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"Auslöschung" ist Thomas Bernhards letzter großer Roman. Es ist die Niederschrift des Erzählers Franz-Josef Murau, der über den Ort seiner Herkunft schreibt, um ihn auszulöschen. Dieser Herkunftskomplex nimmt seinen Anfang in Schloß Wolfsegg. Das ist der Ort, wo Murau aufgewachsen ist, und den er endgültig verlassen und vergessen will. Er beginnt zu schreiben, um einen radikalen Kahlschlag zu vollenden. Der Akt des Schreibens wie auch der des Lesens wird zu einer "Expedition ins Unerforschte und ewig Unerforschliche unserer eigenen Natur"(FAZ).

Produktbeschreibung
"Auslöschung" ist Thomas Bernhards letzter großer Roman. Es ist die Niederschrift des Erzählers Franz-Josef Murau, der über den Ort seiner Herkunft schreibt, um ihn auszulöschen.
Dieser Herkunftskomplex nimmt seinen Anfang in Schloß Wolfsegg. Das ist der Ort, wo Murau aufgewachsen ist, und den er endgültig verlassen und vergessen will. Er beginnt zu schreiben, um einen radikalen Kahlschlag zu vollenden.
Der Akt des Schreibens wie auch der des Lesens wird zu einer "Expedition ins Unerforschte und ewig Unerforschliche unserer eigenen Natur"(FAZ).
Autorenporträt
Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2000

Rom: Ankunft der Schriftsteller im Wartesaal der Geschichte
Die ideale Welthauptstadt in den Augen von Wolfgang Koeppen, Marie Luise Kaschnitz, Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Bernhard und anderen

Als Berlin zerstört und Paris passé war und dort, wo der Rhein floss, tiefer denn je die Wunde klaffte, blieb eine Stadt bestehen: Rom, die "einzige", die "unentrinnbare", die "rettende", die "Erzstadt". Seit anderthalb Jahrtausenden lag sie in Ruinen und dauerte doch fort, stets zu Wiederaufbauten bereit wie nur eine Freud'sche Seele. "Rom ist noch da", sagte sich das reisende und schreibende Subjekt der Nachkriegszeit, "und wenn Rom fortdauert, dann müssen auch wir weiter bestehen." Während Paris, von Berlin vergewaltigt und dann von New York enteignet, abermals zum imaginären Ort melancholischer Reminiszenzen an die flüchtigen und unglücklichen Jugendlieben der Deutschen entrückte, konnte Rom, die Rivalin im Buhlen um die Antike der Moderne, ihre angestammte Position als ideale Welthauptstadt erneuern. Als wären sie von der Zeit und der Geschichte unberührt geblieben, ließen sich die Bindungen an die Ewige Stadt auch angesichts der zweiten Katastrophe wieder beleben und mit den erlittenen Zivilisationsschäden verrechnen.

Wilhelm Hausenstein, einer der künftigen Hauptvertreter der "inneren Emigration", hatte im Rom-Kapitel seiner "Europäischen Hauptstädte" von 1932 die Paradoxie der "unentrinnbaren Stadt" formuliert: Rom, das sei "schlichte Gegenwart vor unseren Augen, genau so, als gäbe es in der geschichtlichsten Stadt der Erde, in Rom, gerade in Rom, überhaupt keine Historie". An solch andauernder Gegenwart des Vergangenen, für die nichts in die düsteren Verliese des Vergangenen zurückgestürzt sei, ließ sich nach dem zweiten großen Krieg wieder anknüpfen. "Es ist noch alles da, die ganze funkelnde Schatzkammer des Gewesenen, alle Schauplätze gegenwärtigen Lebens sind noch da", so eröffnet Marie Luise Kaschnitz bei ihrer ersten Wiederbegegnung mit Rom im Jahre 1946 eine neue Folie auf der alten, zuletzt von den Protagonisten der Zwischenkriegszeit beschrifteten Unterlage. Auch die Kaschnitz zeichnet ihr "Hier bin ich", denn "ungetroffen von dem furchtbaren Schatten des Niewieder" steigen "die Bilder der Erinnerung" bei der Einfahrt in den Bahnhof auf: ",Roma Termini', Ende sehnsüchtiger Wanderschaft, Anfang und Ende einer Welt."

