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Pawel, ein junger Geschäftsmann, der es zu einem bescheidenen Textilhandel gebracht hat, erwacht in einer Trümmerlandschaft. Der Spiegel im Bad ist zerschlagen, Tuben, Bürsten und Fläschchen liegen auf dem Boden, Kleider sind aus dem Schrank gerissen. Er verlässt seine Wohnung und fährt durch Warschau, getrieben von Unruhe und Angst. Er hat Schulden, man ist ihm auf den Fersen, er braucht Geld. Ein Freund, Jacek, an den er sich um Hilfe wendet, entgeht knapp einem Überfall und ist ebenfalls auf der Flucht.
Stasiuk erzählt diese Geschichte aus dem kriminellen Milieu so unspektakulär wie
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Produktbeschreibung
Pawel, ein junger Geschäftsmann, der es zu einem bescheidenen Textilhandel gebracht hat, erwacht in einer Trümmerlandschaft. Der Spiegel im Bad ist zerschlagen, Tuben, Bürsten und Fläschchen liegen auf dem Boden, Kleider sind aus dem Schrank gerissen. Er verlässt seine Wohnung und fährt durch Warschau, getrieben von Unruhe und Angst. Er hat Schulden, man ist ihm auf den Fersen, er braucht Geld. Ein Freund, Jacek, an den er sich um Hilfe wendet, entgeht knapp einem Überfall und ist ebenfalls auf der Flucht.

Stasiuk erzählt diese Geschichte aus dem kriminellen Milieu so unspektakulär wie beklemmend. Ohne Kommentare, präzise wie ein allgegenwärtiges Kameraauge, begleitet er seine Protagonisten von Schauplatz zu Schauplatz: über Bahnhöfe und Magistralen, durch Industriebrachen und Hotelruinen, wilde Gärten und aufgeweichte Lehmwege, heruntergekommene Innenhöfe und schließlich auf die Dächer hoch über der Marszalkowska, wo die Verfolgungsjagd endet. Sein multipler Erzähler lauscht den temzügen der Großstadt, belauert sie wie ein Lebewesen, spürt dem Vergehen der Zeit nach und wird Zeuge eines Mordes.
Nach "Der weiße Rabe" und "Die Welt hinter Dukla" hat Stasiuk in seinem neuen Buch - es ist sein neuntes - die poetische Ausmessung der heutigen polnischen Wirklichkeit weitergetrieben. Hinter allem, was geschieht, wartet der Stillstand. Das träumerische Wissen um die Vergeblichkeit jeder Fluchtbewegung gibt dem Roman seinen eigentümlichen Zauber.

Autorenporträt
Stasiuk, AndrzejAndrzej Stasiuk, der in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor gilt, wurde 1960 in Warschau geboren, debütierte 1992 mit dem Erzählband Mury Hebronu (Die Mauer von Hebron), in dem er über seine Gewalterfahrung im Gefängnis schreibt. Stasiuk wurde 1980 zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte seine Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen. 1986 zog er nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden.1994 erschienen Wiersze milosne i nie (Nicht nur Liebesgedichte), 1995 Opowiesci Galicyjskie (Galizische Erzählungen) und Bialy Kruk (Der weiße Rabe; 1998 bei Rowohlt Berlin), 1996 der Erzählband Przez rzeke (Über den Fluss; diesem Band ist Die Reise entnommen) und 1997 Dukla.2002 erhält er den von den Partnerstädten Thorn (Polen) und Göttingen gemeinsam gestifteten Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis. Den literarischen Jahrespreis Nike erhielt Andrzej Stasiuk 2005 für sein Buch Unterwegs nach Babadag. Sein vielfach ausgezeichnetes Werk erscheint

in 30 Ländern. 2016 wurde er mit dem Staatspreis für europäische Literatur 2016 ausgezeichnet.

