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Die Geschichte einer vollkommenen Täuschung - Martin Walsers neuer großer Roman
Das Telefon klingelt. Karl von Kahn, Münchner Anlageberater, erfährt von Gundi, der Frau seines besten Freundes, dass der gelähmt im Krankenhaus liegt. Als er kurz darauf an dessen Bett steht, ist er erschüttert, ihn derart sterbensmatt zu sehen. Gundi lädt Karl zu sich nach Hause ein. Lange schon war er nicht mehr in diesem Schönheitsimperium zu Gast; Kunst und Künstlichkeit berauschen ihn. Als sie ihn bittet, einen Vertrag zu unterschreiben und so den letzten Wunsch des Freundes zu erfüllen, zögert er nicht,…mehr

Produktbeschreibung
Die Geschichte einer vollkommenen Täuschung - Martin Walsers neuer großer Roman

Das Telefon klingelt. Karl von Kahn, Münchner Anlageberater, erfährt von Gundi, der Frau seines besten Freundes, dass der gelähmt im Krankenhaus liegt. Als er kurz darauf an dessen Bett steht, ist er erschüttert, ihn derart sterbensmatt zu sehen. Gundi lädt Karl zu sich nach Hause ein. Lange schon war er nicht mehr in diesem Schönheitsimperium zu Gast; Kunst und Künstlichkeit berauschen ihn. Als sie ihn bittet, einen Vertrag zu unterschreiben und so den letzten Wunsch des Freundes zu erfüllen, zögert er nicht, und eine Firma ist verkauft. Doch noch am Abend desselben Tages geht es dem Freund viel besser. Ist Karl von Kahn betrogen worden? Da klingelt sein Telefon schon wieder: Er soll helfen, eine Verfilmung des "Othello" zu finanzieren. Den Verführungskünsten der jungen Hauptdarstellerin Joni kann er sich nicht entziehen, und ein zweiter Betrugsverdacht keimt auf.

Martin Walsers neuer Roman handelt von zwei Täuschungen, von Aufhörenmüssen und vom Geld - von Wahn, Scheinheiligkeit, Freundschaft, Liebe.