Die Nachkriegszeit währte lange, denn noch Mitte der fünfziger Jahre finden sich am Eingang von Wolfgang Koeppens Reiseessay "Neuer römischer Cicerone" die Worte: "Rom, sein Bahnhof, die Zivilisation empfangen dich wie ihren schon verloren geglaubten Sohn." Auch hier gerät die Ankunftsstation zum Schauplatz einer geglückten Heimkehr: Beim ersten Espresso auf der Bahnsteigterrasse darf der Reisende die alte arkadische Weise "Ich bin in Rom, ich bin in Rom" anstimmen und sich gerettet fühlen, auch wenn er seine Fahrt in Berlin, dem in Schutt und Asche versunkenen Vineta des zwanzigsten Jahrhunderts, angetreten hat. Während der Dauer seines Fernwehs hatten ihm dort Trakls Worte "In der zerstörten Stadt richtet die Nacht schwarze Zelte auf" in den Ohren geklungen und die als Kind betrachteten römischen Ruinenansichten eines Piranesi vor Augen gestanden. Steinalt und doch unverbraucht sind nur die originalen römischen Schauplätze: "An jedem Tag war die Stadt modern. Es ist kein Unterschied zwischen einst und jetzt."

Nach der Ankunft in Rom ist der inneren Einkehr kein Ort günstiger als der historische Übergang zwischen den profanen und sakralen Hälften der Doppelstadt: "Der erste Weg nach dem Beginn des Tagebuches: zum Tiber und über die alte römische Brücke auf die Engelsburg zu", heißt es in der 1955 unter dem Titel "Engelsbrücke" erschienenen Sammlung römischer Aufzeichnungen der Kaschnitz. Berninis verzückte Engel, die der Erzähler von Koeppens im Vorjahr erschienenem Roman "Der Tod in Rom" als Heilsboten begrüßt hatte - "ich freute mich, ich war frei" -, werden ob ihrer Passionswerkzeuge von Kaschnitz als "Spalier des Leidens" verzeichnet. Ein jeder, der unter ihrem Geleit die Brücke passiert, trägt vielleicht "ein Stück Passion in sich und weiß es oder weiß es nicht". Die Kaschnitz weiß es und weiß auch um die Quelle, denn beim Blick hinunter auf den Fluss beschreibt sie ein am Ufer anliegendes Baggerschiff, das - unausgesprochen zwar - einem Gemälde Max Beckmanns aus dem Frankfurter Städel mit der Ansicht des "Eisernen Stegs" über den Main entsprungen ist. An dessen Ufer hatte die Dichterin die längste Station ihrer inneren Emigration verbracht. Im bronzenen Gegenzug stößt der Würgeengel auf der alten "Blutburg" der Päpste sein Schwert so fest in die Scheide, als gelte es, "allen Kriegen und Schrecken der Neuzeit ein Ende zu setzen". Mit einem düsteren Bild überblendet auch Koeppens neuer Cicerone den Anblick der Tiber-Engel auf der von ihrer Flügelkraft gleichsam gehobenen Brücke: "Schnee fiel in die Nettelbeckstraße in Berlin. Es gibt sie nicht mehr. Ein Teppich aus schütterem Gras deckt die Gräber."

