die man sich leicht als Szene in einem Lubitsch-Film vorstellen könnte.
Der aufstrebende junge Mann, aus der Provinz stammend, aber in der Großstadt rasch heimisch geworden, ist ein wandelndes Archiv, ein Speichermedium der aktuellen Unterhaltungsmusik, und wenn er am Klavier demonstriert, was in den Hotelbars und Revuetheatern gerade Furore macht und den Herren Direktoren vor Ohren führt, wie sie ihr Unterhaltungsprogramm an die Musik der Metropole ankoppeln können, dann ist er auch ein Reproduktionsmedium.
Und er hat eine Geschäftsidee: den Lied- und Opernsängern wie Richard Tauber und Lotte Lehmann die Schauspieler aus dem noch jungen Tonfilm an die Seite zu stellen und durch Exklusivverträge an die Firma Lindström-Odeon zu binden. Denn er hat begriffen, dass nun, da die neuen Mikrofone an die Stelle der für die Sänger unbequemen Schallaufzeichnungen der Trichteraufnahmen getreten sind, eine neue, glanzvolle Ära beginnen kann, in der sich die Stimmen und die Rhythmen aus den Bars und Varietés prägnant und „tonschön“ in schwarze Rillen pressen lassen.
Tief eingelassen in die Literatur des vergangenen Jahrhunderts war die Erfahrung des Theaters, der Oper, des Varietés. Bühnenbilder wurden in der kleinen Prosa Robert Walsers lebendig, Kafkas hinfällige Kunstreiterin umkreiste die Manege, in Thomas Manns „Doktor Faustus“ sprach der Teufel mit „Nasenresonanz“ und unverkennbar geschulter Bühnenstimme. In der kleinen „Naturgeschichte des Theaters“, die der junge Theodor W. Adorno in den frühen 1930er Jahren publizierte, hieß es bündig: „In den Logen wohnen die Gespenster.“
Jedes Medium, ob alt oder neu, hat seine Gespenstergeschichten. Die Dämonen der Logen, die Geheimnisse der Foyers und der aufgemalten Sterne unter der Opernkuppel wurden in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts vom Echo der aktuellen akustischen Revolution umspült, die in rascher Folge dem Telephon, dem Grammophon und dem Radio Bürgerrecht in der modernen Welt verschaffte. Dieses Echo – es ist der Prosa Robert Walsers ebenso leicht abzuhören wie dem „Zauberberg“ Thomas Manns und den Schriften Franz Kafkas, dessen Verlobte Felice Bauer bei der Lindström AG arbeitete – ist in Gisela von Wysockis Buch eingegangen.   
In ihrem Buch finden die Geschichte der akustischen Medien und die Kindheitsgeschichte zusammen, wie in der Goethezeit das Puppentheater und die Kindheit und noch lange danach das Kasperletheater, dessen Lüste und Schrecken auch in diesem Buch anklingen. Die akustische Revolution, an der Georg von Wysocki teilhatte, schlug ein neues Kapitel im Verhältnis von Musik und Interieur auf. Sie hat die Hausmusik nicht zum Verschwinden gebracht, aber sie hat der Musik, die in der Wohnung erklingt, neue Quellen erschlossen. Indem sie das Grammophon und den Radioapparat in das Interieur einfügte, hat sie den aus Konzertsaal, Revuetheater und Bar entführten Stimmen und Orchestern Gelegenheit gegeben, sich in das Familienleben so nachdrücklich einzunisten, dass ein Pola-Negri-Rausch der Mutter zu einer prägenden Kindheitserinnerung der Tochter werden konnte.
