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"im felderlatein", das heißt: im Acker einer Sprache sein, ein Streifzug zugleich durch die Legende einer Landschaft, wie sie zu Ohren kommt, beim Gehen, im Flüstern, beim Schweigen. Lutz Seilers neue Gedichte, entstanden zwischen 2004 und 2010, unternehmen Expeditionen ins Grenzland rund um Berlin, mitten in den »satzbau dieser gegend«, die gezeichnet ist vom Wechsel der Zeit.
Mit jedem Schritt auf diesem Weg erweist sich die musikalische Kraft der Gedichte - im felderlatein trifft Lutz Seiler den Ton für die ernsthaftesten Übertreibungen der Poesie: Für die wundersame Geschichte der
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Produktbeschreibung
"im felderlatein", das heißt: im Acker einer Sprache sein, ein Streifzug zugleich durch die Legende einer Landschaft, wie sie zu Ohren kommt, beim Gehen, im Flüstern, beim Schweigen. Lutz Seilers neue Gedichte, entstanden zwischen 2004 und 2010, unternehmen Expeditionen ins Grenzland rund um Berlin, mitten in den »satzbau dieser gegend«, die gezeichnet ist vom Wechsel der Zeit.

Mit jedem Schritt auf diesem Weg erweist sich die musikalische Kraft der Gedichte - im felderlatein trifft Lutz Seiler den Ton für die ernsthaftesten Übertreibungen der Poesie: Für die wundersame Geschichte der »ersten zärtlichkeit«, geschehen zu einer Zeit, als die Schatten noch »kleine schwarze zahlungseinheiten« waren. Oder für die Odyssee der »fussinauten«, den Argonauten ebenbürtig an Treue und Beständigkeit. Und nicht zuletzt für die Geschichte der schönen, verstoßenen Aranka, die »aus den kniekehlen gesungen hat«. Legenden im felderlatein.
Autorenporträt
Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren, heute lebt er in Wilhelmshorst bei Berlin und in Stockholm. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete er als Zimmermann und Maurer. 1990 schloß er ein Studium der Germanistik ab, seit 1997 leitet er das Literaturprogramm im Peter-Huchel-Haus.  Er unternahm Reisen nach Zentralasien, Osteuropa und war Writer in Residence in der Villa Aurora in Los Angeles sowie Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Uwe-Johnson-Preis, 2014 den Deutschen Buchpreis und den Preis der Leipziger Buchmesse 2020.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010

Die Verse riechen nach Thüringer Klößen

Geschichte im Rücken: Der Dichter Lutz Seiler erweist sich in seinem neuen Band erneut als erdhafter Solitär unter den modernen Naturlyrikern.

Von Wulf Segebrecht

Das Gedicht benötigt, bevor es wirklich zutage tritt, eine Inkubationszeit von "wenigstens sieben Jahren", hat Lutz Seiler einmal versichert, als er über die Frage nachdachte, "wohin das Gedicht heute unterwegs ist". "Der Abstand selbst scheint dabei wichtig zu sein, erst ,mit der Zeit' wird das Material tatsächlich brauchbar, reif, mit diesem Mindestmaß an Geschichte im Rücken."

Jeder Leser seiner seit dem Jahr 2000 erschienenen Gedichtbände kann sich ein Bild davon machen, wie viel Geschichte der 1963 in Gera geborene Lutz Seiler im Rücken hat. Es ist die Geschichte seiner Herkunft aus dem ostthüringischen Bergbaugebiet (in dem Uran abgebaut wurde), seiner Sozialisation in der DDR (einschließlich des Dienstes in der NVA), seiner Berufstätigkeit als Maurer und Zimmermann, seines Studiums in Halle und Berlin und schließlich die Geschichte seines Weges zur Literatur, verbunden mit der Ansiedlung im märkischen Wilhelmshorst, wo er heute das Haus bewohnt, in dem der Dichter Peter Huchel bis zu seinem Weggang aus der DDR lebte und wo er die Literaturzeitschrift "Sinn und Form" redigiert hatte. Nach ihm zog der Lyriker und Übersetzer Erich Arendt in dieses Haus ein. Und jetzt wohnt Lutz Seiler dort und leitet das Literaturprogramm der Peter-Huchel-Gedenkstätte. Ein Gedicht Seilers erinnert an die Vorbewohner des Hauses: "eines abends kamen / die toten meines hauses / vom bahnhof zurück (...) // von alters her // gehörte ihnen alles: jedes wort, gleich / von den lippen, jeder gute / satz."