Roms exterritorialer Sonderstatus als Wartesaal im vorübergehend stillgelegten Weltgeschehen gründete auf einer langen Tradition und prädestinierte die Stadt länger als jede andere - wie Elena Croce, die Tochter des Philosophen, in ihrem Rückblick auf das alte, weltoffene Rom schreibt - zum "idealen Refugium für Künstler und Intellektuelle aus aller Welt". Schon im Zeitalter der Religionskriege war der in seinem Heimatland Frankreich gescheiterte Neutralitätspolitiker Michel de Montaigne, der aus "Unverträglichkeit mit unseren heutigen öffentlichen Sitten" abwechselnd in seiner Bibliothek und im feindlichen Ausland umherschweifte, in "die einzige allen gemeine, die einzige Weltstadt" aufgebrochen, um den Titel eines römischen Bürgers zu erlangen. In Rom, so registrierte der deutsche Reisende Karl Philipp Moritz bei seiner Ankunft im Jahr vor der Französischen Revolution, galt die Bezeichnung "Ausländer" (forestière) als "Ehrentitel". Von der Antike bis zur Nacht des 16. Oktober 1943, als die Exekutoren der "Endlösung" einfielen, beherbergte Rom die größte jüdische Diasporagemeinde der Alten Welt und blieb bis ins Achsenjahr 1938 einer der bevorzugten Exilorte für Flüchtlinge aus Deutschland.

Während des anhaltenden römischen Nachsommers der ausgehenden vierziger und fünfziger Jahre konnten in den Straßencafés der Stadt vormals innere Emigranten, wie die Kaschnitz, und auf Auslands- und Inlandsreisen Untergetauchte, wie Wolfgang Koeppen, den Angehörigen des äußeren Exils begegnen, die, wie Hermann Kesten, zu Daueremigranten geworden waren. Kesten, der seit der Nachkriegszeit abwechselnd in Rom und New York lebte, ging seinem Schreibhandwerk im Kaffeehaus nach, das ihm zur Heimat geworden war. In Rom schrieb er dort, wo in den Jahrhunderten vor dem Zeitalter der Bahnhöfe neben den Heeren der Krieger die Züge der Pilger und Reisenden aus dem europäischen Norden in die Stadt eingeströmt waren: in den Cafés auf der Piazza vor dem antiken Stadttor Porta del Popolo. An dieser Stelle war auch Goethe angekommen, und dort befand sich, wie Koeppen notierte, "schon am Anfang der Stadt ein Mittelpunkt".

"Ich schreibe diese Zeilen auf der Piazza del Popolo in Rom. Ich sitze vor dem Café Rosati", beginnt Kesten das Vorwort von 1959 zu seiner Literaturund Kulturgeschichte des europäischen Kaffeehauses. Die Schilderungen der kleinen Weltlokale gehen in Beschreibungen der Städte aus der Sicht des exilierten Kaffeehausgängers über. Dieser konnte seine Wahrnehmungen von innen nach außen und von außen nach innen wenden. Solche Zwischenräume lassen Übergänge zwischen Interieur und Exterieur zu und machen die Abstände zwischen privaten und öffentlichen Räumen durchlässig. Von Montaigne, dem Rom "die bequemste Stadt der Welt" war, bis zu Thomas Bernhard, der sie zum "heutigen Zentrum der Welt" erklärte, nährt sich davon die Überzeugung, nirgendwo anders als "in Rom zu Hause" zu sein.

Wer wie Kesten den im Kaffeehaus üblichen Müßiggang mit der Arbeit des Aufschreibens betrügt, dem gerät jedes Lokal urbis et orbis zum römischen Straßencafé und dem erscheint Rom als "ein einziges kontinuierliches Kaffeehaus". Aus versteinerten Erinnerungen gelöst, fließt die Poesie dort so unbeschwert wie das Wasser aus den Brunnen: "Bald wird es ein halbes Jahrhundert sein, daß ich in meinen Cafés sitze und schreibe. Ich sah die Fiebergespenster eines halben Jahrhunderts. Ich schrieb das Jahrhundert auf, ich schrieb es ab. Ich notierte alles und prophezeite die Zeit." Zwischen Kaffeehaus und Brunnen, zwischen Wasser und Stein, aus deren Vereinigung die urbs hervorgegangen ist, geht man in Rom "zwischen Jahrtausenden spazieren". Das Kaffeehaus der Ewigen Stadt ist der "Wartesaal der Poesie".

