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"Das Geheimnis der verlorenen Zeit" ist einer der megalomanischsten Romane der jüngeren amerikanischen Literaturgeschichte: ein gewitzter, raffinierter Mix aus Wissenschaft, Philosophie, Pop und Unterhaltung. Ein wilder Abenteuertrip, vom Wien der Jahrhundertwende bis ins Manhattan der Gegenwart, von der ersten Dimension in die vierte. Eingeschlossen in einer Blase angehaltener Zeit sitzt der junge Waldemar Tolliver in einem vermüllten Apartment am Central Park in New York und versucht, Herr seiner Geschichte zu werden. (Aber vielleicht hat er auch nur zu viel Science-Fiction gelesen.) Über…mehr

Produktbeschreibung
"Das Geheimnis der verlorenen Zeit" ist einer der megalomanischsten Romane der jüngeren amerikanischen Literaturgeschichte: ein gewitzter, raffinierter Mix aus Wissenschaft, Philosophie, Pop und Unterhaltung. Ein wilder Abenteuertrip, vom Wien der Jahrhundertwende bis ins Manhattan der Gegenwart, von der ersten Dimension in die vierte.
Eingeschlossen in einer Blase angehaltener Zeit sitzt der junge Waldemar Tolliver in einem vermüllten Apartment am Central Park in New York und versucht, Herr seiner Geschichte zu werden. (Aber vielleicht hat er auch nur zu viel Science-Fiction gelesen.) Über hundert Jahre Familiengeschichte muss er erforschen und verstehen, um wieder in die Welt zurückkehren zu können. (Glaubt er.)

Ein grandioses Panorama breitet sich aus: Waldemars Urgroßvater, Produzent eingelegter Gurken und Hobby-Physiker aus dem k.u.k. Znaim, war dem Geheimnis der Zeit auf der Spur. Nein, besser noch: dem Geheimnis menschlicher Reisen durch die Zeit! Leider gingen die Unterlagen bei einem dummen Unfall mit einem Automobil verloren.

Drei Generationen von Tollivers - Genies, Kriminelle, Verlierer, Visionäre - ruhen fortan nicht, das Geheimnis zu lüften, obwohl bald ein deutscher Patentamtsangestellter namens Einstein mit ganz ähnlichen Theorien Schlagzeilen machen wird ...

Um es mit Jonathan Lethem zu sagen: "John Wray ist die nächste Welle der amerikanischen Literatur."
Autorenporträt
John Wray wurde 1971 in Washington, D. C., als Sohn einer Österreicherin und eines Amerikaners geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin Granta unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.

Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

John Wrays opulentes Werk, genial übersetzt von Bernhard Robben, zitiert fröhlich aus der Weltliteratur, in der so oft verrückte Zeitgenossen mithilfe von Zeitmaschinen versucht haben, die Grenze von Zeit und Raum zu überwinden. Ein österreichischer Gurkenfabrikant und Hobbyphysiker entdeckt das Geheimnis der Zeit. Doch kaum entdeckt, geht die Erkenntnis wieder verloren. Erst ein Nachfahre von ihm macht sich auf die Erforschung dieses Familiengeheimnisses und gerät in eine Art Zeitblase, bevölkert von ?Science-Fiction-Kreaturen, aber auch realistisch anmutenden und sogar historisch belegten Persönlichkeiten und durchdrungen von zahlreichen teils fiktiven, teils realen Ereignissen aus rund 100 Jahren europäischer Geschichte, die sich von der k.-und-k.-Epoche bis heute spannt. Wray mischt dabei vergnügt Genres und Stilmittel kräftig durcheinander. Aus historischen Fakten, philosophischen Anmerkungen und satirischen Anspielungen spinnt er einen bunten Kosmos, dessen Moral auch lauten könnte, dem Ehrgeiz zu widerstehen, der Zeit ihre Maske abzureißen. Das gilt für den wackeren Gurkenfabrikanten wie für seinen Ururenkel Waldemar Tolliver, der zwischen Zeit und Raum gerät.

