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Um die Ansätze und Erkenntnisse der unterschiedlichen Forschungsrichtungen zusammenzuführen, präsentiert dieses interdisziplinäre Lexikon das weite Feld der Gedächtnicforschung in seiner historischen und theoretischen Vielfalt. Mit über 450 Artikeln deckt es die Disziplinen ab, in denen die Phänomene Gedächtnis und Erinnerung untersucht werden: Kulturwissenschaften, Medientheorie, Neurobiologie, Pädagogik, Philosophie und Psychologie.

Produktbeschreibung
Um die Ansätze und Erkenntnisse der unterschiedlichen Forschungsrichtungen zusammenzuführen, präsentiert dieses interdisziplinäre Lexikon das weite Feld der Gedächtnicforschung in seiner historischen und theoretischen Vielfalt. Mit über 450 Artikeln deckt es die Disziplinen ab, in denen die Phänomene Gedächtnis und Erinnerung untersucht werden: Kulturwissenschaften, Medientheorie, Neurobiologie, Pädagogik, Philosophie und Psychologie.
Autorenporträt
Nicolas Pethes (Prof. Dr.) lehrt Europäische Literatur und Mediengeschichte an der FernUniversität in Hagen und ist Leiter der Emmy-Noether-Forschungsgruppe »Kulturgeschichte des Menschenversuchs«, Bonn.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Wie hielte ich's aus, kein Mensch zu sein?
Zwischen Neurobiologie und Sinnstiftung: Zwei Bücher durchmessen Theorie und Praxis der Erinnerung / Von Roland Kany

Es gibt Erzählungen, die man nicht mehr vergißt: die Geschichte des Ireneo Funes zum Beispiel. Der verträumte Sonderling, wie Jorge Luis Borges ihn porträtiert, zeichnet sich nur durch ein minutengenaues Zeitgefühl aus, bis er als Neunzehnjähriger vom Pferd stürzt und aus der Bewußtlosigkeit erwacht - gelähmt, aber mit einem unfehlbaren Gedächtnis ausgestattet. Ireneo saugt jedes Detail der Wirklichkeit in sich auf und kann es nicht mehr vergessen. Er vermag sich exakt an die Wolkenformen jedes erlebten Sonnenaufgangs zu erinnern oder an die bizarren Gebilde der Gischt, die ein Ruderer aufgewühlt hatte. "Ich allein", sagt Ireneo, "habe mehr Erinnerungen, als alle Menschen zusammen je gehabt haben, solange die Welt besteht." Das Faß seines Gedächtnisses läuft immer voller. Den Entschluß, jeden seiner vergangenen Tage auf siebzigtausend Erinnerungen zu beschränken, muß er verwerfen. "Mein Gedächtnis ist wie eine Abfalltonne." Ein solcher Mensch hat keine Zukunft. Ireneo Funes stirbt mit einundzwanzig Jahren.

Von "Abfall" bis "Zukunft" reicht die umfangreiche Enzyklopädie "Gedächtnis und Erinnerung", mit der jetzt eine Bilanz weitverzweigter Forschungen gezogen wird. Der faszinierende Themenkreis hat seit gut einem Jahrzehnt Konjunktur in einer Reihe ganz verschiedener Disziplinen. Im Nebeneinander von 450 Lexikonartikeln sind die beteiligten Fächer endlich einmal alle versammelt. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht werden beispielsweise erörtert: der Begriff der Ahnen, die Autobiographie, das Denkmal oder eben der Müll, in dem sich der Alltag einer Gesellschaft archäologisch auswertbar verewigt. Stichworte der Medienwissenschaft sind etwa Archiv, Künstliche Intelligenz und Löschung. In die Zuständigkeit der Neurobiologie fallen die Alzheimer-Demenz, die als Neurotransmitter bezeichneten Überträgerstoffe im Gehirn oder das Langzeitgedächtnis. Die Pädagogik befaßt sich mit Auswendiglernen oder Wiederholung. Psychologie und Psychoanalyse besitzen Kompetenz in Sachen Assoziation oder Déjà vu. Die Philosophie hat etwas zu sagen über Erfahrung, Zeit oder die Gedächtnistheorien großer Philosophen.

