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"Die Bilanz eines Lebens ziehen - was heißt das? Verluste verbuchen, Momente des Glücks festhalten? Juan Goytisolo, der wohl radikalste spanische Schriftsteller der Gegenwart und unerbittliche Beobachter auch seiner selbst, geht einen anderen Weg. Er erzählt. Und erkundet die Strecke, die vor ihm liegt. Nach dem Tod seiner Frau und Gefährtin fühlt ein Mann das Nichts auf sich einstürzen. Ihm ist, als mache er sich auf einen langen Weg mit immer leichterem Gepäck. Die Dinge, die ihnen so viel bedeuteten, vermeintliche Gewißheiten, mühsam erworbene Kenntnisse, alles stößt er ab. Wo die…mehr

Produktbeschreibung
"Die Bilanz eines Lebens ziehen - was heißt das? Verluste verbuchen, Momente des Glücks festhalten? Juan Goytisolo, der wohl radikalste spanische Schriftsteller der Gegenwart und unerbittliche Beobachter auch seiner selbst, geht einen anderen Weg. Er erzählt. Und erkundet die Strecke, die vor ihm liegt.
Nach dem Tod seiner Frau und Gefährtin fühlt ein Mann das Nichts auf sich einstürzen. Ihm ist, als mache er sich auf einen langen Weg mit immer leichterem Gepäck. Die Dinge, die ihnen so viel bedeuteten, vermeintliche Gewißheiten, mühsam erworbene Kenntnisse, alles stößt er ab. Wo die Erinnerungen verblassen, verblaßt auch der Schmerz. Doch unter dem Ansturm von Verlust und Sinnlosigkeit erfährt er zugleich, daß erlebte Schönheit nicht im Strudel des Lebens verschwindet. Was läßt ihm die Zeit, dieser blinde Reiter? Was erwartet ihn hinter dem letzten Vorhang, dessen Sinnbild ihm die verschneite Bergkette am Horizont ist, dort, wo die Wüste beginnt?
Vom Ankommen an einer Wegkreuzung erzählt Goytisolo in seinem autobiographisch gefärbten und, wie er sagt, letzten Roman; davon, was es bedeutet, wenn die Zukunft der Erinnerung an Vergangenes weicht und der Blick dennoch nach vorne geht. Ein Text voller einprägsamer Bilder, der Fragen stellt, denen sich niemand entziehen kann.
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Autorenporträt
Brovot, ThomasThomas Brovot lebt als Übersetzer (unter anderem Mario Vargas Llosa, Juan Goytisolo, Federico García Lorca) in Berlin. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Paul-Celan-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2006

Rebell ohne ein Quentchen Hoffnung
Gespräche mit einem erfundenen Gott: Juan Goytisolos autobiographischer Roman "Der blinde Reiter"

Wenn man in den vergangenen Jahren Juan Goytisolo in seinem Haus in Marrakesch anrief und sich mit der üblichen spanischen Formel "¿Cómo te va?" nach seinem Befinden erkundigte, erhielt man fast immer die gleiche Antwort: "Gut, soweit es einem Mann über siebzig gutgehen kann." Im Januar feierte er seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag. Jetzt ist sein jüngster Roman, "Der blinde Reiter", in dem es um die Einsamkeit eines alleingelassenen alten Mannes geht, auf Deutsch erschienen.

Goytisolo wurde 1931, in dem Jahr, in dem in Spanien die Zweite Republik ausgerufen wurde, in Barcelona geboren. Er erlebte als Kind den Bürgerkrieg, der seine Mutter das Leben kostete, und gehörte in den fünfziger Jahren zu den jungen spanischen Autoren, die in ihren Romanen die öde und kleinliche Diktatur des Generals Franco denunzierten. Diese Werke fanden mehr Beachtung und Anerkennung aufgrund ihres politischen und sozialkritischen Inhaltes als für ihre literarische Form. Von diesen realistischen Romanen, die manchmal politische Thesen literarisch illustrierten, aber sprachlich nachlässig und wenig präzise waren, hat sich Goytisolo dann mit einer in der Struktur wie in der Sprache experimentellen Trilogie distanziert. Die drei Romane "Identitätszeichen" (1966), "Rückforderung des Grafen Don Julián" (1970) und "Johann ohne Land" (1975) sind nicht nur eine Abrechnung Goytisolos mit seinen frühen Werken, sondern sie markieren auch eine deutliche Zurückweisung der bürgerlichen Tradition sowie der religiösen und politischen Zwänge Spaniens.

