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Momma, Poppa, Bruder, Schwester. Sie packen alles ins Auto, was sie mitnehmen können, legen das tote Baby in eine Spielzeugkiste in den Kofferraum. Sie verlassen Mineola in Texas, eilen und irren durch die offenen Weiten Amerikas nach Gaylord in Michigan, zu Bompa. An jedem Ort, den sie durchqueren, verkaufen sie etwas von dem, was ihnen geblieben ist - die Basketballausrüstung des Sohns, die Kette der Tochter, Mutters Hochzeitskleid, Vaters Taschenuhr: Sie fahren weiter und weiter und müssen doch bei sich selbst und ihren ungetrösteten Gefühlen bleiben. Michael Kimballs aufsehenerreges Debüt…mehr

Produktbeschreibung
Momma, Poppa, Bruder, Schwester. Sie packen alles ins Auto, was sie mitnehmen können, legen das tote Baby in eine Spielzeugkiste in den Kofferraum. Sie verlassen Mineola in Texas, eilen und irren durch die offenen Weiten Amerikas nach Gaylord in Michigan, zu Bompa. An jedem Ort, den sie durchqueren, verkaufen sie etwas von dem, was ihnen geblieben ist - die Basketballausrüstung des Sohns, die Kette der Tochter, Mutters Hochzeitskleid, Vaters Taschenuhr: Sie fahren weiter und weiter und müssen doch bei sich selbst und ihren ungetrösteten Gefühlen bleiben. Michael Kimballs aufsehenerreges Debüt ist die Geschichte dieser Reise, abwechselnd aus der Sicht der beiden Kinder erzählt. Das kleine Mädchen und sein kaum älterer Bruder versuchen, sich in dem Unglück, das sie umgibt, zurechtzufinden, zu verstehen, was der Tod ihres Geschwisters bedeutet: sie, indem sie mit ihrer Puppen-Familie die Trauer-Landschaft nachstellt, er, indem er die geographische Bewegung protokolliert und den Verlust i nventarisiert. Kimball wagt eine experimentelle Sprache für eine tragische Geschichte und läßt in den scheinbar unbedarften und zugleich gnadenlosen Kinderstimmen die Verstörung, die diese Familie umtreibt, auf ergreife Weise deutlich werden. Ein kurzes Buch mit langem Nachhall. "Amerika wird leerer, je weiter man nach oben geht. Unser Auto wurde leerer und unsere Familie auch. Aber wir waren immer noch nicht ganz da. Es ist so weit weg, wegzugehen, aber wir konnten noch nicht damit aufhören."
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2002

Wenn Worte laufen lernen
Kinderleiche im Kofferraum: Michael Kimballs Babysprachreise

Die Vergänglichkeit ist ein Rätsel, vor dem Erwachsene wie Kinder stehen. Deshalb läßt sich Gottfried Kellers Erzählung, wie Vrenchen und Sali in "Romeo und Julia auf dem Dorfe" eine Puppe auseinandernehmen, nur mit angehaltenem Atem lesen. Die Mischung aus Ehrfurcht und rabiater Forscherlust, mit der sie ans Werk gehen, sagt so viel über die paradoxe Conditio humana, daß Kellers literarischer Arabeske auch heute, in der Epoche der Embryonenwissenschaft, nichts hinzuzufügen ist.

Der Amerikaner Michael Kimball hat in seinem Roman "Eine Familie verschwindet" dasselbe Motiv gewählt. Ein namenloses Schwester-und-Bruder-Paar berichtet von der Auflösung seines Familienglücks, das zu verschwinden beginnt, als der kleine Bruder stirbt. Die untröstlichen Eltern lassen die Knabenleiche präparieren oder wie immer man es nennen soll, wenn das Körperinnere mit Schläuchen herausgesogen und durch Watte und Papier ersetzt wird. Mit dem toten Brüderchen im Kofferraum macht die Familie sich auf zu einer Person namens "Bompa", über die man nichts Näheres erfährt. In ritueller Façon geben Vater und Mutter von Stopp zu Stopp mehr von ihrem Eigentum weg und füttern mit dem mageren Erlös den Benzintank.

Es ist nicht klar, ob die Eltern einfach verrückt oder nur verrückt vor Kummer sind, jedenfalls spricht die zunehmende Verwahrlosung für einen starken Hang zur Selbstzerstörung. Daß die Kinder in dieser makabren Road-Story sich selbst überlassen sind, macht Kimball durch eine extreme Stilentscheidung deutlich: Er läßt sie in einer Privatsprache sprechen, die aus einer seltsamen Mischung von gewöhnlicher Rede in normalem Satzbau und kindlichen Umständlichkeiten und Worterfindungen zusammengebraut ist: "Noch ein anderer Mann drückte auf einen Knopf, der Licht aufblitzen ließ, das einem in den Augen brannte, er machte es aber nicht so heiß, daß wir innen verbrannten. Das blitzende Licht machte Anguck-Bilder von meinem kleinen Bruder auf Mommas Schoß, und so ging es auch, Babys zum Lebendig hin gehen zu lassen." Es ist nicht einzusehen, warum Mama und Papa in der deutschen Übersetzung "Momma" und "Poppa" heißen müssen, doch das ist noch das kleinste der Leseprobleme.