© BÜCHERmagazin, Margarete von Schwarzkopf (mvs)

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2016

Nachrichten aus Euphasia
John Wray folgt so klug wie unzimperlich einer wüsten Familiengeschichte durch ein ganzes
Jahrhundert und fragt sich, was das Nicht-Ereignis, das wir das Jetzt nennen, eigentlich ist
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Der 1971 geborene Schriftsteller John Wray wurde vom britischen Literaturmagazin Granta vor knapp zehn Jahren ziemlich treffsicher unter die 20 besten jungen englischsprachigen Autoren gewählt; Giganten der Gegenwartsliteratur wie Jonathan Lethem lobten ihn überschwänglich, und Colum McCann verglich ihn gleich mal mit Calvino, Murakami und Joyce. Selbst abzüglich der üblichen Übertreibungen ist das ein recht respektables Begleitgeklingel. Für den ganz großen literarischen Ruhm hat es bislang allerdings weder in den USA noch hierzulande gereicht. Der in Brooklyn lebende Sohn eines amerikanischen Krebsforschers und einer österreichischen Krebsforscherin ist noch immer eher ein Geheimtipp.
  Dass sich das mit seinem neuen, vierten Roman „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“ nun schlagartig ändert, erscheint eher unwahrscheinlich. Aber Publikumserfolg ist ja ohnehin nicht planbar, besonders in der nicht-trivialen Literatur. Doch sollte John Wray eines Tages doch noch ereilen, sollte niemand allzu überrascht sein. Denn darüber, dass er ein außergewöhnliches Erzähltalent ist, besteht spätestens seit seinem 2009 erschienenen Roman „Lowboy“ kein Zweifel. Als im Februar dieses Jahres die Originalausgabe erschien, schrieb die New York Times, dass bei ihm sogar die Stellen, die gar nicht so faszinierten, „hinreißend gut geschrieben“ seien, „gorgeously written“.
  Tatsächlich erstaunt an diesem Buch die verblüffende Unwiderstehlichkeit eines literarischen Erzählens – man neigt dazu, es für besonders amerikanisch zu halten, liegt damit aber nicht immer ganz richtig –, das allem unübersehbaren Anspruchs, aller dramaturgischen Komplexität zum Trotz in jedem Moment unterhaltsam sein möchte. Ein Erzählen, das sich seiner Klugheit (oder immerhin der Wirkung dieser Klugheit) nicht so sicher ist, dass es sie nur für sich sprechen lassen will. Es geht also sehr dialogisch zu und unzimperlich jonglierend zwischen High und Low: „Okay, hier die Kurzversion, Tolliver. Als Erstes müssen Sie sich klarmachen, dass der Mann, mit dem Sie es zu tun haben, der Oberguru in Sachen kundenspezifischen Hirnficks ist.“
  Eine Art kleiner kundenspezifischer Hirnfick ist auch das Buch selbst, in dem der Erzähler Waldemar „Waldy“ Tolliver über mehrere Generationen die Geschichte seiner Familie in den vergangenen 100 Jahren erzählt. Sie ist eng verwoben mit allerlei Abgründen und Spinnereien des 20. Jahrhunderts und an sich schon nicht ganz unwüst: Los geht es im Jahr 1903 mit dem Urgroßvater Ottokar Gottfriedens Toula, einem Wiener Gewürzgurkenfabrikanten und leidenschaftlichen Amateur-Physiker, der am Tag seiner größten Erkenntnis in der tschechischen Stadt Znojmo überfahren wird: „Am 12. Juni 1903, zweidreiviertel Stunden, ehe er von einem nahezu bewegungslosen Automobil überrollt wurde, machte mein Urgroßvater eine Entdeckung, die versprach, die Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern.“
  Man lernt dann Waldemar kennen, Ottokars Sohn und Waldys Großonkel, der Nazi war und in einem Konzentrationslager bizarre Menschenexperimente durchführte. Die Töchter von Ottokars zweitem Sohn Kaspar, Enzian und Gentian, treten auf und führen einen in die New Yorker Boheme des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts. Und schließlich steht Waldemars Vater Orson Card Tolliver im Mittelpunkt, ein höchst produktiver Science-Fiction-Autor, dessen größtes Werk am Ende jedoch ist, dass seine Bücher einen gewissen R. P. Haven dazu inspirieren, ein religiösen Kult zu stiften: die „Kirche der Synchronologie“. Abgesehen davon stellt sich heraus, dass Orson in seinen Büchern nicht nur das GPS, Viagra und die EU vorhergesagt hat, sondern auch das Internet.
