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"Dionysos, Narziß, Prometheus ... Kann man über diese bekannten Gestalten aus der griechischen Mythologie heute noch etwas Neues sagen? Ja, denn immer wieder kehren sie hartnäckig zurück. Sie kehren zurück, so Micha' G'owiÒski, 'um neuerlich Besitz von unserem Verstand zu ergreifen', um erneut universelle Situationen des Menschen auszudrücken." Edward Balcerzan, Gazeta Wyborcza
Welche Bedeutung haben zentrale Mythen des europäischen Abendlands für die neuzeitliche Kultur Mitteleuropas? Wie entwickelten sie sich unter den Bedingungen politischer Freiheit und zivilgesellschaftlicher
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Produktbeschreibung
"Dionysos, Narziß, Prometheus ... Kann man über diese bekannten Gestalten aus der griechischen Mythologie heute noch etwas Neues sagen? Ja, denn immer wieder kehren sie hartnäckig zurück. Sie kehren zurück, so Micha' G'owiÒski, 'um neuerlich Besitz von unserem Verstand zu ergreifen', um erneut universelle Situationen des Menschen auszudrücken."
Edward Balcerzan, Gazeta Wyborcza

Welche Bedeutung haben zentrale Mythen des europäischen Abendlands für die neuzeitliche Kultur Mitteleuropas? Wie entwickelten sie sich unter den Bedingungen politischer Freiheit und zivilgesellschaftlicher Entfaltung (im Westen des Kontinents) und in einer Atmosphäre politischer wie sozialer Bedrückung (in seinem Osten)? Der in vielen Sprachen beheimatete Micha' G'owiÒski spürt in seinem kenntnisreichen Buch ausgewählten Mythen in den Literaturen des Westens wie auch Polens nach und arbeitet ihre Funktionen in sich wandelnden kulturellen Umfeldern heraus. Dabei wird die Fülle unterschiedlicher Verkleidungen deutlich, in denen die Mythen seit der Antike immer wieder zum Vorschein kamen, in denen sie den Menschen immer wieder Neues zu sagen hatten: Prometheus zeigt sich als Rebell romantischer Poeme, Dionysos als Held der Modernisten, Narziß als Symbol der Psychoanalyse.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.04.2006

