19,80 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

Jurek Becker gehört zu den großen deutschen Schriftstellern nach 1945. Daß er überhaupt ein deutscher Schriftsteller wurde, war jedoch keineswegs selbstverständlich. »Ich bin in Polen geboren, in der unschönen Stadt Lodz, als Kind von Eltern mit, wie man sagt, jüdischem Hintergrund. Der ist, ob ich will oder nicht, somit auch mein Hintergrund. Und wenn nicht bald nach meiner Geburt die deutsche Wehrmacht gekommen wäre, wenn sie nicht das Land besetzt und meine Eltern und mich in ein Ghetto und später in verschiedene Konzentrationslager gesteckt hätte, wenn die Rote Armee nicht das Lager…mehr

Produktbeschreibung
Jurek Becker gehört zu den großen deutschen Schriftstellern nach 1945. Daß er überhaupt ein deutscher Schriftsteller wurde, war jedoch keineswegs selbstverständlich. »Ich bin in Polen geboren, in der unschönen Stadt Lodz, als Kind von Eltern mit, wie man sagt, jüdischem Hintergrund. Der ist, ob ich will oder nicht, somit auch mein Hintergrund. Und wenn nicht bald nach meiner Geburt die deutsche Wehrmacht gekommen wäre, wenn sie nicht das Land besetzt und meine Eltern und mich in ein Ghetto und später in verschiedene Konzentrationslager gesteckt hätte, wenn die Rote Armee nicht das Lager Sachsenhausen, wo ich zuletzt weilte, befreit hätte, dann möchte ich nicht wissen, als was und vor wem ich heute stehen würde.« Jurek Becker aber wußte, als was und vor wem er stand - davon zeugen seine Aufsätze, Vorträge und Interviews. In der vorliegenden Sammlung findet das Selbst- und Weltverständnis dieses außergewöhnlichen Autors Ausdruck, der wie kein anderer die deutschen Verhältnisse in Ost und West, einst und jetzt, auszuloten vermochte - in der ihm eigenen seltenen Balance von sprachlicher Prägnanz, Witz und Klarsicht.Mein Vater, die Deutschen und ich basiert auf dem von Jurek Becker 1996 zusammengestellten Band Ende des Größenwahns. Die Neuausgabe enthält zudem wichtige Interviews, darunter jene, die ein Publikationsverbot in der DDR provozierten, sowie zahlreiche Texte aus dem Nachlaß, u. a. »Wie es zu Jakob dem Lügner kam«.
Autorenporträt
Becker, JurekJurek Becker wurde am 30. September 1937 in Lodz/Polen geboren und starb am 14. März 1997 in Sieseby/Schleswig-Holstein. Von 1939 bis 1945 wuchs Becker im Ghetto in Lodz auf und wurde später in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert. 1945 siedelte er in den Ostteil Berlins über, wo er von 1957 bis 1960 Philosophie an der Humboldt-Universität studierte. 1960 wurde Becker aus politischen Gründen vom Studium ausgeschlossen und ging an die Filmhochschule Babelsberg. Becker ist Autor zahlreicher Drehbücher. 1969 wurde sein erster Roman veröffentlicht - Jakob der Lügner wurde weltbekannt. Jurek Beckers Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis in Gold und dem Bundesverdienstkreuz.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2007