  Aber wie gesagt: Das ist längst nicht alles und Waldy erzählt es nicht einfach so. Während er es erzählt, sitzt er in einem Zeitloch in der Bibliothek seiner verstorbenen Tanten in deren alter New Yorker Stadthaus-Wohnung in der 109th Street, Ecke Fifth fest, am gutbürgerlichen Ende des Central Park. An einem Montag um 8.47 Eastern Standard Time. Und versucht herauszufinden was Ottokars bahnbrechende, mit der Physik der Zeit zusammenhängende Entdeckung mit seiner misslichen Lage und seiner Familie zu tun hat. Formal ist der Roman dabei ein Brief, den Waldy schreibt, um eine geliebte Affäre wieder zurückzugewinnen, Mrs. Haven, die Gattin von R. P. Haven: „Ich werde dir die Tollivers erklären, dir eine Privatführung durch unser kleines, schäbiges Kuriositätenkabinett geben.“
  Dass eben dieses dann auch auf Deutsch so strahlt, ist das Verdienst Bernhard Robbens, weshalb es hier nicht bei einem knappen Hinweis zum Übersetzer bleiben kann: Vergleicht man einzelne Passagen, ist man zunächst versucht, „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“ für einen eher leichten Fall zu halten, so mühelos gewandt und doch akkurat wirkt die Übertragung. Aber man muss es ja auch erst mal fertigbringen, einen Satz wie „Ottokar paid no mind to his impending end until its grille made gentle contact with his paunch“ so leicht und schön und lustig zu übersetzen: „Ottokar war sich seines nahenden Endes nicht im mindesten bewusst, bis der Kühler sanft an seine Wampe tippte.“ Und dann ist es gerade bei einer Übersetzung aus dem Englischen alles andere als eine Kleinigkeit, über mehr als 700 Seiten den Ton zu treffen. Die vermeintliche kulturelle Nähe und Vertrautheit verführt erfahrungsgemäß zu Übersetzungslösungen, hinter denen zugunsten der Handlung die Erzählkunst der Vorlage oft bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Hier nicht.
  Einzig der deutsche Titel ist arg gesichtslos-konventionell geraten, auch wenn die Formulierung im Buch vorkommt. Geheimnisse um Verlorenes gibt es längst genug. Es dürfte kein Zufall sein, dass sich Wray im Originaltitel „The Lost Time Accidents“ nur für eines der beiden viel benutzten Reizwörter entschieden hat. Dem Übersetzer soll das aber auf keinen Fall angelastet werden, bei der Titelauswahl ist er in der Regel nicht die wesentliche Instanz.
  Aber zurück zum Text, weil ja noch die Frage übrig ist, wie das Buch nun am Ende im Ganzen zu lesen ist. Als Zeitreise-Buch und Brief-Roman ist „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“ ohne Zweifel ein Stück Metaliteratur vom Feinsten, Literaturliteratur, also Literatur, die einen zwingt, ständig darüber zu reflektieren, was Literatur eigentlich ist und sein kann. Und das geht einem in seiner selbstreflexiven Beflissenheit irgendwann doch so sehr auf die Nerven, dass man gar nicht mehr erfahren will, ob sich Waldy wohl aus seiner Zeitfalle befreien kann.
  Andererseits ist es so gekonnt fabuliert, dass man gar nicht aufhören kann, immer weiter zu lesen. Einfach weil man wissen will, was für Absurdes, Schräges und Kluges dem Autor noch so einfällt zu diesem „schlüpfrigen, ewig nur aus dem Augenwinkel wahrzunehmenden Nicht-Ereignis etwa, das wir ‚Jetzt‘ oder ‚Aktualität‘ nennen“. Dass wir nämlich womöglich erst in Zeiten der Leere „voll und ganz lebendig“ sind, wenn gerade nichts Bedeutsames geschieht. Und was für schöne Wörter er sich ausdenkt für Alltagssituationen, die keinen Namen haben, obwohl jeder sie kennt. Für das Gefühl zum Beispiel – so viel muss verraten werden –, das man hat, wenn man aus einem Film kommt und meint, was draußen geschieht, gehöre noch zum Film, schlägt er Euphasia vor.
Als Zeitreise- und Brief-Roman
ist das ohne Zweifel ein Stück
Literaturliteratur vom Feinsten
    