Die Stationen, Orte und Personen seines Lebens geben erkennbar das "Material" nicht erst für den neuen, sondern auch schon für die früher erschienenen Gedichtbände Seilers her. Man stößt bei der Lektüre des Bandes "im felderlatein" immer wieder auf Themen, Formulierungen, Namen und Gedichttitel, die schon früher begegneten. Das gilt sogar für den Titel des Gedichts "im felderlatein", der - mit einem anderen Text - bereits in dem Gedichtband "pech & blende" (2000) stand. Ähnliches gilt für die Herkunftsorte Seilers ("culmitzsch"), für die Auseinandersetzungen mit der Person und dem Werk Peter Huchels und für die Erinnerungen an die eigene Familie und an die Soldatenzeit.

Das alles, bis hin zu den Namen des Stradivari-Radios und des "wunder weißen shiguli", ist tiefe DDR. Aber es ist weder eine Widerstandslegende, die Lutz Seiler sich nachträglich strickt, noch süße Ostalgie, der er nachhängt. Es ist konkrete, leibhaftige Geschichte, Erlebnis- und Erfahrungshintergrund der Gedichte. Man tut dem Autor deshalb keinen Gefallen, wenn man ihm, vermeintlich großmütig, bescheinigt, er sei ein "Nachwendeautor".

Nein, das ist er nicht; weder in dem Sinne, dass er sein Geschichtsgedächtnis erst nach der Wende entwickelt hätte, noch insofern, als man behaupten könnte, er habe überhaupt erst nach der Wende zu schreiben begonnen. Schon früh suchte er den Kontakt zu den in der DDR allerorts blühenden "Zirkeln schreibender Arbeiter" und nahm mehrfach an den "Poetenseminaren" teil, die die FDJ Jahr für Jahr in Schwerin abhielt. Seine Gedichte erschienen in den achtziger Jahren in den Sonderheften des legendären "Poesiealbums" und in der Zeitschrift "Temperamente" des Verlags Neues Leben, die sich im Untertitel "Blätter für junge Literatur" nannte. Auf die Frage "Warum schreibst Du?" antwortete er 1985: "Bestimmt schreib ich auch deshalb, um im nächsten Sommer wieder zum Schweriner FDJ-Poetenseminar fahren zu können und Leute zu treffen, die ähnlich oder ganz anders denken und mir das sagen." An solchen Leuten hatte es ihm offensichtlich andernorts gefehlt, damals.

In seinem Elternhaus sei es völlig unmusisch hergegangen, hat Seiler mehrfach berichtet. Doch heute, mit dem größeren Abstand der Geschichte im Rücken, steigt ihm und dem Leser überraschend der köstliche "geruch der gedichte" in die Nase, der sich sonntags während der Zubereitung von "klößen / & thüringer soßen" in der Küche verbreitete, als die Mutter ihren Sohn zum Memorieren der schönsten deutschen Balladen anhielt: "ich lernte das alles / von ihr: erst ohne betonung / dann mit."

Das gilt nicht nur für die Balladen und andere schöne Gegenstände. Gelernt zu haben, das geschichtlich Überlieferte mit eigener, zeitgenössischer Betonung auszustatten - darin könnte man überhaupt die größte Leistung des Lyrikers Seiler sehen. Er verbindet auf kürzestem Wege die Erdgeschichte mit der Zeitgeschichte, wenn er angesichts der wegen des Uranabbaus untergegangenen Ortschaften mehrdeutig von der "steinzeit der dörfer" spricht; er mischt unter die alten märkischen Kiefern und feuchten Moose die Starkstromschneisen, die Autobahnen, die Telegraphen und die Motorräder, den ganzen "totgesagten technikpark"; er kombiniert die meditative, naturnahe Bewegungsart des Gehens, der gleich mehrere Gedichte gelten, mit den noblen Adressen der Frankfurter Myliusstraße. Altes und Neues, das Volkslied und die lässige Redensart, die Erinnerung an das Fußballspielen mit den jugendlichen "fussinauten" vor dem Reichstag und an die geheimnisvoll-schöne Aranka, "die / aus den kniekehlen gesungen hat", verknüpfen sich zu staunenswerten Gebilden ganz und gar eigener Tonart. Dazu tragen nicht zuletzt auch die formalen Eigenschaften der Gedichte bei. Sie sind reimlos und gehorchen keinem vorgegebenen metrischen Schema. Aber Seiler schreibt eine durch und durch musikalische Sprache mit vielen im Versinneren versteckten Gleich- und Anklängen, so dass geradezu der Eindruck entsteht, man habe es mit gereimten Gedichten zu tun.