Hauptsache, es wird pünktlich gemolken
Ein Band mit Aufsätzen, Vorträgen und Interviews des vor zehn Jahren verstorbenen Jurek Becker zeigt, dass die außerliterarischen Einlassungen des Autors so wichtig sind wie seine RomaneVon Helmut Böttiger
Es stehen immer noch Szenen mit Jurek Becker vor Augen, die man nicht vergisst. Wie er schon 1990 in der Berliner Akademie der Künste vor einer drohenden „DDR-Nostalgie” warnte. Wie er im Literarischen Colloquium Martin Walsers Äußerung zurückwies, die Neonazis in der DDR seien bloße „Kostümfaschisten”. Und wie er es im „Literarischen Quartett” als einziger Gast schaffte, Marcel Reich-Ranicki und dessen televisionäre Wirkungsästhetik lächerlich aussehen zu lassen. In seinen Aufsätzen, Vorträgen und Interviews, die 1996 zum ersten Mal erschienen sind und nun, zehn Jahre nach seinem Tod und um etliche Texte erweitert, neu vorgelegt werden, zeigen sich die Stärken dieses Autors vielleicht am deutlichsten: er scherte sich nicht um die jeweiligen Stimmungsmoden und überzeugte auf Podien und in den Medien durch seine Nachdenklichkeit.
Immer wieder kommt er auf seine Biographie zu sprechen. Polnisch war seine Muttersprache, er wurde 1937 in Lodz als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Bald sah er sich von seinen Eltern getrennt, seine Mutter starb im KZ, nach dem Krieg fand ihn sein Vater im Konzentrationslager Sachsenhausen und zog mit ihm nach Berlin. Sein Vater, schreibt Becker, fühlte sich in der deutschen Hauptstadt, wo die unmittelbare Vergangenheit unter den Eindruck der Niederlage wohl am deutlichsten getilgt werden würde, sicherer als in Polen. Und er sprach mit seinem Sohn kein einziges Wort Polnisch mehr – nur, dass Jurek Becker das Deutsche noch nicht beherrschte. Dieser sprachliche Zwischenzustand ist ein Grundmotiv. Während die anderen Kinder Maikäfer sammelten und mit Spielzeugautos hantierten, lernte Jurek Becker die deutsche Grammatik. Noch bei seiner Vorstellung als Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1983 rückt er diese Erfahrung in den Mittelpunkt: die Strukturen der deutschen Sprache sind ihm nicht selbstverständlich. Er registriert bewusst Eigenheiten und Gesetze, über die ein Muttersprachler ohne nähere Reflexion einfach verfügt.
Jurek Becker wächst in die frühe DDR hinein, studiert Philosophie, schreibt Kabarett-Texte für die Ostberliner „Distel” und schließt eine Lebensfreundschaft mit dem Bohemien und Jazzsänger Manfred Krug – wie um die tragische Grundierung seines Herkommens aufzuheben. Seine Liebeserklärung an Manfred Krug aus dem Jahr 1989 wirkt auch heute noch berührend. Im Hintergrund von alldem aber steht unübersehbar das Verhältnis zu seinem Vater: Jurek Becker kämpfte früh darum, nicht auf das Schicksal des Juden festgelegt zu werden.
Doch wie sehr er damit verknüpft war, zeigt die Geschichte seines Welterfolgs „Jakob der Lügner”. Ausgangspunkt war eine Erzählung des Vaters aus dem Ghetto: ein Jude hatte illegal ein Radio und gab die Nachrichten an Vertraute weiter. Dieser Mann sei ein Held gewesen, sagte Beckers Vater, über ihn solle er einmal schreiben. Einige Jahre später fiel dem Sohn diese Geschichte wieder ein, mit einer entscheidenden Änderung: in Beckers Text besitzt der Jude kein Radio, sondern behauptet es nur. Er erfindet hoffnungsvolle Nachrichten, um seine Mitbewohner aufzurichten. Sein Vater war darüber sehr erbost. Jurek Becker machte aus einer realen Heldengeschichte ein literarisches Spiel um