    
          
John Wray: Das Geheimnis der verlorenen Zeit. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016.
734 Seiten, 26,95 Euro. E-Book 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Tilman Urbach hat in New York John Wray getroffen und sich vom Autor höchstselbst über seinen neuen Roman, seine Entstehung und sein erzählerisches Programm berichten lassen. Schon vorher faszinierte Urbach die Kühnheit, mit der Wray bedenkenlos verschiedene Genres mischt, zwischen Realismus und Science Fiction hin und her springt, Motive und Geschichten verwebt, kurz gegen jede Regel des fiktionalen Erzählens verstößt. Nach dem Treffen scheint seine Begeisterung für diesen Autor und seinen Roman noch vergrößert. Wray, so der Rezensent, liebt das ausschweifende Erzählen und die sprachliche Raffinesse. In seinem Roman über eine seltsame Familie, die über Generationen hinweg nach dem "Geheimnis der verlorenen Zeit" sucht, lässt er eine andere, eine "surreale Welt" erstehen, in die sich der Rezensent mit Freuden entführen lässt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016

Was sagt uns die Krümmung der Gurke?

Durchs zwanzigste Jahrhundert mit Spinnern, Träumern und depressiven Okkultisten: John Wray darf man angesichts seines neuen Werks zu den Schwergewichten des popkulturellen Zeitreise-Romans zählen.

John Wray ist in zwei Welten zu Hause. Seine Mutter ist Österreicherin, sein Vater Amerikaner, er selber lebt abwechselnd in Kärnten und New York. Von der Neuen Welt hat er den Pionier- und Abenteurergeist und den Ehrgeiz, die Great American Novel zu schreiben, von Europa eine gewisse gedankenschwere Trägheit, um nicht zu sagen: Faulheit. Wray ist ein Schriftsteller, den man zum Schreiben tragen muss. In einem Interview verriet er einmal das merkwürdige Ritual, mit dem er sich morgens motiviert: Er stellt sich vor, von King Kong, dem "Geist des Romans", in eine Höhle verschleppt und zum Schreiben gezwungen zu werden; von der King-Kong-Schauspielerin Fay Wray hat er übrigens auch seinen Künstlernamen entlehnt. Der Trick funktioniert: Wray schreibt nicht viel, aber jeder seiner bislang vier Romane war ein Erfolg. Schon sein erster, "Die rechte Hand des Schlafes" (2002), ließ aufhorchen; sein dritter, "Retter der Welt" (2009), war die atemraubende Fahrt eines jungen Psychotikers durch die New Yorker U-Bahn und die Abgründe einer kranken Seele.