Schmidgall, RenateRenate Schmidgall, geboren am 26. März 1955 in Heilbronn, ist deutsche Übersetzerin polnischer Literatur und lebt in Darmstadt. Sie studierte Slawistik und Germanistik in Heidelberg und war anschließend als Bibliothekarin am Deutschen Polen-Institut beschäftigt. Von 1990 bis 1996 arbeitete sie dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Seither ist sie als freie Übersetzerin tätig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Schwarzfahren auf dem Kreuzweg
Die Welt vor Dukla: Andrzej Stasiuks Busstationendrama / Von Eberhard Rathgeb

Manche meinen, der Osten bebt. Blödsinn: Er lebt in Nöten. Gibt es keinen Ausweg als den Westen? Andrzej Stasiuk wußte einmal einen kleinen. Er war in frühen Jahren ein polnischer Punk. Dann wurde er ein Dichter. Das ist hart, aber romantisch. Er wurde 1960 geboren und wuchs in Warschau auf. Was das mit seiner Karriere als Schriftsteller zu tun hat, kann man in seinem Buch "Wie ich Schriftsteller wurde" (F.A.Z. vom 9. Oktober 2001) nachlesen. Stasiuk lebt seit 1986 in einem Dorf in den Beskiden, hackt Holz und schreibt. Sein neuer Roman heißt "Neun". Es ist sein neunter. Die Leute auf dem Dorf nennen die Dinge beim Namen.

Die Leute in der Stadt sind komplizierter: In dem Roman kreuzen und verheddern sich die Lebensläufe von neun Menschen. Da sind: 1. Pawel, der trübe Geschäfte ohne Glück macht, 2. der kleine Dealer Jacek, 3. der große Dealer und Fettwanst Bolek mit seinem Kampfhund, 4. der Blonde, ein Schläger, 5. Packer, harmlos, 6. Boleks Betthase Syl, blond und jung, 7. die reife Prostituierte Irina, Boleks Traum, 8. Zosia, die Verkäuferin in Pawels Laden, sie lebt mit ihrem Kater zusammen, 9. Beata, Jaceks esoterische Freundin.

Vor zwei Jahren konnte man zum ersten Mal auf deutsch ein polnisches Wunder betrachten: Stasiuks Roman "Die Welt hinter Dukla". Mit "Neun" kehrt er nun in die Welt vor Dukla zurück. Hinter Dukla begann die Poesie fern der großen Städte. Stasiuk ging dort in den Ding-Gottesdienst des Ostens und wurde fündig. Er entdeckte das transzendentale Obdachlosenheim des Himmels und verwandelte den kleinen harten Flecken Erde darunter in einen Flohmarkt der Dinge, die an die Menschen erinnern: Alles bekam einen antiquarischen und also auch zukünftigen Wert, und wenn es nur Dosen und Plastikteile waren. Mit "Neun" geht Stasiuk in die Stadt, aus der er kommt, zurück. Das Buch ist Teil einer Erkundung des Ostens. Stasiuk ist nicht wehmütig, sondern wirklichkeitssüchtig. Er könnte den Osten hassen. Denn der Osten hat ihm das Leben schwergemacht. Aber er gibt den Osten nicht preis. Im Gegenteil: Leicht sei, so müssen wir Stasiuk verstehen, für lebendige Menschen gar nichts, nur der schnelle Tod.

Neun Menschen sitzen in ihrer Wohnung in Warschau, und die Geschäfte und der Zufall bringen sie zusammen. Nicht alle kommen mit heiler Haut davon. Stasiuk erzählt im ständigen Wechsel der Perspektiven. Pawel hat Schulden und wird deswegen verfolgt. Jacek dealt im falschen Revier und flüchtet vor Bolek und dem Blonden. Beata träumt. Bolek wirft Syl mit Packers Hilfe aus seiner Wohnung und rast in seinem BMW zur dunklen Irina, damit sie sein werde.

Nachdem er alle Farben und Stimmungen des Himmels über Warschau, wie es der Westler, der nur in die putzige Altstadt rennt, nicht kennt, beschrieben und nachdem er wahrscheinlich alle grauen und gruseligen Vororte und alle Straßenbahnlinien, die eisernen Schicksalslinien der Stadt, erwähnt hat, muß sich Stasiuk gesagt haben: Jetzt ist aber mal Schluß. Der Blonde nimmt Beata in die Mangel, was sie nicht überlebt. Pawel und Jacek rennen über die Dächer davon und kommen nicht wieder runter, weil sie keine Dachluke finden, die offensteht. Syl landet wieder im Hinterhof bei ihren Eltern, wo Katzen an Teppichstangen festgeknotet werden und Jugendlichen als strampelnder Zielkörper für ihre Luftpistolenübungen dienen. Packer geht einfach um die Ecke davon. Boleks rasanter BMW stößt auf einem Zebrastreifen mit Zosia und ihrem Kater zusammen. Irina ahnt davon nichts. Warschau ist groß, und jede Geschichte ist klein, wenn man sie dagegenhält. Das Leben rückt nur einige Felder weiter, und die Helden muß man deswegen nicht bis zu ihrem Tod begleiten. Alles ist schon jetzt gesagt.