Der kleine Roman "Der blinde Reiter" nun, im Original 2003 erschienen, beschreibt die Erinnerung eines Mannes. In Fragmenten, die in knapp vierzig kurzen Kapiteln wiedergegeben werden, blickt er zurück. Der Mann ist nicht mehr jung; gerade hat er seine Frau und Gefährtin verloren. Durch diesen Verlust hat sich alles in seinem Leben verändert. Sie war immer neben ihm, sie bildete seinen Horizont. Jetzt herrscht Leere. In kurzen, wolkenartig auf- und vorüberziehenden Erinnerungsfetzen scheinen Stationen seines früheren Lebens auf. In Gedanken besucht er noch mal die wichtigsten Orte, geht durch die Straßen der ihm vertrauten Viertel in Paris oder über die leeren Landstraßen bei Marrakesch mit dem Blick auf das hohe Atlasgebirge.

Nicht einmal die Melancholie bleibt längere Zeit bei ihm. Sie streift ihn lediglich in nur kurzen Bildern aus seinem früheren Leben, die sogleich wieder von anderen Fragmenten verdrängt werden. Mit all diesen punktuellen Erinnerungen ist eine Sinngebung seines Lebens unmöglich. Er irrt wie ein Blinder durch die Vielzahl der Fragmente aus seinem bisherigen Leben: die Kindheitsjahre im Landhaus seiner Eltern in Katalonien, die Erfahrungen aus den jüngsten Kriegen in Bosnien und Tschetschenien, der Tod seiner Mutter im Spanischen Bürgerkrieg, die langen Jahre in Marrakesch und die mit seiner Frau verbundenen Erlebnisse in Paris. Diese Erinnerungsstücke vermischen sich mit Lektüren von Tolstoi, die Goytisolos eigene Erfahrungen - zumindest scheint ihm das so - bestätigen. Obgleich deutlich autobiographisch, erzählt das Buch immer in der dritten Person, so daß es nie den Charakter eines allzu persönlichen oder gar sentimentalen Bekenntnisses annimmt.

Im letzten Teil des Bandes erscheint der Verantwortliche für alles Leid der Menschen: der allmächtige Gott, der Goytisolo zufolge nur in der Vorstellung vieler Menschen existiert. Mit diesem von den Menschen erfundenen Gott unterhält sich der einsame Protagonist. Der nicht existierende Gott kann es sich erlauben, einfallsreiche Blasphemien auszusprechen. Gott äußert sich beispielsweise zu den Massakern in Tschetschenien: "Sag mir, was hat sich eigentlich geändert auf dieser Erde, die ich nach der Legende zufolge geschaffen haben soll. Wozu ist es gut, diese Phase noch zu verlängern? Warum wollen die starrsinnigen Menschen sich immer weiter fortpflanzen?" Das Fazit, das der alte Mann aus seinem Leben zieht, ist düster, teils pessimistisch und von jedem religiösen Glauben weit entfernt, ohne Hoffnung, doch nicht resigniert. Wie die anderen Romanhelden Goytisolos ist auch er, der blinde ziellose Reiter, aufsässig, hat er seine Kraft zur Rebellion, zum Widerstand nicht verloren. Er ist ein "Homme révolté", wie Albert Camus ihn beschrieben hat, doch im Gegensatz zu Camus' Sisyphos ein Rebell ohne auch nur ein Quentchen Hoffnung.