Wollte man ihm einen literarischen Ort unter vergleichbaren deutschen Autoren zuweisen, so hätte man unter den Älteren neben Peter Huchel wohl vor allem Oskar Loerke zu nennen, dann aber auch Johannes Bobrowski und Wulf Kirsten - alles sogenannte "Naturlyriker", eine Bezeichnung, die bei allen diesen Autoren eine jeweils verschiedene Bedeutung annimmt. Mit dieser jüngeren Geschichte der Naturlyrik im Rücken, nimmt sich Lutz Seiler dennoch wie ein erdhafter Solitär aus oder, wie es im Titelgedicht des Bandes heißt: "es ist ein baum / & wo ein baum so frei steht / muss er sprechen".

Lutz Seiler: "im felderlatein". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 100 S., geb., 14,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.12.2010

Zarte Schatten um die Dinge
Lutz Seilers neuer Gedichtband „im felderlatein“
Die Erkennungszeichen des Epochenbruchs ruft der 1963 in Gera geborene Lutz Seiler in seinem neuen Gedichtband herauf, in distanzierenden Anspielungen auf Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Inger Christensen. Das Zeitgedicht „das neue reich“, mit dem Seiler seine poetische Geschichtswanderung eröffnet, stellt der artistischen Esoterik und Seher-Pose in GeorgesGedichtsammlung „Das Neue Reich“ (1928) das Deutschland unserer Tage entgegen, das auf unrühmlichem braunem Geschichtssockel steht. Die Dementis „kein labyrinth & keine chandoshysterien“ gelten der bloßen Relativität des menschlichen Weltverständnisses in Inger Christensens Versepos „Det“ (1969) und der Sprachkrise, die Hugo von Hofmannsthal seinen Lord Chandos in dem berühmten Brief ausrufen ließ, den er in seinem Namen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfasste.
Den Versuch Stefan Georges, mit einer Erneuerung der Naturpoesie das Rad der Zeit zurückzudrehen und die Menschheit des Jahres 1897 „in den totgesagten Park“ einer herbstlich späten Rosen- und Rankenwelt einzuladen, konterkariert Seiler mit dem Hinweis auf die unumstößliche Realität des „technikparks“ mit seinem komfortablen „fischgrätenestrich“, in dem wir zusehends bequemer und mobiler leben. Seiler entlehnt einen guten Teil seiner Bildsprache diesem „technopark“, den „göttern des öl“, der Welt von Garagen, Motoren, Schrauben, Bowdenzügen, Vergasernadeln. Das Maschinelle, Mechanische, Automatische und namentlich das Elektrische webt eine magische Aura, „zarte/blaue schatten um die dinge“ und sichert einen „zufluß / ohne ende“ an „magnetischer sprache“, an Gesang, Musik, Rede. Der Allianz mit dem Fortschritt verdankt diese Lyrik ihr pionierhaftes Vokabular, ihre Wirklichkeitsgewinne.
In der Kritik an Stefan George deuten sich die Gegentendenzen eines gewandeltes Naturbegriffs an. Das Titelgedicht „im felderlatein“ und sein Zwilling „was wir sehen“ entdecken die Natur als Kommunikationsraum, wobei Natur im umfassenden Sinn als Welt und Lebenswelt zu verstehen ist. Beide Gedichte beziehen sich auf das „Gespräch über Bäume“, auf die Auseinandersetzung Paul Celans mit Bertolt Brecht um die Möglichkeit einer zeitlosen, von geschichtlichen Einlagerungen gereinigten Dichtung in finsteren Geschichtszeiten. Das waren Scharmützel über das poetische Subjekt und seine Rede von der Natur, als die Begriffe schon als idealistisch-metaphysische Konstruktionen entlarvt waren. Bei Seiler verwandelt sich das „Gespräch über Bäume“ in ein „Gespräch der Bäume“.
„felderlatein“ erinnert zunächst an das Koberlatein, den thüringisch-sächsischen Zungenschlag, dem Einar Schleef in seinen „Gertrud“-Monologen ein Denkmal gesetzt hat. Dem 2001 verstorbenen Landsmann widmet Seiler eines seiner Gedichte. Daneben zielt das „felderlatein“ auf ein erweitertes Sprachverständnis. Das Gedicht führt ins „nervenbündel dreier birken“, die das „Ich/Wir/Er“ der Gedichte sogleich in Spiegelbilder seiner selbst verwandelt: „umrisse der existenz“ und „schwarzer mann & stummer/stromabnehmer“. Der Widerruf folgt auf dem Fuß. Die gesetzgeberische Funktion des Verstandes gegenüber der Natur ist passé, gehört zu den gestrigen „falschen scheiteln, sauber/nachgezogen im archiv/ der glatten überlieferung . . .“.