Die neun Menschen könnten aus Becketts Schlußlichtphantasien stammen. Für sie gab es nie einen Anfang. Ein Ende werden sie genau deswegen auch rasch genug finden. Die einzelnen Szenen gleichen den Scheiben eines Gnadenbrotes, die ihnen zugeschoben werden, bevor sie entweder durch Totschlag oder durch irgendeine Katastrophe oder im stinknormalen Elend aus ihrem Lebenskurzlauf kippen. Stasiuk bricht seinen Roman "Neun" einfach ab, als die Aussichten über Warschau richtig trübe geworden sind und sich keiner mehr etwas vormachen kann.

Sieht es über Berlin besser aus? Stasiuk verliert, wenn er schreibt, den Überblick nicht. Er teilt überlegt aus. Soll nur einer denken, im Westen sei es für einen Polen besser. Dieser Überheblichkeit haut Stasiuk präventiv eine runter. Anders kann man nicht erklären, daß Pawel sich an einen Aufenthalt in Berlin nach der Vereinigung erinnert: dumpfe Fahrten in der Untergrundbahn. Deprimierende nächtliche Gänge über den Ku'damm. Eine große Scham über die eigenen abgewetzten Schuhe. Die kalte Aussicht, keine Bleibe für die Nacht zu haben.

Stasiuks Roman spielt am Ende der neunziger Jahre. In der neuen Gesellschaft stehen die Menschen vor zwei Alternativen: Zu denen gehören, die in den Straßenbahnen sitzen, oder bei denen sein, die im Strom der Ankommenden und Abfahrenden untertauchen. Irgendwann einmal sind sie ausgestiegen, wie Pawel, der sich noch an die Arbeit in der Fabrik erinnern kann und an den ätzenden Geruch, den man von dort überallhin mitschleppte.

Der Dealer Bolek hatte es dagegen irgendwie, vor allem aber mit krimineller Konsequenz geschafft und ist jetzt frei und fährt einen tollen BMW. Mit dieser Westkutsche rast der kleine dicke König eine Frau, die nur unbehelligt in ihrem Zimmer und auf ihrer Arbeit überleben wollte, um und wahrscheinlich tot. Der Ostfahrer im Westauto überrollt die letzte unbedarfte Seele Warschaus.

Der Schluß ist der Anfang. Es hat aufgehört zu regnen. Wir können uns gut vorstellen: An der letzten Bushaltestelle steht Stasiuk und raucht, trinkt ein Bier nach dem anderen und läßt nun, bissig und ironisch und bierernst wie er ist, wen auftreten? Einen Pfarrer. Der findet den lädierten Kater, das Tier. Und um den Sack voll zu machen, lautet der letzte Satz: "Er nahm es behutsam auf den Arm, hob seine Tasche wieder auf und ging zur Kirche zurück."

Der Gottesmann ist ein heiliger Christopherus der Opfer der westlichen Beschleunigung. Von der Kirche aus gesehen, werden die Haltestellen der Straßenbahnen und Busse zu Stationen eines Kreuzweges, den man zu gehen hat, außer man ist ein Punk und fährt schwarz. Aber diese Zeiten sind vorbei.

Andrzej Stasiuk: "Neun". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 320 S., geb., 22,90 .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.04.2002