Für das Sich-Einnisten der Musik ins Interieur, für die gespensterhaften Verbindungen zwischen den Menschen und den Dingen hat Gisela von Wysocki ein untrügliches Gespür. So traumscharf hat noch kaum jemand vom Aufsetzen der Nadel auf die schwarzen Rillen erzählt, vom unablässigen Kreisen der Schallplatte, von der ewigen Wiederkehr der Stimmen.
Die aus Grammophon und Radio aufsteigende Musik ist die Tonspur in einer Familie von Doppelgängern. Aus der Mutter tritt immer wieder der Alltagsflüchtling heraus, der sich dem Stimmenrausch ergibt. Und der Vater, dessen flunderflache Hände am Flügel die Schallplatten-Ohrwürmer leichthin mit Glissandi umspülen, führt ein ungreifbares Doppelleben. Die Tochter, daheim im östlichen Havelland, versucht zu erahnen, was der „Zauberer“ und Varietéliebhaber, der das Maskenspiel liebt und manchen Taschenspielertrick beherrscht, in seinem Berliner Leben treibt. Auch sie verdoppelt sich, legt sich eine zweite Stimme zu.
Die Dame , Der gute Ton und Die elegante Welt heißen die Illustrierten, die das Kind in der Glasvitrine und im Zwischenfach des Couchtisches findet. Ihnen und den Odeon-Alben entsteigen die Sänger und Sängerinnen, Orchester und Dirigenten der zwanziger Jahre. Aber so leibhaftig Lilian Harvey und Zarah Leander, Martha Eggert und Jan Kiepura durch dieses Buch geistern, so sehr es ein Schallarchiv und Titelregister der leichten Muse, aber auch der ernsten Musik ist, so wenig ist es eine anekdotisch gefüllte akustische Schatztruhe der Nostalgie.
Abgründig wird es nicht nur durch die Doppelgänger-Eltern, sondern vor allem als Geschichte einer Kindheit in der Nachkriegszeit. Durch sie geistert die Frage, warum Richard Tauber, der Freund des Vaters, in London starb. Es gehört aber zu diesem Vater, der Helmut Käutners Film „Wir machen Musik“ (1942) entsprungen sein könnte, dass er wie seine Musik in der Kunst aufgeht, „Tragödien wie Luftschiffe an sich vorbeisegeln zu lassen“. Darum muss die Tochter die Geschichten des Exils, des Nationalsozialismus und des kriegszerstörten Berlin von sich aus in das Buch hineintragen.
Sie gehen dort ein in das Ende der Kindheit. Es wird mehrfach besiegelt. Im Studio, wenn die Tochter, ihren Part verweigernd, eine Schallplattenaufnahme des Vaters torpediert. Zu Hause, wenn sie auf dem Klavier Bartóks Allegro barbaro gegen Vaters Schlager vom Krokodil am Nil hetzt oder Schönbergs Monodrama „Erwartung“ auf den Plattenteller legt.   
Bei Theodor W. Adorno, dem Anwalt Arnold Schönbergs, wird die Tochter mit Tantiemen studieren, die Vater und Mutter durch einen Schlager erwirtschaftet haben. Am Ende des Buches steht die Distanz zur Schwerelosigkeit des Vaters und eine Hommage an Franz Schubert, der „keine nahtlose, keine durchkomponierte Musik“ geschrieben hat. Es trägt aber zum Reiz dieser Erinnerungen bei, dass sie aus der Musik der Kindheit hinausführen, ohne sie hinter sich zu lassen.
Gisela von Wysocki
Wir machen Musik
Geschichte einer Suggestion.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
258 Seiten, 22,95 Euro.
Unablässig kreist die
Schallplatte, ewig kehren
die Stimmen wieder
So traumscharf hat
noch kaum jemand vom Aufsetzen der Nadel
auf die schwarzen Rillen erzählt.Foto: Jayne Hinds Bidaut / Graphistock / Picture Press
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2011