In den Schlussstrophen wird der Mensch als Sinnenwesen in ein Wechselverhältnis mit der Natur eingesetzt. Deren Botschaften fehlt allerdings die Eindeutigkeit. Der Ecksatz „gern / sagst du . . . so“ steht gegen die Unschärfe der Signale des Baums, des „schleifens in/den zweigen“. Die Schlussverse erkennen den Dingen ein Eigenleben zu: „ . . . es ist ein Baum / & wo ein baum frei steht/ muß er sprechen“.
So könnte man das Gedicht lesen, ohne letzte Gewissheit über die Bedeutung der „falschen scheitel . . . im archiv/der glatten überlieferung“ zu haben. Sichtlich ist Seiler gewillt, sich von keiner begrenzten Sprache die Wirklichkeit als fertigen Gegenstand liefern zu lassen. Sein poetisches Idiom sprengt die gewohnten Sinn- und Verständigungsgrenzen. Allerdings bleiben hermetische Aussagen und Rätselbilder im Fluß der poetischen Kommunikation und erhellen sich immer wieder als Selbstzitate aus dem Zusammenhang älterer oder nachfolgender Verse, auch das „gespräch der bäume“. Das Zwillingsgedicht stellt zweifelsfrei klar: „was // wir sehen, das fragt sich/weitab in den bäumen. es ist / ihr eigenes gespräch . . .“.
Neben der Binnenkommunikation der Verse ist die stabile Metaphorik Seilers und seine Formsprache dem Verständnis der Verse dienlich. Die komplizierte, an musikalische Bauformen erinnernde Architektur des Zyklus sorgt dafür, dass die neun Kapitel durch ein engmaschiges Netz hin- und herlaufender Fäden, knisternder Lebensfäden, dicht verfugt ist. Dem Aufgesang folgt ein in römischen Ziffern durchnumeriertes Kapitel mit neun Gedichten, deren Themen und Gegenthemen in den nachfolgenden Kapiteln in variierender Form wiederkehren. Der Zyklus verwandelt sich in ein Verweissystem, wobei die Lebens- und Geschichtswanderung von reflexiven Kreisgängen durchkreuzt wird.
Die epische Erzählung setzt mit dem dritten Kapitel „handwunder & tagebuch“ ein. Es besingt ein zeitgenössisches Pompeji, die untergegangene, dem Wismutabbau geopferte ländliche Kindheitswelt des Ich/Er/Wir der Gedichte. Ein Leben wird ausgegraben, zu dem Vater, Mutter, Häuser, Bäume und das Kind gehören, dem sich die Außenwelt als Verlängerung des eigenen Leibes darstellt. Es kommt im Zwischenreich zwischen Aneignung und Ohnmacht zu einer bedrängenden Durchdringung des Innen und Außen: „ . . . &//in der hohlform der wände/schwebte ein kind, das/mir vorsprach. Es wußte/alles von mir.“ Vor allem aber gehört „aranka“ dazu, die wilde Schönheit und Unberührbarkeit Arankas, der zahnlosen Lumpenprinzessin mit dem stinkenden Karren, die „schon scheiße gefressen/hat für zwei mark“.
Der Weg führt im nächsten Kapitel in das erwachsene Leben in der märkischen Provinz. „warum, antäus, dieser ort“, fragt sich das Ich/Er/Wir der Gedichte und wird beim Anblick fußballspielender Hunde und ihrer Besitzer gewahr, wie ein Ast durch seinen Schatten wächst und die Asthand den Spielern immer winken will. Das Bild des märkischen Antäus, den der Anblick fußballspielender Passanten Wurzeln schlagen lässt, weist voraus auf das zentrale siebte Kapitel „die fussinauten“.