Die Welt sauste pfeifend durch seinen Kopf
Drei Ganoven, zwei Schergen, vier Frauen und ein BMW: In Andrzej Stasiuks Roman „Neun” liegt Polen jenseits von Eden
Wer dieses Buch gelesen hat, dem ist am Rand von Warschau keine Straßenbahn und kein Nachtbus, kein Kiosk und kein Basar mehr fremd. Mit heiligem Eifer gibt sich Andrzej Stasiuk in seinem neunten Roman „Neun” der Aufzählung von ‚Non-Lieus‘ hin, von Orten, die auch die dort Ansässigen fast nur vom Fliehen kennen. „Die ersten Nachtbusse starteten, ihre Dieselmotoren grölten”, und ihre Insassen jagen darin dichtgedrängt wie Gefangene „zu den fernen Hügeln von Natolin; Wawrzyszew, Targówek und Kabaty.” 601 heißen diese Busse, 602 und 605, und so etwas ist wichtig in diesem Roman, weil sich Stasiuk in diesen räudigen Weltausschnitt verbissen hat wie ein Tier in seine Beute. Es gibt keine Einzelheit aus dem mehr oder minder tristen Alltag von Pawel, Jacek und Bolek, die uns der Autor verschwiege. Wer so gebannt aufs Kleinste starrt, will in der Regel aufs große Ganze hinaus.
In Stasiuks Warschauer Stadtrand-Mikrokosmos spiegeln sich polnische Zustände, zehn (oder neun?) Jahre nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, Zustände, die man heillos nennen kann oder auch ganz normal. Einmal erinnert sich Pawel, einer aus Stasiuks Ganovenreigen, an die Kindheit, eine Zeit, „als es noch niemandem in den Sinn kam, daß die Wirtschaft die Welt erlösen könnte”. Ein dann und wann im Text auftauchender Priester erinnert an die ferne Zeit, in der für Erlösungsfragen noch die Kirche zuständig war. Nun hat sie alle Sinnfragen an eine Wirtschaft abgetreten, die dort am Stadtrand im Schatten zwischen Kiosken und Basaren blüht und Leute wie Pawel, Jacek und Bolek je nach Glück und Talenten mal besser, mal schlechter nährt.
„Cool Water” unter der Achsel
„Zur selben Zeit”, das ist die Erkennungsmelodie dieses Romans. „Zur selben Zeit” heißt es fast mechanisch am Beginn vieler Absätze. Zur selben Zeit passiert in Stasiuks genau beschrifteten Ödland alles mögliche. Der Erzähler nimmt mal diese, mal jene Spur auf, verlässt sie wieder und sieht den Figuren zu, wie sie sich in den ausgelegten Netzen verstricken. Wie ein Bohrkopf fräst sich seine Wahrnehmung durch die hypernervösen Gegenwarten der Figuren. Pawel, ein junger Businessman mit Schulden, findet eines Morgens seine Wohnung zertrümmert vor. Er bittet Bolek, den Dealer-König, um Geld, aber der will ihm keins geben. Dann sucht er Hilfe bei Jacek, einem kleinen Drogenhändler, der zu Boleks Ärger in seinem Revier tätig geworden ist. Mit Bolek ist nicht zu spaßen, er hat einen Kampfhund und zwei weitere Helfer, Packer und den „Blonden”. Bevor Bolek in inen BMW steigt, macht er sich erst einmal richtig frisch. „Er wischte sich mal von diesem Spiegel den Dampf ab und konnte sich nicht entschließen, welches Deo er sich unter die Achseln sprühen sollte.” Zuletzt entscheidet er sich für „elements” unter den rechten und „cool water” unter den linken Arm. In diesem kleinen Sittenbild, das von männlichen Ritualen (Wodka, Marlboro) dominiert wird, dürfen Frauen nicht fehlen. Bolek hat eine junge Blonde namens Syl zur Hausgenossin abgerichtet, träumt aber von den Reizen der erotisch erfahreneren Irina. Was Jacek angeht, so hat er Beata, seine Freundin, in die Geheimnisse der Esoterik eingeweiht, deren sie Pawel, in einer der komischsten Szenen des Romans, in einer Massage teilhaftig werden läßt. Der wiederum hat gerade nichts Konkretes am Laufen. Zosia, die Verkäuferin in seinem Laden, lebt allein mit ihrem Kater in einer Neubauwohnung und wird, wie es aussieht, am Ende des Romans von Boleks BMW überrollt. Drei Ganoven, zwei Schergen, vier Frauen: auch das macht neun.