Die römische "Poesie des Urbanismus", deren sich Koeppens neuer Cicerone vergewisserte, blieb nicht unangefochten. Die Gebrauchsweisen, welche der metropolitane Verkehr und die Bodenspekulation von den römischen Straßen, Plätzen und Monumenten machten, ließen die Residuen für Einzelgänger schwinden. Nicht nur für Elena Croce, die mit der Ummöblierung der römischen Innenstadt in den sechziger und siebziger Jahren den Endpunkt des alten, kosmopolitischen Roms erreicht sah, sondern auch für ein Vechtaer Straßenkind wie Rolf Dieter Brinkmann stellte Rom seither keine hinreichenden Bewegungs-, Empfindungs- und Besinnungsräume mehr bereit. Ein Stipendium der Villa Massimo hatte Brinkmann in das Rom der frühen siebziger Jahre verschlagen, und wie ein Refrain durchzieht ein Satz das Buch "Rom Blicke", das seinem Weimarer Vorläufer in der Emphase des Sehens und in der Vielseitigkeit der Aufzeichnungsformen äußerer Eindrücke verbunden ist: ",Auch ich in Arkadien!' Göthe. Dieses Arkadien ist die reinste Lumpenschau."

Doch selbst beim Stolpern über Hundekot, Kondome, Coladosen und beim Durchstöbern der Abfälle der Geschichte vermag sich der sensible Insurgent wider das verhasste Bildungs-Rom dem Erinnerungs- und Vergegenwärtigungssog, der von den antiken wie modernen Trümmern der Stadt ausgeht, nicht zu entziehen: Berauscht durch die Lektüre von Hans Henny Jahnns "Aufzeichnungen eines Einzelgängers", macht Brinkmann sich auf den Weg zu einem nächtlichen Spaziergang durch die Stadt. Er berührt nicht nur die "Schrotthalde" des Forum Romanum, sondern betritt auch Michelangelos Kapitolsplatz, und wie fast alle Reisenden attestiert er ihm, "ein schöner, befreiender Platz" zu sein, "mit einem feinen Raumgefühl entworfen", das sich dem Passanten unmittelbar mitteile. Mehr noch wird ihm der Streifzug zum Anlass, alle "Orte, Städte" seines Lebens und "die Straßen, durch die ich bisher hindurchgegangen bin", im "spukhaften Gedächtnis" miteinander zu verdichten und sie in der Erinnerung an sich vorüberziehen zu lassen: "Ich dachte, daß ein starkes Empfinden der Gegenwärtigkeit, also der eigenen Anwesenheit hier in diesem Raum und in dieser Zeit und diesem Körper doch überhaupt kein Hinderungsgrund ist für eine etwas größere, träumerische Ansicht . . ."

Kein Rom-Reisender nach 1945 war Hausensteins Hymne auf die römische "Jetztzeit" und "Dichte" sowie Goethes mit der Einfahrt durch die Porta del Popolo besiegeltem "Eintritt in ein neues Leben" wieder so nahe gekommen wie Brinkmann auf seiner nächtlichen Promenade durch Rom. Die Erfahrung des Mangels erweckt erst die Sehnsucht, die schon immer nach Rom, zielte: "Ich dachte, daß ich immer bislang nach Augenblicken gesucht habe, die komprimiert sind, meinetwegen auch rauschhafte", genauer, "gesteigerte Augenblicke, nicht extensive, unhistorische, nicht logisch-geschichtliche, Wirklichkeit also, wie man vom Orientalen sagt, als Verdichtung in einem ewigen Augenblick, und nicht Wirklichkeit als Ausdehnung der Zeit ins Unendliche - da wird mir ja ganz übel . . ." Etwas vornehmer hatte Hausenstein geschrieben: "Der hat zu wenig von den Dingen, der sie im Raum der Geschichte erst perspektivisch unterbringen muß", statt sie "beisammen" zu sehen wie "eine einzige in sich selbst fortbewegte und wieder stillgestellte Stadt; ein einziger Text - zum Weiterlesen und zum Verweilen" - wie eben nur Rom oder wie Brinkmanns Rom-Buch.