Jetzt hat Wray in siebenjähriger Fleißarbeit sein opus magnum geschrieben: "Das Geheimnis der verlorenen Zeit", glänzend übersetzt von Bernhard Robben, ist ein ziegelsteinschwerer, aber erstaunlich leicht zu lesender Familien-, Wissenschafts- und Zeitroman über so komplexe Themen wie Einsteins Relativitätstheorie und Ron Hubbards Scientology-Religion. Wray spielt damit in einer Liga mit Schwergewichten des popkulturellen Zeitreiseromans wie Thomas Pynchon, David Mitchell und Haruki Murakami; Jonathan Lethem feiert die Werke des Fünfundvierzigjährigen gar als "nächste Welle der amerikanischen Literatur".

Die Spur zu Proust, die der deutsche Titel legt, führt dagegen in die Irre. In Wrays Roman kommen zwar auch Fin-de-siècle-Ästheten, Kindheitsgerüche und sinnliche Erinnerungskrücken vor, aber er hält sich nicht mit subtilen Beobachtungen auf, sondern greift lieber mit Witz und Wonne mitten hinein in die bizarren Schicksale und fixen Ideen eines deutsch-österreichischen Familienclans. Fast alle Tollivers waren Hobbyphysiker und Zeitforscher, einige genial, andere verrückt, einer böse. Urenkel Waldy erzählt ihre Geschichte mit dem epischen Schwung einer Buddenbrooks-Saga über vier Generationen hinweg. Schon der Urgroßvater, der mährische Gewürzgurkenfabrikant Ottokar, war ganz nah dran am Geheimnis der Zeit; aber just als er von der Krümmung der Gurke auf die Krümmung von Zeit und Raum im Unendlichen kam, katapultierte ihn ein Autounfall in eine andere Dimension. Jeder Augenblick, der vergeht, ist verlorene Zeit; der Tod ist der "ultimative Zeitverlust".

Ottokars Söhne setzen das Werk des Vaters fort: Während Kaspars Neugier und Zeitforscherdrang in der neuen Heimat Amerika bald erlahmen, bewegt sich sein dämonischer Bruder Waldemar mit Lichtgeschwindigkeit durch die europäische Unheilsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Relativitätstheorie ist für ihn der Schwachsinn eines elenden "Patentprüfers", die Idee von einer chronologisch verlaufenden Zeit Lügenpropaganda des Weltjudentums. Der "schwarze Zeitmesser" entwickelt gegen Einstein und den gesunden Menschenverstand eine Theorie der rotierenden Zeit, die er im Dritten Reich bei der SS durch Menschenversuche an KZ-Gefangenen zu verifizieren versucht. Offenbar nicht ganz ohne Erfolg, denn nach 1945 reist er kreuz und quer durch die Wurmlöcher einer nichtchronologischen Zeit.

Kaspars Sohn Orson schreibt populäre Scienc-Fiction-Groschenromane. Die "Sternenpornos" machen ihn, gegen seinen Willen, zum Gründer und Guru einer obskuren Sekte, die Zeitreisen im "Theater der Simultaneität" verspricht; die Kirche der Synchronologen ist natürlich nach dem Ebenbild von Scientology und Ron Hubbard entworfen. Ausgerechnet Waldy, der letzte und vermutlich unbegabteste Zeit-Forscher der Familie, ist dazu ausersehen, den Roman der Tollivers zu schreiben. Die Niederschrift wird erleichtert dadurch, dass er im Familienmuseum seiner verrückten Großtanten Enzian und Gentian in New York eingesperrt ist; dass er zugleich in einer Zeitschleife steckt, macht seine Erinnerungen allerdings chronisch und chronologisch unzuverlässig. Waldys Buch ist im Grunde ein langer Brief an seine Geliebte Mrs. Haven, die Frau des Synchronologen-Chefs, die ihn am Ende verraten wird. "Die Zeit ist ein Albtraum, in dem sich die Verrückten stets wohl gefühlt haben", schrieb Oscar in einem seiner Sternenpornos; im Augenblick der Liebe steht sie still.