menschliche Abgründe, und das mit einem gewissen Witz. Die Generationenproblematik wird hier auch zu einem ästhetischen Gegensatz. Becker schafft es, den schmalen Grat zu begehen, auf dem über die Ermordung der Juden anders gesprochen werden kann als in politischen Sonntagsreden. Er trauert nicht mit pathetischen Worthülsen, er zeichnet nicht stereotyp jüdische Opfer, sondern unverwechselbare einzelne mit allen Schwächen. Es gibt eine Verbindung zwischen dieser Darstellung des jüdischen Schicksals und den komödiantischen, kabarettistischen Texten des Studenten in der frühen DDR. Dass seine Unabhängigkeit etwas mit den prägenden biographischen Erfahrungen zu tun hat, wird immer wieder deutlich.
Neu aufgenommen in den Band ist die „Stellungnahme vor der Parteiversammlung des Schriftstellerverbandes der DDR” am 7. Dezember 1976, als Beckers Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung seinen Ausschluss aus der Partei nach sich zog. Sie ist ein Musterbeispiel für seine mutige, unbeirrbare Haltung. Und noch bevor er 1977 mit einem zehnjährigen Visum aus der DDR ausreiste, besprach er im Spiegel Hans-Joachim Schädlichs Debüt „Versuchte Nähe”. Beckers Kritik schließt mit einem Satz, den Schädlich einen Dichter beim Verhör im Jahr 1590 sagen lässt: „Das ist ja der Poeten Amt, dass sie das Üble mit Bitterkeit verfolgen.” Becker fügte, und das wirkte damals ungeheuer, nur noch schlicht an: „Das müsste doch einzusehen sein.”
Becker hat bis zu seinem Tod der Idee des „Sozialismus” nicht abgeschworen und war dabei weder verstockt noch provinziell oder rückwärtsgewandt. Und er romantisierte die DDR-Bevölkerung keineswegs. In seinem letzten Roman „Amanda herzlos” lässt er einen westdeutschen Besucher kurz nach der Wende sagen: „Glauben Sie mir, diese Leute sind für ein Leben in freier Wildbahn verdorben. Sie sind es gewohnt, in Gehegen zu existieren, alles Unerwartete versetzt sie in Panik. Sie haben etwas Kuhiges, sie malmen ihr Gras, glotzen den Horizont an und wollen pünktlich gemolken werden.” So etwas hört man im Osten bis heute nicht gerne. Lieber gemeindet man Becker in Nachhinein ein, indem man etwa Sätze wie diese von 1993 zitiert: „Niemand wird ernsthaft behaupten, in der Zeit der Naziherrschaft habe es nennenswerte Unterschiede im Verhalten der Ost- und der Westdeutschen gegenüber dem Staat gegeben: Die begeisterte Zustimmung war im Schwarzwald wohl kaum schwächer als im Thüringer Wald, die Bereitschaft zur Unterordnung in Frankfurt am Main kaum kleiner als in Frankfurt an der Oder, der antifaschistische Widerstand in Sachsen genauso winzig wie der in Niedersachsen. Warum nur sind heute die meisten Westdeutschen überzeugt davon, sie hätten sich in vierzig Jahren DDR nicht so würdelos verhalten wie die meisten Ostdeutschen?”
Becker war ein gesuchter Diskussionspartner, aber er verweigerte sich den üblichen Normen der Talkshow. Seine außerliterarischen Einlassungen sind so wichtig wie seine Romane, er wirkt in ihnen wie ein Vorbild für die heutige Medienexistenz der Schriftsteller. An der Hotelrezeption freute er sich, sagen zu können: „Becker, wie Boris Becker.”
Jurek Becker
Mein Vater, die Deutschen und ich
Aufsätze, Vorträge, Interviews.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.
325 Seiten. 19,80 Euro.
„Glauben Sie mir, diese Leute sind für ein Leben in freier Wildbahn verdorben”
Jurek Becker 1992 in Klagenfurt Foto: Peitsch/peitschphoto.com
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2007