Hier liegt nicht eines der üblichen Lexika vor, die ihre Vorgänger auf den neuesten Stand bringen, sondern ein erstmaliges Repertorium diversifizierter Forschungsstränge, die nur das eine gemeinsam zu haben scheinen, daß sie vom Bezug zwischen einer Gegenwart und einer Vergangenheit handeln. Man könnte vermuten, die Herausgeber wollten mit diesem Werk eine fachübergreifende "Supertheorie" des Gedächtnisses vorbereiten. Doch weit gefehlt: Sie meinen, daß Gedächtnis und Erinnerung einen Themenkomplex bilden, in dem sich verschiedene wissenschaftliche Diskurse kreuzen, ohne sich zu verbinden. Daher wird in der Regel jedes Stichwort aus der Perspektive nur einer Disziplin ins Visier genommen. Die Interdisziplinarität stellt sich erst auf der Lexikonebene her, nicht zuletzt durch den "Hypertext" der Querverweise.

Es liegt in der Konsequenz dieses Prinzips, daß es die Stichwörter "Gedächtnis" und "Erinnerung" nicht gibt. Statt dessen versuchen die Herausgeber - ein Literatur- und ein Medienwissenschaftler, denen ein Neurobiologe und ein Psychologe zur Seite stehen - in der Einleitung zu begründen, warum sich eine "integrale Theorie" des Gedächtnisses kaum mehr formulieren lasse. Die Argumente sind eher dürftig und laufen im Grunde auf das Faktum einer real existierenden Vielfalt von Zugangsweisen hinaus. Interessant ist zwar die Beobachtung, daß die Metaphernlogik der Gedächtnisforschung zwischen den Disziplinen hin und her wandert: Die Medienwissenschaft bedient sich der Metaphern der Gedächtnispsychologie, und letztere benutzt die Computer-Terminologie zur Bildung von Modellen psychischer Erinnerungsprozesse, ohne daß deshalb eine übergreifende Theorie vorausgesetzt wäre. Aber pflegen komplexitätsreduzierende Theoriebildungen nicht an genau solchen Berührungspunkten einzusetzen?

Allerdings entstehen weiterführende Theorien selten am grünen Tisch der Metareflexion. Die bedeutendsten Theoretiker des kulturellen Gedächtnisses wie Jan Assmann haben ihre Thesen entworfen, um sonst unbegreifliche historische Sachverhalte zu verstehen. Den Herausgebern des Lexikons mangelt es an dieser zarten Empirie. So kommt die von Otto Gerhard Oexle und anderen als grundlegend beschriebene Bedeutung der Memoria-Kultur des Mittelalters im Lexikon kaum vor. Auch die Religionen sind eher spärlich behandelt, obwohl sie über die längste und profundeste Erfahrung des Gedenkens verfügen. Unter "Kabbala" wird kein Bezug zum Thema Erinnerung erkennbar. Dabei stehen kabbalistische Traditionen hinter dem ungeheuren Wort des Baal Shem Tov: "Erinnerung heißt das Geheimnis der Erlösung."

Trotz solcher Mängel liegt hier ein anregendes, nicht nur zum Nachschlagen geeignetes Buch vor. Die Kultur- und Biowissenschaften stehen hier so dicht nebeneinander, daß Funken überspringen können. So folgt auf das zeitgeschichtliche Stichwort "Schlußstrich", das bis zur Debatte um Martin Walsers Friedenspreis-Rede von 1998 reicht, der neurologische Artikel "Schmerz", in dem zu lesen ist, daß sensible Nervenzellen so lernfähig sind wie das Großhirn. Werden sie immer wieder Schmerzimpulsen ausgesetzt, reicht schon ein leichter Reiz aus, um Schmerzempfindung hervorzurufen: der Schmerz ist chronisch geworden. Durch präventive Betäubung lasse sich die Entstehung eines Schmerz-Gedächtnisses verhindern. Man sieht: zwei Artikel, durch die alphabetische Ordnung aneinandergekettet.

Lexika können Unwandelbarkeit von Ergebnissen suggerieren. Zeitigt eine veränderte Welt aber nicht neue Formen des Gedächtnisses? Genau dies ist die These einer Studie von Daniel Levy und Natan Sznaider. Die beiden in Deutschland aufgewachsenen Soziologen - von denen der eine in Israel, der andere in Amerika lebt - analysieren in ihrem Buch ein scheinbares Paradoxon. Das "kollektive Gedächtnis" ist der traditionellen Theorie nach vorzüglich Sache des Nationalstaats. Doch Auschwitz ist ein menschheitlicher Gedächtnisort. Die Autoren sehen darin einen exemplarischen Fall: Der Umgang mit dem Holocaust öffne das Verständnis für neue, globale Erinnerungskulturen und könne in einer Epoche ideologischer Ungewißheiten zu einem Maßstab für humanistische und universalistische Identifikationen werden.