Wenn stolze Eltern beglückt die skurrilen Sprachschöpfungen ihrer Jüngsten entziffern, erliegen sie dem lebendigen Charme der sich entfaltenden Intelligenz und erfahren aufs neue den Zauber eines von Gewöhnung unabgenutzten Blicks auf die Dinge. Kimballs Protagonisten empfehlen sich nur durch ihre Sprachdrechseleien, und die sind, gelinde gesprochen, eine Zumutung. Es fällt schwer, in dem Potpourri aus Sinn und Unsinn die Poesie laufen lernender Worte auszumachen. Das Buch ist vielmehr eine schwerfällige Erzählung, in der sich ein Erwachsener - mit dem Gertrude-Stein-Sound im Ohr - ausmalt, wie Kinder sprechen würden.

Wider besseres Wissen zwingt er seine Leser, die traurigen Episoden der Reise durch die verzerrte Brille einer zweifelhaften Sprachakrobatik wahrzunehmen, in der sich Ungereimtheiten häufen. So weiß der Bruder genau, was das "Kirchenkleid" seiner Schwester ist, muß aber den Pastor bei einem Kirchenbesuch hilflos umschreiben. Ein anderes Mal inspiziert das kleine Mädchen den Leib ihrer aufs neue schwangeren Mutter: "Momma zog ihre Unterwäsche aus, strich ihr Haar zurück und zeigte mir ihr Loch, wo das Baby herauskommen würde." Da die Familie kein Dach über dem Kopf hat und im Auto übernachtet, fragt sich, wo diese intime anatomische Lektion stattgefunden haben könnte, in der Autobahnraststätte vielleicht? Und während das Mädchen mühelos mit Wörtern wie "schlafwandeln", "Babyshorts" und "Werkzeuge" umgeht, fehlt ihr ausgerechnet die Bezeichnung für das wichtigste Instrument unterwegs, die Straßenkarte. Sie ist in Kimballs "Baby-Speak" ein "zusammengefaltetes Papier mit Linien und Punkten und Namen für Orte darauf".

Der Autor zwingt Unvereinbares zusammen: Die mutmaßlichen Selbstgespräche verstörter Kinder werden einem epischen Format unterworfen, das seiner Natur nach dazu dient, auf einen Punkt hin zu erzählen. Doch sowenig die Autoreise einen Zweck erkennen läßt, so erfahrungslos und lernunfähig bleiben Sohn und Tochter. Immer wieder zerren sie die verrottende Bruderleiche aus ihrer Kiste: "Wir spielten mit der Puppe von meinem kleinen Bruder, um das Spiel und das Tot-Sein und die Puppe ganz aus ihm herauszubekommen, damit er mit uns zu Klein-Mensch und uns und Groß-Mensch weitergehen konnte." Das verstehe, wer will. Vrenchen und Sali, die gewiß aus ebenso zerrütteten Familien stammen, begraben die Puppe nach zwei Seiten und machen sich daran, das Geheimnis des Lebens in anderen Formen zu suchen. Kimballs Roman ist eine Totgeburt. In ihm gibt es nichts zu finden.

INGEBORG HARMS

Michael Kimball: "Eine Familie verschwindet". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitte Heinrich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 147 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ingeborg Harms lässt an Michael Kimballs "makabrer Road-Story", in der eine kleine Familie mit der präparierten Leiche ihres verstorben Sohnes bzw. Bruders im Kofferraum Amerika durchquert, kein gutes Haar. Wie Harms ausführt, erzählt Kimball die Geschichte aus der Perspektive des namenlosen Schwester-und-Bruder-Paares in einer Art Privatsprache, einer "seltsamen Mischung" von gewöhnlicher Rede in normalem Satzbau und kindlichen Umständlichkeiten und Worterfindungen. Das empfindet Harms schlicht als "Zumutung". Denn Kimballs "Sprachdrechseleien" haben für sie nichts mit einer kindlichen Sprache zu tun. "Das Buch", echauffiert sich die Rezensentin, "ist vielmehr eine schwerfällige Erzählung, in der sich ein Erwachsener - mit dem Gertrude-Stein-Sound im Ohr - ausmalt, wie Kinder sprechen würden". Wider besseres Wissen zwinge Kimball seine Leser, "die traurigen Episoden der Reise durch die verzerrte Brille einer zweifelhaften Sprachakrobatik wahrzunehmen". Was das ganze Buch soll, ist der Rezensentin eh nicht so klar. Eins ist für sie allerdings sicher: "Kimballs Roman ist eine Totgeburt."

© Perlentaucher Medien GmbH