Eine entscheidende Korrektur, die das vorige Jahrhundert in seiner zweiten Hälfte am Rom-Bild vornahm, bleibt festzuhalten, obgleich auch Brinkmann in der polemischen Schmäh auf Goethes Arkadienmotto dem Mythos von der Insel der Glückseligen nicht weniger als der Weimarer verhaftet ist. Auf seinen Wanderungen durch die urbanen Unterwelten erahnt er den unheimlichen Begleiter einer jeden Rom-Reise, den ungenannten Nachbarn am römischen Kaffeehaustisch und Herrn über Arkadien. Wer ist es, der sein pathoserfülltes "Ich bin da" am nachdrücklichsten ausspricht?

Seit Erwin Panofskys Untersuchung über das Arkadienthema in der bildenden Kunst weiß die Philologie, dass die Überlieferungsgeschichte des Motivs einer Bedeutungsverschiebung unterlag, die ein Missverständnis transportierte. In Wirklichkeit war das pastorale Bild der arkadischen Urlandschaft schon bei Vergil durch die allegorische Anwesenheit des Schnitters gebrochen. Grammatikalisch korrekt gelesen, bedeutet der Ausruf aller späteren Wahlrömer "Et in Arcadia Ego" nämlich nicht: "Auch ich bin in Arkadien (geboren oder wieder geboren)", sondern: "Auch (sogar) in Arkadien bin ich" - es ist der Tod, der so spricht. Goethe hatte das Motto seiner "Italienischen Reise" strategisch vor dem venezianischen Eingang und Wartesaal auf dem Weg zur ungeduldig erwarteten römischen Wiedergeburt angeheftet. Die erste Korrektur brachte an Ort und Stelle Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig" an, und im doppelten ironischen Reflex vollzog nach dem Zweiten Weltkrieg Wolfgang Koeppens "Der Tod in Rom" den nächsten Schritt. Dem Roman über die Deutschen, die von der Last ihrer Geschichte auch in Rom eingeholt werden, stellte er den Schlusssatz aus Manns Künstlernovelle als Motto voran: "Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode." Und er beschloss ihn mit einer sarkastischen Kolportage desselben Satzes: "Die Zeitungen meldeten noch am Abend Judejahns Tod, der durch die Umstände eine Weltnachricht geworden war, die aber niemand erschütterte."

Alle Aporien und Paradoxien um die Ewige Stadt führt Thomas Bernhards letzter Roman "Auslöschung" ihrer Auflösung zu. Bernhard folgt Kaschnitz, Kesten, Koeppen und allen früheren Deutschrömern auf die originären topographischen Schauplätze und stellt zwischen ihnen die angestammten Beziehungen wieder her. Die erzählten römischen Dialoge finden abwechselnd im Café "im Freien auf der Piazza del Popolo" und im Gehen, Schlendern und Promenieren zwischen dem benachbarten Hügel des Pincio und der zu Füßen liegenden antiken Via Flaminia statt. Auf der noch aus der Antike stammenden Fernstraße, die von der Porta del Popolo über die Milvische Brücke nach dem europäischen Norden führte, waren seit dem Mittelalter die Pilger und ihre säkularen Nachfahren in Rom eingezogen. Über ihre diesseitige, innerstädtische Verlängerung, den Corso, auf dem Goethe wohnte, gelangt der Erzähler Murau zu seiner Wohnung, mitten im Herzen der Stadt, auf der Piazza Minerva beim Pantheon, wo Koeppens Roman seinen Auftakt hatte. Dort ist Muraus zurückgezogener Ort der Besinnung, und von dort nimmt er stets Fensterschau hinunter auf die Piazza und hinüber zum Pantheon.