Das Gedicht schreibt die „Dritte Ode“, die Fußballode des 1935 in Dresden geborenen, im Juni 2000 in Berlin gestorbenen Autors Karl Mickel aus dem Jahre 1980 in die bundesrepublikanische Gegenwart fort. Im Modell eines Fußballspiels vor chorisch teilnehmenden Zuschauern zeichnete Mickel damals das Bild einer entzweiten, den Klassenkampf fortsetzenden DDR-Gesellschaft. Dem setzt Seiler die Individualität fußballspielender Argonautenfreunde entgegen, die vor dem Reichstag spielen, später im Wedding, in Potsdam, Michendorf, zuletzt in der Forckenbeckstraße, aber bei allem Wechsel beständig bleiben und vom Gedicht aufgefordert werden: „diesmal, bitte, laßt / uns bleiben“. Der vernarbte, gefurchte Platz mit dem inzwischen toten „preußischen Platzwart“ ist ein Ort versöhnter deutscher Geschichte.
Dem Gedicht sind zwei Kapitel vorausgegangen, die auf Bewusstseinsschauplätze führen, ins Reich kindlicher Ausreißträume, die sich in dem Maße dehnen und entstofflichen und auf andere Länder, andere Kontinente, ein anderes grenzensprengendes Leben richten. Gelöscht können sie nicht werden. Es bleiben „ungeköpfte träume“, die ein Nichts, eine Schneeflocke neuerlich mobilisieren können. Sie schieben den „mann durch die geschichte“ und reisen „bei fahrendem himmel“ mit dem Zeichner Bodmer bis nach Afrika und zu Ezra Pound nach Amerika. Unüberhörbar hat sich inzwischen das Vokabular sakral gefärbt.
Dem finalen Abgesang im „treppenhaus“ der Zeit geht ein „Inventur“-Kapitel voran. In einer Kontrafaktur von Günter Eichs gleichnamigem Habseligkeiten-Gedicht aus der Nachkriegszeit kehrt das Ich/Er/Wir noch einmal in die „kulissen deiner kämpfe“ zurück, jetzt in der Form des Erinnerns, als schattenhafter Gast des eigenen Lebens.
Es entsteht eine geistige Biographie, die im tiefsten „zeitregal“ vor die Kochtöpfe der Mutter führt, die dem auswendig lernenden Kind mit dem Kochlöffel „Die Kraniche des Ibykus“ und „John Maynard“ skandiert. Aber das schönste der Gedichte dieses Kapitels, „die erste zärtlichkeit“ gilt einem Nichts, einer hauchigen Berührung am Scheitel, wer weiß von wem, die das Gedicht rund um das kursiv gedruckte „wie neugeboren“ in schwebende Bedeutungen überführt.
So komplex sind die Mitteilungen des Buchs, so gesättigt mit deutscher Geschichte, mit Leben, Erfahrung, Erfahrungsformen, so gedanken- und figurenreich und empfindlich im Umgang auch mit den Dingen, – endlich haben die Steine auch in der deutschen Sprache ihren Poeten gefunden, dass die Einheitsform des Gedichts als Wunder erscheint, ein langsam vor den Augen des Lesers sich vollziehendes Schauspiel sinnerfüllten Sprechens.
SIBYLLE CRAMER
LUTZ SEILER: im felderlatein. Gedichte. Suhrkamp Verlag. Berlin 2010. 102 Seiten, 14,90 Euro.
Die „götter des öl“ leben inmitten
von Motoren, Schrauben,
Bowdenzügen und Vergasernadeln
„in der hohlform der
wände / schwebte ein kind,
das / mir vorsprach“
Lutz Seiler auf der Leipziger Buchmesse 2010 Foto: Regina Schmeken
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Wulf Segebrecht betont das Besondere am Dichter Lutz Seiler und erklärt, was der Dichter nicht ist: ein Nachwendeautor. Alles echt erlebt, weiß Segebrecht und auch, dass Seiler schon damals zu DDR-Zeiten geschrieben hat. Wenn nun also wiederum NVA, Thüringer Klöße und Bergbau und auch Zeitgenossenschaft in den Texten eine Rolle spielen, nimmt Segebrecht dem Autor das ab. Ebenso wie die Reimlosigkeit und die Sorglosigkeit im Umgang mit metrischen Schemata (es gibt keine). Letzteres weil Seilers Lyrik dem Rezensenten auch so, etwa durch versinnere Gleich- und Anklänge, musikalisch genug im Ohr klingt, als wärs gereimt.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Lutz Seiler ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. In seinen Gedichten aber erzählt er die Geschichten nicht 'aus', sondern er schlägt nur wenige Takte an und gibt so einen Ton vor, der lange nachklingt. Seiler legt in seinen Gedichten Tonspuren. Wer ihnen nachhört, findet neben der ... Geschichte auch Zugang zu ganz eigenen, lange zurückliegenden Ereignissen.« Michael Opitz Deutschlandfunk Kultur 20110126