Thomas Brovot, der bewährte deutsche Übersetzer Goytisolos, erschreckt die Leser des Buches gleich in der dritten Zeile der ersten Seite mit dem englischen Wort Tranquilizer (für spanisch tranquilizante). Die Befürchtung, ein Buch voller neudeutscher Anglizismen zu lesen, verliert sich jedoch rasch. Brovot hat die leise und feinfühlige Sprache Goytisolos in ein adäquates und ebenfalls unaufdringliches Deutsch übertragen.

Juan Goytisolo: "Der blinde Reiter". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Thomas Brovot. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 134 S., geb., 17,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2006

Jenseits des Kaukasus
Ein Meteorit: Juan Goytisolos Roman „Der blinde Reiter”
Dies ist ein nackter, ausgezehrter Roman über einen Mann, der in seinem Zimmer sitzend das eigene Leben schon von der Seite des Todes aus betrachtet. Seine Frau ist gestorben, er verliert den Halt. Schuldgefühle wechseln sich mit Todesphantasien und Halluzinationen massenhaften Sterbens ab. Funken der Erinnerung an das eigene Leben - die Jugend im spanischen Bürgerkrieg, die Entdeckung der Freiheit in der Literatur, der Tod der Mutter bei einem Bombardement, Augenblicke der Vertrautheit zwischen ihm und seiner Frau - fliegen durch das nachtschwarze Panorama. Alles ist verloren, und alles war von Anfang an verloren, denkt der zornige, alte Mann.
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entlarvt „Der blinde Reiter” in schneidendem Ton als Lügen. Man braucht nur auf die literarischen Anspielungen in Goytisolos Buch zu achten, um Aufschluss über seinen Tenor zu erhalten. Tolstois Kreutzersonate bezeugt in ihm die Ungangbarkeit der bekannten Wege des menschlichen Zusammenlebens; Swifts „bescheidenem Vorschlag”, nach dem zur Linderung des Elends der Welt Kinder gegessen werden sollen, ist tatsächlich zu folgen. Besser aber, erst gar nicht geboren zu werden. Wem doch dieses Unglück widerfahren ist, der wird sterben und in Dantes „Hölle” leiden. Schon auf dem Weg dorthin erlebt er die Hölle als inneren Zustand wie „Macbeth”, der sich auf der Flucht vor der Schuld immer tiefer in sie verstrickt.
Das ist das Leben in „Der blinde Reiter”.
Gottes höhnisches Gelächter
Die Niedertracht des Daseins, wie sie Goytisolo durch eine Zusammenschau dieses heterogenen Kanons darstellt, lastet der Ich-Erzähler dem „großen Halunken” an, Gott. Dass der Ich-Erzähler mit der Welt auf metaphysischem Terrain abrechnet, liegt daran, dass ihm die politische Dimension nicht auszureichen scheint, um das Ausmaß des Übels zu erklären. Nur weil es einen Gott gibt, ist dieses Übel überhaupt möglich. Doch selbst diesen negativen Gottesbeweis, der die Verantwortung - schwacher Trost - von den Menschen nimmt, weist Goytisolo zurück.
Er lässt Gott bekennen, dass er nur als fixe Idee der Menschen existiert. Über ihren endlosen Versuchen, ihn zu definieren, erschallt sein höhnisches Gelächter. Was bleibt, ist der „blinde Reiter” - die Zeit. Ohne Rücksicht reitet er durch die Menschen hindurch und verwüstet ihr Leben: „Wo er vorüberkam, riss er nieder, was von Dauer schien, pflügte die Landschaft um, verbrannte die Träume zu Asche.”