Auf der Tonspur in die Vergangenheit

Sie weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn: Gisela von Wysocki lässt in ihrer essayistischen Autobiographie "Wir machen Musik" die Dissonanz zwischen dem Leben im Nachkriegsberlin und der Schlagerwirklichkeit von damals erklingen.

Berlin in den fünfziger Jahren. Aus dem russisch besetzten Umland der Stadt ist die Familie nach Wilmersdorf umgezogen. In der Tanzschule Fink am Berliner Funkturm hat die Schülerin Gisela einen Tanzpartner, einen Gymnasiasten, der zwar einen flotten Foxtrott aufs Parkett legt, aber alle Musik jenseits der Zwölftontechnik vom Zeichen des Untergangs gebrandmarkt sieht und laut den Namen seines Gewährsmanns in den Saal ruft: Adorno. Wenig später findet die Schülerin in der Auslage einer Musikalienhandlung unter den Stichwörtern "Philosophie" und "Neue Musik" ein Buch, das sie immerhin so nachhaltig beeindruckt, dass sie beim Autor Theodor W. Adorno in Frankfurt Philosophie studieren wird. Wie gut aber, dass sich Gisela von Wysocki über das philosophische Verdikt hinwegsetzt und den Blick für die Welt des Elternhauses, zumal des Vaters, bewahrt hat. Uns würde sonst eine der originellsten neueren Autobiographien fehlen.

Der Vater, Produktionsleiter der Lindström-Odeon-Schallplattenwerke, sorgte für die Schallplatteneinspielung beliebter Opern- und Operettenarien und aller erfolgreichen Chansons, Schlager und auch Schnulzen. Deren Multiplikatoren waren der Film und das Radio. Der Wohnort der Familie zur Zeit der Kindheit der Tochter lag im südwestlichen Weichbild Berlins. Hier konnte man den bekannten Filmschauspielern auf der Straße begegnen, auch kamen sie als Gäste ins Haus. Hier geriet man in Versuchung, das Leben für einen Film und den Film für das Leben zu nehmen. Aber der Vater gab nie seine Anhänglichkeit an das Varieté preis. Das erhielt ihm den Instinkt für das, was beim Publikum "ankam", also verkaufssicher war.

Der Tochter sind Titel der wichtigsten Lieder gegenwärtig geblieben: von "Du hast Glück bei den Frau'n, Bel ami" über "Ich tanze mit dir in den Himmel hinein", "Der Wind hat mir ein Lied erzählt", "Kann denn Liebe Sünde sein", "Wir machen Musik, und so weiter bis zu "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn". Man glaubt kaum, auch wenn man einen Teil der Lieder selbst noch gehört hat, wie viele Ohrwürmer damals im Schwange waren, unlöslich verknüpft mit der Stimme von Willi Forst oder Willi Fritsch, Zarah Leander, Evelyn Künneke oder Ilse Werner. Im Zweiten Weltkrieg wurden diese Schlager zu Surrogaten vorenthaltenen Lebens. Für die Erinnerung aber sind sie zu Tonspuren des Vergangenen geworden - sie rufen einen bestimmten Moment, eine Situation des Lebens zurück.

Die Tochter ahnt schon, dass sich die große Zeit des Vaters, die "gute alte Zeit", zum Ende neigt. Nicht mehr sind um das Grammophon die Stühle gestellt wie um ein Konzertpodium (und nicht mehr werden in Wohnzimmern Tische und Stühle an die Seite gerückt, um Raum zu schaffen für den Tanz nach Melodien aus dem großen Schalltrichter). Sie selbst, die als Kind das Klavierspiel des Vaters, den "Irrwisch der Tasten", bewunderte, hat Klavierunterricht genommen, und je vollkommener ihr Spiel wird, desto mehr distanziert sie sich von seinen Erfolgsproduktionen, von Liedern, bei denen die Eltern nachts zu vorgegebenen Rhythmen Texte zusammenbasteln, die dann so beginnen können: "Es sitzt ein Krokodil am Nil ... putzt sich die Zähne mit Persil". Tastenschlagend hetzt die Tochter Bartóks "Allegro barbaro" auf das Nil-Krokodil.

Gisela von Wysocki ist bisher vor allem als Essayistin und Theaterautorin hervorgetreten. Eine zentrale Schrift wie "Weiblichkeit und Modernität. Über Virginia Woolf" von 1982 zeigt, dass sich die Essayistin nicht als Barrikadenkämpferin des Feminismus versteht, sondern auf der Suche nach einer Sprache ist, wofür die fragile, nuancenreiche, dem Bewusstseinsstrom sich überlassende Prosa der englischen Schriftstellerin beispielgebend war. Etwas mehr Aggressivität rumort im Band "Auf Schwarzmärkten. Prosagedichte und Fotografien" aus dem Jahr 1983.