Die Autoren wollen damit kulturelle Grundlagen für die "Zweite Moderne" freilegen. Im Anschluß an Ulrich Beck meinen sie damit sowohl den faktischen Prozeß der Kosmopolitisierung als auch eine neue Bereitschaft zur weltweiten Veranwortung. Am Beispiel von Deutschland, Israel und den Vereinigten Staaten zeigen sie, daß es sich nicht um eine uniforme Entwicklung handelt. Erinnerungen artikulieren sich in einem Wechselverhältnis von partikularen und universalen Formen. So hatte die Fernsehserie "Holocaust" 1978 hundert Millionen Zuschauer in Amerika, während sie in Israel nur höfliche Beachtung fand. Die schon damals einsetzende Kritik an der Trivialisierung des Holocaust leuchtet den Autoren nicht ein: Es gibt keine öffentliche Erinnerung ohne Massenkonsum. Entkontextualisierung und Zuspitzung auf individuelle oder gar fiktive Fälle erleichtern, daß die Zuschauer entdecken können, was die Geschichte mit ihnen zu tun hat: Ein gültiger Maßstab für das Böse ist benennbar geworden.

Im Kosovo-Konflikt wurden deutsche Militäreinsätze unter Berufung auf den Holocaust gerechtfertigt. Leicht ironisch formulieren Levy und Sznaider: "Deutschland befreit Auschwitz im Kosovo." Doch sehen sie auch hier die produktive Kraft der Erinnerung am Werk. Die Amerikaner, so sagen sie, verstehen ihr Land als Verkörperung des Universalismus schlechthin: Alle sind Einwanderer, niemand soll, in der Theorie zumindest, seiner Herkunft wegen diskriminiert werden. Der Holocaust war der schrecklichste denkbare Verstoß gegen dieses Prinzip. Die Erinnerung an ihn rechtfertigte den Amerikanern ihre Rolle als diejenige Macht, die weltweit die Geltung der Menschenrechte zu garantieren versucht.

Wird es dabei bleiben? Oder wird das Attentat auf das World Trade Center den Holocaust im kollektiven Gedächtnis Amerikas zurückdrängen, weil sich ein Verbrechen gegen die Menschheit plötzlich im Herz des eigenen Landes ereignet hat? Wird die Erinnerung an den Anschlag transnationale Solidarität befördern oder neue Grenzen zwischen den Zivilisationen errichten? Warum scheint sich die Katastrophe des 11. September derart tief im Gedächtnis auch von Europäern einzugraben? Die Fragen müssen offenbleiben, doch mancher Fingerzeig ist der Enzyklopädie des Gedächtnisses zu entnehmen: etwa, daß unser individuelles Gedächtnis sozial und medial geprägt ist und daß umgekehrt Institutionen zwar kein Gedächtnis haben, sich aber mit Hilfe symbolischer Praktiken und Zeichen eines machen. Man könnte der menschlichen Erinnerung Ungerechtigkeit vorwerfen, weil sie nie mehr als ein paar Tropfen aus dem Fluß des Lebens davor bewahrt, im Meer des Vergessens aufzugehen. Aber es kann nicht anders sein. Borges deutet es an: Sein Ireneo Funes hatte nicht das löchrige Gedächtnis eines Lebenden, sondern das vollkommene Gedächtnis eines Toten.

"Gedächtnis und Erinnerung". Ein interdisziplinäres Lexikon. Hrsg. von Nicolas Pethes und Jens Ruchatz, unter Mitarbeit von Martin Korte und Jürgen Straub. Rowohlts Enzyklopädie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 701 S., br., 38,92 DM.

Daniel Levy, Natan Sznaider: "Erinnerung im globalen Zeitalter". Der Holocaust. Edition Zweite Moderne. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 254 S., br., 36,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Ein innovatives und vielseitiges Lexikon zum "Konjunktur-Thema" Gedächtnis und Erinnerungskultur haben Nicolas Pehtes und Jens Ruchatz nach Ansicht des Rezensenten Roland Kany vorgelegt. Die 450 untersuchten Begriffe einer interdisziplinär angelegten Gedächtnisforschung decken für Kany ein faszinierendes Themenspektrum ab. Als längst überfällig bewertet er es, dass hier einmal Geistes-, Kultur- und Lebenswissenschaften zusammen Eingang in die Gedächtnisforschung finden. Den einen oder anderen methodischen Vorbehalt für das von den Herausgebern formulierte Programm kann der Rezensent aber nicht verschweigen. zentrale Aspekte der empirischen historischen Gedächtnisforschung blieben unberücksichtigt. Unerklärlich findet es Kany auch, dass gerade die Religionen mit ihrer lang tradierten Erinnerungskultur kaum berücksichtigt werden. Trotz solcher Mängel erachtet Kany das vorliegende Lexikon als ein "anregendes, nicht nur zum Nachschlagen geeignetes Buch".

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