„Neun” ist die atemberaubend unberührte Nahbeobachtung von Menschen, die es allesamt gar nicht wert scheinen, dass man literarisch in sie investiert. Haben sie Gefühle, poetische gar, haben sie irgendeinen Plan von ihrem Leben, lässt sich auch nur das geringste Quantum Sinn mit ihnen stiften? Eher schon ähneln sie leeren Zimmern, mit blätternden Tapeten, durch die der Durchzug bläst. „Die Welt sauste pfeifend durch seinen Kopf”, heißt es einmal, zufällig über Jacek, „aber sie weckte keine Hoffnungen und rief keine Erinnerungen hervor. Der Inhalt stammte ausschließlich aus der Gegenwart und war mit dem identisch, was die Sinne registrierten. Die Dinge schienen keinerlei Konsequenzen zu haben, keinerlei Fortsetzungen, wie eine Fernsehsendung, die aus Bildern besteht und mehr nicht.”
Genau so ist dieser Roman gemacht. Stasiuk ist ein Sensualist, der sein Kameraauge unverwandt auf alles richtet, was da kreucht und fleucht. Unverkennbar hält er aber auch das Totalregime der Gegenwart für eine Deformation. Sehnt er sich womöglich nach einer Welt, die Hoffnungen und Erinnerungen kannte, deren Inhalt aus anderen Quellen stammte als aus dem nächsten Windzug der Gegenwart? Tagträumt er wie manchmal seine Figuren von der Zeit, als es noch niemandem in den Sinn kam, dass die Wirtschaft die Welt erlösen könnte? Einiges spricht dafür. Warum würde man als Sensualist sonst „das nervöse Licht der Neonlampen” kritisieren, das alle gleich macht. „Der tote Glanz drang wie Staub durch die Haut, fraß sich in Körper und Kleidung wie Gestank und Alter – kein bißchen Schatten, kein Mitleid.”
Der Roman ist durchsetzt von solchen Reflexionssplittern. Dauernd geht es darin um das derangierte Verhältnis der Figuren zur Zeit. Sie scheinen herausgekippt aus dem Raum-Zeit-Kontinuum, merkwürdige Mutanten, denen der Boden unter den Füßen und jede Zeit außer dem blanken Jetzt abhanden gekommen ist. Das Leben ist schwer beschädigt dort draußen am Stadtrand, aber soll daran wirklich nur der wilde polnische Kapitalismus schuld sein? „Der Mensch gibt den Dingen alles, aber sie lassen ihn immer allein”, solche Sätze haben nichts von der Abgebrühtheit der geschilderten Verhältnisse.
Man kann sie wohl als absurde Konfession des Autors begreifen. Ohne Schatten und ohne Mitleid, aller Vorstellungen beraubt und deshalb bis zur Heiterkeit banal, das ist die Welt von „Neun”. Ganz am Ende des Romans erscheint der Priester erneut, nimmt die knapp dem Unglück entronnene Katze „behutsam auf den Arm, hob seine Tasche wieder auf und ging zur Kirche zurück. ” Das ist die einzige behutsame Geste im ganzen Roman.
CHRISTOPH BARTMANN
ANDRZEJ STASIUK: Neun. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 298 Seiten, 22, 90 Euro.
Nur eines ist gewiss in Andrzej Stasiuks Roman: Das Leben ist in der Schräglage, und es hilft nichts, vom Lada auf einen BMW umzusteigen.
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Es klingt, als sei Rezensent Eberhard Rathgeb mit Stasiuks neuem Roman zwar ganz froh , aber nicht wirklich glücklich geworden. Mit seinem neunten Roman "Neun" ,so der Rezensent, kehre Stasiuk in die Welt "vor Dukla" zurück, womit der Roman gemeint ist, der den polnischen Autor vor zwei Jahren hierzulande recht bekannt gemacht hat. Damals begann, so Rathgeb, die Poesie "fern der großen Städte". Stasiuk habe das "transzendentale Obdachlosenheim" des Himmels entdeckt und "den kleinen harten Flecken Erde darunter" in einen "Flohmarkt der Dinge, die an Menschen erinnern" verwandelt. Im jüngsten Roman kehre er nun in die Stadt zurück. Die neun Menschen, die Rathgeb zufolge im Zentrum der Handlung stehen, könnten auch aus "Becketts Schlusslichtfantasien" stammen, lesen wir. Der Zufall bringe sie zusammen, ihre Lebenswege "kreuzen und verheddern" sich, nicht alle kommen mit heiler Haut davon. Das Buch sei Teil einer "Erkundung des Ostens", schreibt Rathgeb, und Stasiuk sei nicht wehmütig, sondern wirklichkeitssüchtig. Doch die Beschreibungen "aller Farben und Stimmungen des Himmels über Warschau" sowie aller "grauen und gruseligen Straßenbahnlinien", dieser "eisernen Schicksalslinien" der Stadt, inklusive trister Gänge über den Berliner Kurfürstendamm scheinen den Rezensenten am Ende deprimiert zu haben.

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