Ihre erste Erzählprosa nun, im autobiographischen Band "Wir machen Musik. Geschichte einer Suggestion", setzt den Zug zu einer linear-chronologischen Erzählweise, der Autobiographien eigen ist, immer wieder außer Kraft. Die Aufeinanderfolge der Erzählabschnitte folgt dem Prinzip von Zeitsprüngen, wie sie dem frei flottierenden Bewusstsein möglich sind. Es gelingt der Autorin, philosophische (oder musikwissenschaftliche) Reflexion und konkrete Anschaulichkeit ins Gleichgewicht zu bringen: zu gedanklicher Bodenhaftung und geistdurchwirkter Anschauung. Kehrseite des Subtilen ist der leicht gekünstelte Ausdruck.

Ein paarmal läuft ihm Gisela Wysocki in die Falle. Aufgesetzt wirkt manchmal die Naivität der Kind-Perspektive, gesucht das poetische Bild (Die "Nachkriegszeit war in einem Boden verankert, dessen Nervenstränge nach außen schlugen"). Aber allzu Ambitiöses lässt sich nicht aufrechnen gegen die Vielfalt, den Facettenreichtum von Tönen wie naiv, analysierend, fasziniert, entzaubernd, ironisch oder selbstironisch mit all ihren Zwischentönen. Nicht nur mit Behagen erzählt Gisela von Wysocki. Den munteren Schlagerfrühling im "Dritten Reich" stellt sie vor den Hintergrund des beharrlichen Schweigens über den Star und engen Freund des Vaters, den jüdischen Sänger Richard Tauber, der nach England emigrieren musste. Und die Dissonanz zwischen Leben im Nachkriegsberlin und Schlagerwirklichkeit bringt sie so auf den Punkt: "Im Ort die bombardierten Häuser, aber in Vaters Musik knallten die Sektkorken."

Es gibt Kapitel in diesem Buch, die fest ins Ganze eingebunden sind und sich doch wie selbständige Erzählungen lesen. So die Parabel von der Macht der Musik über das naive Gemüt, die Geschichte von dem russischen Soldaten Grigorij, der sich vom Vater russische Melodien vorspielen lässt und sich vom Heimweh gar nicht heilen lassen will, sondern in seinen Tränen geradezu badet. So die Erzählung vom fehlgeschlagenen Versuch des Vaters, der Tochter Gisela ein Debüt in seiner Branche zu verschaffen: Sie soll in einem Mütterlein-Lied vier Refrain-Zeilen singen. Alle Proben sind reibungslos verlaufen, aber im vollbesetzten Aufnahmesaal will trotz wiederholter Aufnahmeversuche des Orchesters kein Ton hervorkommen - hier muss wohl ein geheimer Protest die Stimmbänder versiegelt haben.

Dieses Buch, die Geschichte einer - wie es heißt - "éducation musicale", ist eine essayistische Autobiographie im besten Sinne, eine Lebens- und Bildungsgeschichte von einigem Anspruch, die dennoch nicht auf Stelzen geht und vorangetrieben wird von einer erzählerischen Verve, die einsteht für Lesevergnügen.

WALTER HINCK

Gisela von Wysocki: "Wir machen Musik". Geschichte einer Suggestion.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 258 S,. geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Walter Hinck ist das Lesevergnügen anzumerken, das ihm die essayistische Lebens- und musikalische Bildungsgeschichte von Gisela von Wysocki beschert hat. Allerdings: Schwelgen im Nachkriegsschlagereinerlei ist nicht. Stattdessen merkt Hinck rasch, wie die Autorin eine kritische Gegenposition entwickelt gegenüber gefälligen Ohrwürmern und einem Vater, der derlei verkauft. Etwas sprunghaft erscheint ihm der Gang der Erzählung, aber die Balance aus Philosophischem, Musikwissenschaftlichem (Wysocki studierte bei Adorno) und Konkretem, erzählt mit einigem Schwung, überzeugt ihn zuletzt.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Dieses Buch ... ist eine essayistische Autobiographie im besten Sinne, eine Lebens- und Bildungsgeschichte, ... die einsteht für Lesevergnügen.« Walter Hinck Frankfurter Allgemeine Zeitung 20110111