Das Leben hätte man sich auch besser vorstellen können

Von einem, der auszog, aus einem verpfuschten Start das Beste zu machen: ein Sammelband von Jurek Becker, der vor zehn Jahren starb und jetzt siebzig geworden wäre.

Jurek Becker, der in diesem Herbst siebzig Jahre alt geworden wäre, aber im März 1997 starb, war ein interessanter Zeitgefährte, ein eigentümlicher Protokollant des zwanzigsten Jahrhunderts, vor allem aber ein Erzähler von Rang, ein fleißiger dazu, denn seine Werkliste ist lang. Hinzu kommen Filmdrehbücher, die teils Beckers schon vorhandene Romane ins andere Metier transponierten, teils von vornherein der anderen Kunst verpflichtet waren. Stets erfuhr der Autor ein lebhaftes Echo, beim Publikum und bei der Kritik. Und sogar jene, die wenig von ihm lasen oder sich nicht mehr so recht daran erinnern können, haben ihr Aha-Erlebnis, wenn seine populärste Hinterlassenschaft erwähnt wird: "Liebling Kreuzberg", die Fernsehserie, für die Jurek Becker Handlung und Sprache entwarf und in der sein bester Freund, Manfred Krug, die Titelrolle spielte.

Im doppelten Gedenkjahr erscheint jetzt ein Buch mit dem Titel "Mein Vater, die Deutschen und ich", eine Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen und Interviews aus mehr als dreißig Jahren, ein autobiographisches Lehrbuch sozusagen. Wer Becker noch nicht oder nicht hinreichend kennt, der könnte nun Lust verspüren, ihm endlich zu begegnen.

Denn die Sammlung bereitet Genuss, obwohl es eigentlich nur Alltag ist, der aus den meisten Beiträgen zu uns spricht. Jurek Becker antwortet auf einst aktuelle Fragen; er versucht, Missverständnisse aufzuklären, zeitgebundene Positionen sowie deren späteren Wechsel zu erläutern. Der Sprechende und Schreibende hat diesmal aber keine Zeit, Gedanken und Sprache sorgsam auszubrüten, Formuliertes immer von neuem zu korrigieren, wie er es mit seiner Dichtung tat. Becker war, auch in alltäglichen Zusammenhängen, ein verbaler Artist, er konnte sich jederzeit und unter allen Umständen auf die deutsche Sprache verlassen und die Sprache sich auf ihn.

Wir erfahren hier, so ausführlich und präzise wie nie zuvor, welches Dasein diesen Schriftsteller hervorbrachte. Seine Leser wussten, und sei es auch nur aus den Klappentexten, dass Jurek Becker jüdischer Herkunft war, nahezu alle Angehörigen in Hitlers Konzentrationslagern verlor, selber eine Lager-Kindheit hatte, von der Roten Armee aus Sachsenhausen befreit wurde und niemanden wiederfand als seinen Vater. Wie wird aus einem solchen Menschen ein selbstbewusster Mann? Wie kann ein Opfer der Deutschen die deutschen Nachkriegsschicksale als die seinen auffassen? Auf welchen Wegen reift ein im polnischen Lodz geborenes Kind, dem einst jedes freundliche deutsche Wort verweigert wurde, zum Meister der deutschen Sprache?

Ein paar dieser Fragen hat Jurek Becker schon vor Jahrzehnten in einigen seiner Romane beantwortet: in "Jakob der Lügner" zum Beispiel, der Geschichte des KZ-Insassen, der die Widerstandskraft seiner Leidensgefährten durch erfundene Nachrichten aus einem nicht existierenden Radio zu stärken versucht; oder in "Der Boxer", wo ein jüdischer Sportler den Verlust seiner hingemordeten Familie nicht überwindet; oder in "Bronsteins Kinder", dem Bildnis eines Sohnes, der den Höllenerinnerungen und Rachegelüsten seines Vaters entrinnen, der ein Durchschnittsmensch werden möchte und das niemals schafft. Aber bei diesen Aufarbeitungen jüdischen Schicksals hat es der Autor nicht belassen. Schon deshalb nicht, weil er eigentlich in sich keinen ausdrücklich dazu Berufenen sah. Zunächst verblüfft es, wenn man in der neuen Sammlung immer wieder die Aussage findet, er wisse aus eigenem Erleben nichts über die grausige Vergangenheit. Er sei damals so klein gewesen, dass er alles vergessen habe und das, was war, nur aus anderer Leute Berichten kenne. Dieser Jurek Becker kennt die Wahrheit über seine Vergangenheit, doch die Vergangenheit selbst kennt er nicht. Ab und zu spürt er die Verpflichtung, sie aufzudecken, daher die Romane.