Goytisolos Abrechnung ist von kleistscher Radikalität. Das Paradies zu kennen und es im Leben durch keine Hintertür erreichen zu können, darin besteht die Tragik seines Ich-Erzählers. Nur woher kennt er das Paradies? Aus Tolstois „Krieg und Frieden”, also aus der Literatur! Goytisolo hat seinen Roman so angelegt, dass es manchmal so aussieht, als sei die Figur des Schriftstellers jener blinde Reiter, der seinem Buch den Titel gibt: Ein durch Romane verwirrter Don Quixote, dazu verdammt, immerzu auf ein unerreichbares Ideal zuzurennen. Gleichwohl ein Don Quixote, der von den Windmühlen ablässt und seine Lanze zornig unter die Menschen schleudert: „Wer hat nicht schon mal davon geträumt, im Tod die ganze Welt mit sich zu reißen?”
Juan Goytisolo muss sich nicht vorwerfen lassen, der Welt metaphysische Fehlerhaftigkeit zu bescheinigen, ohne sich zunächst mit den politischen Wirklichkeiten befasst zu haben. Der 1931 geborene Spanier, dessen Bücher von 1963 bis zu Francos Tod in seiner Heimat verboten waren, war viele Jahre lang als Kriegsreporter und politischer Kommentator tätig. Für diesen Roman, seinen letzten, wie er sagt, bildet vor allem eine Reise nach Tschetschenien den Erfahrungshintergrund: „Wie der junge Tolstoi hast du die Zerstörung Tschetscheniens und die Massaker gesehen”, spricht Gott den Ich-Erzähler an. „Sag mir, was hat sich geändert auf der Erde, die ich der Legende nach in einer Woche schuf?”
In seiner Abstraktheit ähnelt „Der blinde Reiter” einem philosophischen Traktat. Die Erinnerungen des Ich-Erzählers schildert der Autor wie Stationen eines allgemein-menschlichen Passionsspiels. An die Stelle unterscheidbarer Orte, an die sich bestimmte Erfahrungen knüpfen, tritt zunehmend das Bild der gleichförmigen Wüste, die der Ich-Erzähler als symbolisches und zugleich konkretes Ziel seines Lebens gewählt hat. Es ist die Wüste hinter dem Kaukasus, dem geografischen Ausgangs- und Fluchtpunkt von Goytisolos Reflexionen. Immer wieder kehrt „Der blinde Reiter” in das Gebirge zurück, in das Tolstoi am Ende seines Lebens floh, um doch noch den als unerträglich empfundenen Konventionen zu entkommen; er starb unterwegs in Astapowo an einer Lungenentzündung. Auch der Ich-Erzähler begibt sich auf eine solche Flucht über die kaukasischen Berge, über die Erinnerungen an Tschetschenien hinweg, doch vergeblich.
Während Tolstoi den „Betrug Leben” in der Tat hinter sich ließ, wacht der Ich-Erzähler bloß aus einem Traum auf und entkommt der einen Lüge nur, um sich in einer anderen wiederzufinden. Goytisolos Buch sucht in seiner Unversöhnlichkeit seinesgleichen, es ist wie ein schwarzer Meteorit, totes, schillerndes Gestein, das die Erde verwunden will und folgenlos und schön auf einem Feld niedergeht. KAI WIEGANDT
JUAN GOYTISOLO: Der blinde Reiter. Roman. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 133 Seiten, 17,80 Euro.
Juan Goytisolo, geboren 1931 in Barcelona.
Foto: Doris Poklekowski
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Kersten Knipp ist unterm Strich ein bisschen enttäuscht von diesem Alterswerk des spanischen Schriftstellers Juan Goytisolo, in dem er sich ebenso "ausführlich wie eindrucksvoll" von der Welt verabschiedet. Zum einen konzentriert sich Goytisolo Knipps Meinung nach in seiner fiktionalisierten Lebensbilanz ein bisschen zu sehr auf die negativen Seiten der Welt, doch das kann man ja noch als "persönliche Entscheidung" verstehen. Doch darüber hinaus stört sich Knipp an dem Umstand, dass Goytisolo, der eigentlich mit Einfühlungsvermögen und Akkuratesse und mit "einer ausgesprochenen Abneigung gegen gestanzte Phrasen" erzähle, hier recht plumpes Pamphlet für den Atheismus verfasst hat. Erkenntnisgewinn und Wirkung halten sich deshalb bei ihm in unerfreulich geringen Grenzen.

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