Narren, Zyniker der Macht
Der polnische Gelehrte Michal Glowinski über „Mythen in Verkleidung”
Als die autobiografischen Erinnerungen des polnischen Literatur- und Kulturwissenschaftlers Michal Glowinski 2003 unter dem originalgetreuen Titel „Eine Madeleine aus Schwarzbrot” auf Deutsch erschienen, entsprach der Titel nicht in jeder Hinsicht dem Inhalt. Sie enthielten keine proustnahen Beschwörungen einer einfachen osteuropäischen Existenz, keine atmosphärereichen Szenen aus dem polnisch-jüdischen Leben, aber im wesentlichen auch keine Erinnerungen an den Holocaust oder Ausführungen über das schwierige Glück, ihm entkommen zu sein. Zuerst einmal ging es Glowinski um eine Reihe höchst zwiespältiger Biografien; oft jene ehemaliger Kommilitonen, die sich phasenweise dem Geheimdienst des Regimes angeschlossen hatten, oder auch nur nationalistische Sprüche zu verkaufen begannen. Grimmige Kurzporträts sind da entstanden, die sich beinahe wie eine kleine Typologie des alltäglichen Opportunismus im kommunistischen Polen lesen.
Aber auch sich selbst gegenüber wirkt Glowinski um Aufrichtigkeit bemüht. Stalins Tod jedenfalls, war für den Studenten nicht nur Erleichterung. Er wollte, so Glowinski, damals an den Kommunismus und seinen Führer glauben, obwohl die erlebte Realität die beiden ständig zu widerlegen schien; etwa anlässlich einer ernüchternden Fahrt des beschämten Agitpropstudenten in ärmliche Vorstädte. Ohne allzu große Scheu unternimmt Glowinski hier eine recht peinliche Selbstbefragung. Die Schwarzbrot-Madeleine wird erst im allerletzten Kapitel der Erinnerungen aufgelöst. Bei einem späten Besuch des katholischen Heims, dessen Schwestern dem 1934 geborenen Glowinski zur Zeit des Holocaust offenbar das Leben gerettet haben.
Gut, dass Suhrkamp es nicht bei der Veröffentlichung der Erinnerungen hat bewenden lassen. Auch der erste wissenschaftliche Glowinski, der jetzt auf Deutsch erschienen ist, ist für ein weiteres Publikum interessant. Der gesellschaftliche Hintergrund schwingt in jedem der einzelnen Essays aus verschiedenen Jahrzehnten mit. Alle handeln von Verwandlungen von Mythen.
Der vielleicht interessanteste Aufsatz ist dabei jener zur unbekanntesten der untersuchten „Urerzählungen”: die über Marcholt, jenen hässlichen Narren, der König Salomo im Alten Testament einen schlagfertigen Wortzweikampf liefert. In diesem 1974 geschriebenen Aufsatz zeichnet Glowinski als wichtigste Verwandlung des Marcholt jenen Moment nach, in dem der Narr zum Herren wird. Der aufrührerische Mann aus dem Volk wechselt, einmal an der Macht, sofort die Seite. Er wird zum zynischen Herrscher, gerade weil er die Mechanismen der Unterdrückung am eigenen Leib erfahren hat. Im Westen aufgegriffen, hätte dieser Mythos systemkonform gewirkt. Auf ehemalige Volksrevolutionäre angewandt, entwickelt er einige Sprengkraft.
Der politisierte Dionysos
Recht ungewöhnlich auch, was Glowinski, der seine Beispiele der modernen polnischen, französischen, deutschen, sowie der klassischen Literatur und Philosophie entnimmt, in seinem Essay zum Dionysos-Mythos entwickelt. Der Künstlermythos, der im späten 19. Jahrhundert politisch aufgeladen wurde und als Grundlegung eines politisch-irrationalistischen Führertums herhalten musste, habe sich damit von seinem romantisch-archaischen Ursprung weg entwickelt. Die Politisierung erscheint so nicht, wie hierzulande häufig zu lesen, als dessen logische Fortentwicklung. Die moderne polnische Literatur, so Glowinski, habe sich jedenfalls von Dionysos verabschiedet, als die herbeigeschrieenen Führer in der Wirklichkeit aufgetaucht seien. In anderen Teilen Europas musste man darauf länger warten.
Glowinski schreibt, trotz der Verknüpfung von politischen, kulturellen und literarischen Aspekten, gelassen, unspektakulär. Das bringt ihm die Ruhe ein, Gedankengänge sorgfältig darzulegen, führt aber auch zu überraschenden Ergebnissen. So etwa im ausführlichsten der Essays, der dem Mythos des Labyrinths gilt. Es wird hier, deutlicher als üblich, von seinen Protagonisten getrennt betrachtet. Glowinski gewinnt dadurch einen freieren Blick auf seinen Gegenstand. Ungewöhnlich etwa der Gedanke vom Labyrinth als verwirrender, aber auch „tröstlicher Gegenwelt zur Natur”, den Glowinski bei Nobelpreisträger Czeslaw Milosz findet. Gerade das Labyrinth der Stadt sei immerhin menschengemacht.
Ergänzend dazu lesen sich Überlegungen zum Labyrinth der Zeit, das vor allem durch die vage Grenze zwischen „subjektiver” und „objektiver” Zeit entstehe. Eine Krise des aufrechten Grundmodells erlebt der Mensch, der sich in seinem Lebenslauf verliert. Er weiß nicht mehr, wie er die Welt und sich in ihr ordnen soll. Zugleich ist er der unsichere Greis, der nicht mehr viel, und ein scheues Kind, das noch zu wenig kann.
HANS-PETER KUNISCH
MICHAL GLOWINSKI: Mythen in Verkleidung. Dionysos, Narziß, Prometheus, Marcholt, Labyrinth. Aus dem Polnischen von Jan Conrad. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 306 Seiten, 22, 90 Euro.
Der Hofzwerg zwischen König Salomo und der Königin von Saba. Detail des Gemäldes „Die Königin von Saba” aus der Schule von Giambattista Tiepolo (1696-1770) im Dogenpalast zu Venedig.
Foto: akg-images
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Erfreut zeigt sich Hans Peter Kunisch, dass Suhrkamp es nicht bei Michael Glowinskis Zeitzeugen-Essays "Eine Madeleine aus Schwarzbrot" beließ, sondern nunmehr auch die kulturwissenschaftlichen Arbeiten ins Deutsche übertragen hat. Und die, so Kunisch, seien "gelassen, unspektakulär" geschrieben und ließen dem Autor die Ruhe, "Gedankengänge sorgfältig dazulegen". Einiges liege erfrischend quer zu gängigen Interpretationsmustern wie Glowinskis Überlegungen zum Begriff des Labyrinths. Und auch Dionysos bekommt aus der osteuropäischen Perspektive einen anderen Klang: Der übersteigerte Künstlermythos müsse sich eben nicht zwangsläufig zu einem "politisch-irrationalistischen Führertum" fortentwickeln, referiert Kunisch: Als die "herbeigeschrieenen Führer in Wirklichkeit auftauchten", habe sich die moderne polnische Literatur von Dionysos verabschiedet - lange vor einigen ihrer westlichen Schwestern.

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