Von Montaigne, über den Murau räsoniert, ist das Motto am Eingang des Romans entlehnt, eine Variante des "Auch ich in Arkadien", aber grammatikalisch korrekt aufgefasst: "Ich fühle, wie der Tod mich beständig in seinen Klauen hat. Wie ich mich auch verhalte, er ist überall da." Murau, "geboren 1934 in Wolfsegg, gestorben 1983 in Rom", wie es am Ende des Romans in einer Parenthese heißt, war aus einem mitteleuropäischen Unort nach Rom entflohen. Dort stellt sich ihm nach der Ankunft, beim "ersten Augenblick" vom offenen Fenster seines Hotels auf die Stadt, das Gefühl ein, "gerettet" und "ein neuer Mensch geworden" zu sein. Als Wolfsegg ihn dennoch einholt, gerät ihm Rom zur idealen Schreibfläche für das Vorhaben einer "Auslöschung" der Vergangenheit in Form eines gleichnamigen Romans, in dem "alles, das in dieser Auslöschung niedergeschrieben ist", mitsamt seinem Erzähler, "ausgelöscht" wird: "Und das, was ich zu Papier bringe, ist das Ausgelöschte." Am Ende von Thomas Bernhards Roman ist auch Muraus Vorhaben vollendet, die "Auslöschung" ist geschrieben.

Muraus römisches Projekt, das "Alte auflösen, um es am Ende ganz und gar auslöschen zu können für das Neue", erinnert an die Wirkungen jener handelsüblichen Dauerschreibtafel, deren durchsichtige Oberflächenfolie eine räumlich begrenzte Menge von Zeichen aufzunehmen fähig ist, während nur ein Handgriff genügt, um die Schrift zum Verschwinden zu bringen und die Oberfläche für neue Aufzeichnungen empfänglich zu machen. Hingegen bleiben die Spuren aller Schriften als Abdrücke auf der Wachsschicht erhalten und vermischen sich miteinander. Sigmund Freud lieferte dieser "Wunderblock" - so wie an anderer Stelle seines Werk nur die "Roma quadrata", die archaische Gründungssiedlung auf dem Hügel Palatin - ein anschauliches Modell für den menschlichen Seelenapparat.

Unter dem Stichwort "Rumpelstilzchen" meditierte auch Marie Luise Kaschnitz in ihren "Römischen Betrachtungen" über den Zauber jenes kleinen Geräts, die zuvor "in die weiche Fläche eingegrabene Schrift auslöschen" zu können. Die Dichterin nahm es als ein poetisches Modell für den "Urvorgang des Erkennens" und den Vorgang den Schreibens, vergleichbar solchen Formen der "Entfernung aus dem Gewohnten" wie dem Schlaf, dem Blick aus dem Fenster eines fahrenden Zugs, der "Lage des Nichtmehrhierund Nochnichtdortseins" im Reiseabteil oder der "Rumpelstilzchen-Anonymität" inmitten eines lärmenden Kaffeehauses - Orte und Zustände, die "ein Stück neue Geburt, Ausgesetztheit, Nacktheit" ermöglichten, ohne die es unmöglich sei, "auch nur einen Zeitungsartikel zu schreiben". Von solcher Natur ist auch Thomas Bernhards römische "Auslöschung", und von solcher Art ist Rom, auslöschbar, wie seine Gesteinsschichten bezeugen, doch stets zu neuen Aufbauten fähig, und ewig wie die Schrift, die die Griechen "graphein" nannten - etymologisch verwandt mit dem Graben, jener römischen Urbetätigung, und mit dem Grab, dem Grab der Auferstehung.

VOLKER BREIDECKER

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Franz Schuh ist ganz einer Meinung mit George Steiner: Thomas Bernhard gehört zu den "großen Stimmen" der Kultur, nach denen man heute vergeblich sucht. Er empfiehlt jedem als Einstieg Bernhards "Auslöschung - Ein Zerfall", dessen Erzähler Franz-Josef Murau ein klassisches modernes Individuum sei: "gereizt, ständig in Ambivalenzen verstrickt". Ganz gegen den Trend jeder Kirchentagsduselei will dieser Erzähler seine Wurzeln nicht suchen, sondern auslöschen. Zentrales Thema dieses Buchs ist für Schuh die Geistlosigkeit österreichischer Eliten, die jeden denkenden Menschen, und stammt er auch aus der eigenen Familie, zum Außenseiter abstempelt.

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