Sein Vater nahm den Sohn mit nach Ost-Berlin, weil er vom kommunistischen Teil Deutschlands die geringste Gefährdung jüdischer Bewohner erwartete. So wurde aus dem achtjährigen Jurek ein DDR-Kind. Den Polen traute der jüdische Vater nicht. Der Sohn wuchs rundherum deutsch auf. In einem der gesammelten Interviews sagte er 1988: "Immer wenn ich ein neues Buch anfange, und vielleicht fange ich deswegen immer seltener ein neues Buch an, komme ich mir vor wie einer, der von vorne anfangen muß. Nie habe ich beim Schreiben das Gefühl, auf Erfahrungen, Erkenntnisse oder gesicherte Theorien aufbauen zu können. Ich setze mich eigentlich immer mit leeren Taschen an den Schreibtisch. Vielleicht ist ein Grund dafür der, daß ich die Sprache, in der ich schreibe, relativ spät gelernt habe." Doch darf man weder diese Worte noch weitere solche Bemerkungen als Beweis dafür nehmen, dass sein fataler Lebensanfang ihn mit psychischen Hemmungen, mit einem Mangel an Selbstwertgefühl belastet hätte. Für das Gegenteil sprechen die Bekundungen, in denen Jurek Becker sich über den Zustand des Landes äußert, in dem er zu Hause ist. Er beginnt als überzeugter DDR-Bürger, leitet freilich aus dieser Eigenschaft alles andere ab als die Pflicht zur Unterwerfung. Vielmehr ist er stets darauf aus, die DDR-Oberen beim programmatischen Wort zu nehmen, die Ideale einzuklagen, die sie verkünden. Sein Maß an Bereitwilligkeit schmilzt, als 1968 auch die Nationale Volksarmee den Prager Sozialismus mit menschlichem Antlitz niederwalzt. Neun Jahre später, im Zusammenhang mit der Biermann-Affäre, kündigt Becker die Gefolgschaft. Ende 1977 verlässt er die DDR, lebt und arbeitet in West-Berlin, teilweise auch als Gastprofessor in Amerika.

Ein Ausweg? Eher ein Weg in neues Ungenügen, neue Enttäuschungen. Aus den Niederschriften und Interview-Antworten der ersten West-Jahre geht zweierlei hervor: Zum einen hält der Auswanderer die neue Umgebung für tolerierbar, sofern sie nichts ist als Wohnsitz und Arbeitsplatz; aber als Erfüllung politischer Sehnsüchte kommt auch sie nicht in Frage. Zum anderen verblassen, je mehr Zeit vergeht, umso unaufhaltsamer diese Sehnsüchte. Becker wird älter. Heißt das, er wird weiser? Das fragt er sich selbst. Auf jeden Fall wird er zurückhaltender, verliert den Glauben daran, dass Menschen überhaupt etwas Ideales zustande bringen und bewahren können. Auch seine Bücher sind fortan von solchen Zweifeln getragen, so die Romane "Schlaflose Tage", "Aller Welt Freund", "Amanda herzlos".

Die Vereinigung beider Hälften Deutschlands hat der so früh Verstorbene noch miterlebt. Sie hat ihn nicht hoffnungsfroher gestimmt als die Verhältnisse in Ost und West während der Jahre zuvor. In seinem letzten Interview vom März 1997 sagt Jurek Becker über die deutsche Einheit: "Auch die ist miserabel gemanagt worden. Auch die hätte man sich besser gemacht vorstellen können, aber wie es so oft ist: Verpfuscht ist verpfuscht, in den Brunnen gefallen ist in den Brunnen gefallen. Und jetzt muß man zusehen, wie man es da wieder herauskriegt."

SABINE BRANDT

Jurek Becker: "Mein Vater, die Deutschen und ich". Aufsätze, Vorträge, Interviews. Herausgegeben von Christine Becker. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 326 S., geb., 19,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Helmut Böttiger bejubelt diesen erstmals 1996 und nun um weitere Texte ergänzten Band mit Aufsätzen, Vorträgen und Interviews Jurek Beckers, die er für ebenso wichtig und tongebend hält wie Beckers Romane. Besonders freut ihn, den Stärken des vor zehn Jahren verstorbenen Autors dort in konzentrierter Form zu begegnen, seiner "Nachdenklichkeit", seinem politischen Mut und seiner Indifferenz gegenüber Moden. Immer wieder komme der 1937 in Polen geborene Autor auf seine Biografie zu sprechen: als Kind jüdischer Eltern verlor er seine Mutter im KZ, sein Vater fand ihn im KZ Sachsenhausen wieder und zog mit ihm nach Berlin, wo er die deutsche Sprache lernen musste, während sein Vater kein Polnisch mehr mit ihm sprach. Besonders berührt hat den Rezensenten Beckers Liebeserklärung an dessen langjährigen Freund Manfred Krug, und er freut sich über die neu hinzugenommene Protest Beckers vor der Partei zur Biermann-Ausbürgerung, die seine "mutige, unbeirrbare Haltung" demonstriere.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Becker war ... ein verbaler Artist, er konnte sich jederzeit und unter allen Umständen auf die deutsche Sprache verlassen und die Sprache sich auf ihn.« Frankfurter Allgemeine Zeitung