"Ich werde Dir die Tollivers erklären, Mrs. Haven", schreibt Waldy, "Dir eine Privatführung durch unser kleines, schäbiges Kuriositätenkabinett geben, aber damit Du auch wirklich alles sehen kannst, werde ich zuvor mit der Axt auf die Vitrinen einschlagen." John Wray jongliert mit obskuren Begriffen und Singularitäten wie "autosuggestive Psychostasis", "interdimensionale Kälte" und "Konsensrealität" und stellt in den Vitrinen seines Romans aus, was immer Zeit und Raum - hauptsächlich Wien, Mähren und New York - hergeben: Nazis, "depressive Okkultisten", Spinner und Träumer, Heisenbergs Unschärferelation und Viscontis "Verdammte", Zitate von Newton bis Nietzsche. Da werden Evolutionstheorien von Lamarck und Darwin, Zeittheorien von Plotin und Augustinus referiert, berühmte Zeitgenossen wie Klimt und Wittgenstein, Joan Didion und Buckminster Fuller haben ihre Auftritte, und Orsons Science-Fiction-Fantasy wird bis ins Detail ausfabuliert. So verwandelt Wray die Physik der Zeit in romantische Metaphysik und die Bewegung von Körpern im Raum in eine rasende Zeitreise durch das letzte Jahrhundert. Manchmal erinnert der Roman mit seinem totalen Anspruch und seiner Sammelwut an die vollgerümpelte Messie-Altbauwohnung der skurrilen Tanten. Gentian und Enzian wollten sich "jedem von Menschenhand geschaffenen Ding nähern, als gehörte es in ein Museum". In ihrem Archiv landeten Briefe, Tagebücher, Geheimschriften, fiktive und reale Bücher, Schundhefte, Fotos, der Sküs aus dem Tarock-Spiel, alte Schaufensterpuppen und Gameboys sowie der mysteriöse "Ausschlussbehälter", möglicherweise eine funktionierende Zeitmaschine aus Holz und Leder.

Aber Wray schafft es auch immer wieder, die Fülle des Stoffs erzählerisch zu bändigen und die synchron rotierenden Zeitebenen in eine halbwegs chronologische Ordnung zu bringen. Man muss nicht die allgemeine und spezielle Relativitätstheorie verstanden haben, um ihm auf seiner Zeitreise folgen zu können; man braucht dafür nicht einmal eine Zeitmaschine. Man muss nur die Augen schließen, wie Waldy am Ende erkennt: "Mein Vater hatte recht mit dem, was er in ,The Excuse' schrieb. Für eine Zeitmaschine brauchen wir nur unser Bewusstsein. All der übrige Unsinn - die Notizen, Berechnungen, sogar der Ausschlussbehälter - ist bloß ein Haufen pseudowissenschaftliches Gerümpel."

Das Geheimnis der Zeit ist kein Geheimnis: Es ist die Geschäftsgrundlage des Pakts zwischen Leser und Erzähler. Wir reisen ein Leben lang durch die Zeit "in die Zukunft mit dem Tempo, in dem wir altern, und in die Vergangenheit, sooft wir uns erinnern". Man kommt nur auf Um- und Irrwegen, gelegentlich sogar auf Möbiusbändern und selbstreferentiellen Achterbahnen voran, gekrümmt und auf krummen Touren. Aber John Wrays Geschichten vom Leben und Streben, Scheitern und Sterben der Tollivers sind der Mühe wert. "Das Geheimnis der verlorenen Zeit" zu lesen ist keine verlorene Zeit.

MARTIN HALTER

John Wray:

"Das Geheimnis der verlorenen Zeit". Roman.

Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016. 734 S., geb., 26,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Ein atemberaubendes Mosaik aus Wissenschaft, Geschichte und Philosophie, das Wrays großes Talent beweist. Booklist
Ein außergewöhnliches Erzähltalent. Süddeutsche Zeitung