Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 22,90 €
  • Broschiertes Buch

Für das Verständnis der Geschichte der Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert ist es unabdingbar, die Debatten und institutionellen Strukturen zu rekonstruieren, die das Fach geprägt haben. Für Deutschland, das in diesem "langen Jahrhundert" sechs Herrschaftssysteme erlebt hat, gilt dies ganz besonders. Uta Gerhardt zeigt eindrucksvoll, wie man eine Geschichte der Soziologie als Gesellschaftsgeschichte schreiben muss. In sechs chronologisch geordneten Studien werden Bruchlinien, Anschlußstellen und Widersprüche der Fachgeschichte beleuchtet. Zunächst die Abkehr vom Sozialdarwinismus, die…mehr

Produktbeschreibung
Für das Verständnis der Geschichte der Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert ist es unabdingbar, die Debatten und institutionellen Strukturen zu rekonstruieren, die das Fach geprägt haben. Für Deutschland, das in diesem "langen Jahrhundert" sechs Herrschaftssysteme erlebt hat, gilt dies ganz besonders.
Uta Gerhardt zeigt eindrucksvoll, wie man eine Geschichte der Soziologie als Gesellschaftsgeschichte schreiben muss. In sechs chronologisch geordneten Studien werden Bruchlinien, Anschlußstellen und Widersprüche der Fachgeschichte beleuchtet. Zunächst die Abkehr vom Sozialdarwinismus, die Wilhelm Dilthey initiierte und die den Welterfolg der WeberschenTheorie erst ermöglichte. Im Fokus steht dann das Fortleben der Soziologie in der Emigration. Als wichtigsten Impulsgeber in der Stunde Null würdigtdie Autorin Edward Y. Hartshorne, bevor sie den Neubeginn der empirischen Sozialforschung analysiert. In den kontroversen 1960er Jahren folgt Gerhardt dem langen Schatten des Positivismus, um abschließend die Herausforderungen der Wiedervereinigung für die Soziologie zu analysieren.
Eine einzigartige, überzeugende Diskursgeschichte der Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert.
Autorenporträt
Uta Gerhardt, geboren 1938 in Thüringen, Soziologin, lehrte unter anderem an den Universitäten Berlin, Konstanz, London und Heidelberg (bis 2003) sowie an der New York University und der Harvard University.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.01.2010

Marx oder Weber – wer hat recht?
Die Soziologin Uta Gerhardt zieht eine parteiische Bilanz ihrer einst mächtigen Disziplin
In einer Karikatur aus den siebziger Jahren in England stellt jemand einen Mann und seinen Begleiter vor: „This is Mr. X, a sociologist, and this is his interpreter.” Zu jener Zeit gab es auch und gerade in Deutschland manche Vorurteile gegenüber der Soziologie – für viele war Soziologisch so schwer verständlich wie Chinesisch, und nicht wenige glaubten, Soziologen seien Sozialisten. Dennoch konnte die Soziologie sich damals als geisteswissenschaftliche Leitdisziplin etablieren. Heute macht man dagegen noch nicht einmal mehr Witze über die Wissenschaft von der Gesellschaft.
Uta Gerhardt, die mit besagter Karikatur ihr Buch „Soziologie im 20. Jahrhundert” beginnen lässt, war in jenem goldenen Jahrzehnt schon eine wesentliche Figur der Wissenschaftsszene. Sie ist Jahrgang 1938, habilitierte sich 1969, wurde 1979 Professorin, war in den achtziger Jahren im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und ist seit 2003 emeritiert. Nun hält sie Rückschau über die Geschichte ihres Faches in Deutschland. Da es im 20. Jahrhundert sechs Regime gab – Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Bonner Bundesrepublik, DDR und Berliner Republik – hält Gerhardt es für angebracht, auch von sechs Soziologien zu sprechen.
Und so präsentiert sie die Karriere dieser Soziologien: Aufflackern der modernen Soziologie um die Jahrhundertwende trotz Hegemonie des Sozialdarwinismus; Niedergang der Wissenschaft von der Gesellschaft in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft; Auswanderung und Rettung der modernen Soziologie aus den Fängen des Sozialdarwinismus durch Talcott Parsons und Alfred Schütz; Rückkehr der demokratisierten und amerikanisierten empirischen Sozialforschung; Pluralisierung und sozialphilosophische Gefechte in den sechziger und siebziger Jahren; schließlich schleichender Bedeutungsverlust der Soziologie wegen Überforderung.
Doch was ist „moderne Soziologie”? Sie habe drei Ursprünge: Karl Marx’ Kritik der politischen Ökonomie; Auguste Comtes Positivismus und Herbert Spencers Sozialdarwinismus. Alle drei seien selbst nicht „moderne Soziologie”. Gerhardts Helden sind Wilhelm Dilthey (als Kritiker der Soziologie Comtes und Spencers), Georg Simmel und Max Weber. Moderne Soziologie sei methodologisch begründete, systematische Gesellschaftsanalyse statt Geschichtsphilosophie. In der Tat gibt es keinen Zweifel an dem von Gerhardt in den Vordergrund gerückten Bruch zwischen der Comte-Spencer’schen und der Simmel-Weber’schen Soziologie. Doch die Trennung zwischen modern und – ja, was eigentlich? – vormodern, antimodern, alternativmodern ist nur eine normative. Methodologisch begründet und systematisch waren auch die drei exkommunizierten Theoriestränge, und einer geschichtsphilosophischen Grundlage entbehrten auch Dilthey, Simmel und Weber nicht.
Die Ideologiefreiheit, die „objektive” und „wertfreie” Wissenschaft ist selbst eine der größten Ideologien. Gerhardts Credo ist: Gute Soziologen waren Demokraten, und Nichtdemokraten waren keine guten Soziologen. Die Heldengalerie Simmel-Weber-Schütz-Parsons folgt einer kaum verborgenen Modernisierungstheorie. Sie entspringt der Erfahrung einer Generation, die – zu Recht - dankbar war für die Demokratisierung der soziologischen Theorie in Amerika und die Reeducation. Sie mündet – bedauerlicherweise – in einer sich selbst vergewissernden Whig-Geschichtsschreibung ihrer Soziologen-Generation.
Der verbissen geführte Kampf gegen Positivismus und Marxismus trägt noch das Zeichen der alten Frage aus den siebziger Jahren: Wer hat recht – Marx oder Weber? In ihrem Bemühen, die vermeintlichen Bastarde und roten Schafe der soziologischen Familie auszutreiben, verleugnet Gerhardt das Aufbruchsjahrzehnt einer kritischen Gesellschaftstheorie in den zwanziger Jahren, die natürlich ohne Marx undenkbar gewesen wäre, und zwar nicht nur als „Ursprung”, sondern als Magnetfeld. Frankfurt etwa war ein Zentrum der deutschen Soziologie, nicht nur, aber vor allem das Institut für Sozialforschung, das seine Wurzeln in der Arbeiterbewegung hatte und ab 1930 von Max Horkheimer geleitet wurde. Soziologie galt hier als Schlüssel und Gipfel der Erkenntnis. Die aufgeklärte Vernunft sollte gesellschaftstheoretisch geerdet werden, Mythos, Elite und innere Schau durch Ideologiekritik und Begriffe ausgetrieben werden. Was macht eigentlich eine Soziologiegeschichte, die das nicht für modern hält, mit Adorno, Benjamin und Kracauer?
Nach dem Auftakt über die Niederringung des Sozialdarwinismus in der Soziologie wird in diesem Buch die Frage behandelt, wie modern die Gesellschaft im Nationalsozialismus gewesen sei. Nun geht es also um die Soziologie des Nationalsozialismus, nicht um die nationalsozialistische Soziologie. Auch nicht unbedingt zwingend ist es, nach der Rückschau auf die sechziger Jahre – dem „Jahrzehnt der neuen Kritik” und dem „Fortschritt zurück zu Weber” – einen detaillierten Bericht über die Arbeit der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern lesen zu müssen.
Es sind disparate Studien, die hier zusammenfinden. Das wäre durchaus legitim – zumal bei einem Lebenswerk wie im Falle Uta Gerhardts –, würde der Klappentext nicht verkünden: „Eine einzigartige, überzeugende Diskursgeschichte der Soziologie in zwanzigsten Jahrhundert.” Uta Gerhardts Buch ist eher ein wertvolles Zeugnis einer in den sechziger Jahren akademisch sozialisierten deutschen Soziologin, die geprägt wurde von harten Kämpfen mit Marxisten und Positivisten innerhalb ihrer Community. JÖRG SPÄTER
UTA GERHARDT: Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert. Studien zu ihrer Geschichte in Deutschland. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2009. 392 S., 42 Euro.
Gute Soziologen waren Demokraten. Nichtdemokraten waren keine guten Soziologen.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Heute werden über die Soziologie nicht mal mehr Witze gerissen, seufzt Rezensent Jörg Später über den von ihm beobachteten Bedeutungsverlust der Wissenschaft. Uta Gerhardts Überblick zur Soziologie im 20. Jahrhundert hat er mit Interesse zur Hand genommen, und er schätzt die Autorin als verdienstvolle Soziologin, deren Waffen in den wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen der sechziger Jahre gehärtet wurden. Allerdings erkennt er in dem Buch auch das Bemühen, Marxisten und Positivisten aus der Ahnenreihe auszuschließen. Und da macht Später nicht mit. Gerhardts Unterscheidung von moderner Soziologie - in der Folge von Simmel und Weber - und allem anderen - Sozialdarwinismus, Positivismus und kritische Gesellschaftstheorie - findet er rein normativ, aber nicht methodologisch begründet. Gerhardts Credo "Gute Soziologen waren Demokraten, und Nichtdemokraten waren keine guten Soziologen", teilt er so nicht.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Uta Gerhardts Blick auf die Geschichte der deutschen Soziologie ist spannend und erfolgt nicht aus der Vogelperspektive, sondern auf Augenhöhe, und das im doppelten Sinn. Zum einen, weil sie das methodisch einleuchtende Argument vertritt, dass es keine kanonisierte Geschichte der Soziologie in Deutschland gibt, die es nachzuerzählen gelte, sondern dass es vielmehr nötig sei, die soziologischen Debatten zu rekonstruieren, um so ihre Geschichte quasi von innen heraus zu schreiben. Zum anderen aber, weil Gerhardt selbst zu den führenden Protagonistinnen der deutschen Gegenwartssoziologie zählt und somit Teile einer Geschichte rekonstruiert, an der auch sie aktiven Anteil hatte und hat. [...] über weite Strecken genial." Samuel Salzborn Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2010/2