Autorenporträt
Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.07.2006

Das Hohe Lied des Zinseszinses
In seinem neuen Roman „Angstblüte” zeigt Martin Walser, wie man sich treu bleiben und doch für eine Überraschung sorgen kann
Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Christa Wolf, Martin Walser: diese vier sind sämtlich schon rund ein halbes Jahrhundert im Geschäft und stellen je für sich das dar, was man mit einer Mischung aus Spott, Neid und Anerkennung den Großschriftsteller nennt. Aber nur einer von den vieren erweckt, wenn er mal wieder ein Buch ankündigt, echte Neugier: Martin Walser. Denn nur bei dem weiß man wirklich nie, was kommt. Und es kam: der kaum verhohlene Todeswunsch gegen einen bestimmten Literaturkritiker; das vor keiner Drastik zurückschreckende Lebensprotokoll einer liebessüchtigen älteren Dame; die Affäre eines älteren Herren, der sich keine Mühe gab, irgend ein anderer zu scheinen als der Autor selbst, mit einer sehr viel jüngeren Frau.
Und jedesmal gibt es höchst persönlichen Ärger, der das Bett der Literatur verlässt, um sich ins Gefilde der Politik, der Gerichtsbarkeit oder mindestens des intimen Klatschs zu ergießen. Nicht schlecht für einen Veteranen mit thematisch eher begrenztem Umkreis, der sich die Empfehlung Thomas Manns - Erfinde nicht, sondern mach was aus dem, was du hast! - von Grund auf zu eigen gemacht hat. Im Zentrum steht, mit der denkwürdigen Ausnahme der Susi Gern im „Lebenslauf der Liebe” (2001), immer ein Mann, dessen große Wachsamkeit für das, was bei uns der Fall ist, und noch größere Ansprechbarkeit in erotischen Dingen sich harmonisch, wenngleich nicht unbedingt glücklich, mit einem ganz und gar konventionsfrommen Sozialprofil verbindet; sein jeweiliges Alter steigt parallel zu dem seines Autors und ist derzeit in den Siebzigern angelangt.
Im Jenseits der Peinlichkeit
Jetzt also, im neuen, an diesem Freitag erscheinenden Roman „Angstblüte” (Rowohlt Verlag, Reinbek 2006, 477 S., 22,90 Euro), bekommt der Walser-Leser es mit Karl von Kahn zu tun, einem Anlageberater in München, soeben siebzig geworden, der mit der jüngeren, von Haus aus reichen Helen verheiratet ist („aus Paritätsgründen”, wie es in einschlägigen Anzeigen zu heißen pflegt), ihres Zeichens Ehetherapeutin. Um jede Ehe ringt sie, als ginge es um das Schicksal der Welt. Nicht retten kann sie aber ihre eigene, denn ihr Gatte lässt sich von den Reizen der viel jüngeren Joni Jetter einfangen. Joni: wirklich und wahrhaftig ist das ihr Name, wie der des weiblichen Schoßes im indischen Tantrismus. Walser und sein Protagonist überlassen sich, nicht zum ersten Mal, einer wunderbar schamlosen Altherrenerotik, die, da sie aufs Ganze geht, über das Peinliche souverän hinauswächst. Der Altersunterschied kommt da gar nicht in Betracht: Vor Walser sind vierzig Jahre wie ein Tag.
Karl gelingt es, die Nachwuchsschauspielerin mit den Brüsten und dem Mund von Brigitte Bardot zu bezaubern, indem er ihr zuhört wie noch kein Mann vor ihm. Das kann er, das ist sein Beruf. Mit jedem seiner Klienten oder Mandanten (man weiß kaum, wie dieses Verhältnis angemessen zu benennen wäre) schließt er sich wie zu einem alten Paar zusammen. Geduldig spürt er aus dem Anderen heraus, was der wirklich will, um es ihm dann zu raten; für diesen so demutsvollen wie kreativen Akt ist er dauernder Dankbarkeit gewiss. Mit circa sieben Partnern, die zusammen ein Anlagevermögen von fünfzig bis siebzig Millionen Euro repräsentieren, lässt es sich bereits auskömmlich wirtschaften. Dazu gehört etwa die dreimal geschiedene Leonie von Beulwitzen, nur von bösen Zungen eine „Scheidungsgewinnlerin” genannt, oder die dreifache Witwe Amei Varnbühler-Bülöw-Wachtel. Sie, die mehr als Neunzigjährige, will jeden Montag Punkt neun Uhr morgens angerufen sein.
Die Schlusssilbe der Wachtel
Da sie gegen den Alterszucker zu kämpfen hat, sympathisiert sie mit Anlagen in der Pharmabranche; hier hat Karl ihr Substanz zu bieten. „Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel meldete sich mit allen drei Namen plus Vornamen, wie sie sich immer meldete, nämlich in einer mit jedem Namen aufwärts steigenden Melodie, so dass die Schlusssilbe von Wachtel klang, als schreibe man das mit zwei -l-. Karl von Kahn antwortete mit seiner Namensmelodie, die so deutlich nach unten führte wie die der Kundin aufwärts.”
Kinder und alte Leute brauchen Rituale, um sich in den Gang der Welt eingebunden zu fühlen. Auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren die Profis mit familiärer Struktur. Durch sein vollkommen altmodisches Vorgehen hat Karl von Kahn in den Jahren von 1991 bis 2000 eine durchschnittliche Rendite von 28,7 Prozent erzielt.
Zyniker haben in diesem Milieu und Metier keine Chance; Kritiker auch nicht. Walser hat von jeher eine unvergleichliche Begabung dafür besessen, in Figuren, die jeder Normalwahrnehmung als schlechthin abstoßend erscheinen müssen, in Wirtschaftskapitäne, Narzissten und Opportunisten jeder Couleur, plagende und geplagte Ehefrauen, förmlich hineinzukriechen. Dies geschah und geschieht mit solcher Rückhaltlosigkeit, dass man es leicht als Satire missdeuten konnte. Auch Walser selbst war einst diesem Missverständnis erlegen, indem er für einige Zeit in die ideologische Haut der DKP schlüpfte, ehe er etwa ab Mitte der siebziger Jahre den Schwenk ins Private tat - zur Enttäuschung seiner alten Weggefährten, doch zum Entzücken des Buchhandels, der ab der Novelle „Ein fliehendes Pferd” (1978) seine Walser-Umsätze verzehnfachte.
Nunmehr jedoch, wo das Werk sich zu runden begonnen hat, lässt sich erkennen, dass, was sich damals als Bruch darbot, in Wahrheit aus einem Guss war: unverwandelt hat Walser seinen Figuren die Treue gehalten. Sie äußert sich vor allem darin, dass er sich von dem starken Gefühl des Rechts, das in jeder von ihnen lebt, hinreißen lässt, ohne Eigenes dazu meinen zu wollen. Diese „Zustimmungssucht”, die Walser bei sich selbst diagnostiziert hat, müsste man, wo man sie bei einem leibhaftigen Menschen trifft, sicherlich als Willens- und Charakterschwäche ansprechen; der Autor Walser aber handhabt sie als sein feinstes Instrument.
Anders wäre es ihm unmöglich, an die soziologische Realität des neuen Kapitalismus heranzukommen. Die auf ihre Weise durchaus fruchtbare „Heuschrecken”-Debatte hat im letzten Jahr ins allgemeine Bewusstsein gehoben, dass wir es nicht mehr mit der klassischen Spekulation zu tun haben, sondern mit der weit rasanteren Spekulation auf die Spekulation. Der Couponschneider ist tot. Wo nehmen die Turbo-Windbeutel in den Equity Fonds das viele Geld her, das ihnen nicht gehört? Von Leuten wie Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel natürlich, die man behutsam bei der Hand nehmen muss, um ihnen zu erklären, dass ein wöchentlich aktualisiertes „Portfolio” ebenso sicher, doch weit ergiebiger sei als die von ihnen instinktmäßig bevorzugte Hortbildung.
Karl von Kahns engster Freund ist der Kunsthändler Diego, von dem zum Beispiel gesagt wird, er habe eine bestimmte Kundin im Lauf vieler Jahre allmählich von Warhol zu Klee „hinentwickelt”. Er malt nicht, er sammelt nicht einmal, aber ein Künstler ist er doch. Ganz ähnlich sieht auch Karl von Kahn seine Tätigkeit. Kein Berufsstand kommt ohne das ihm eigentümliche Berufsethos aus; im Falle des Anlagenvermittlers besteht es in der Andacht vor dem Geld - nicht dem Geld als Zahlungsmittel, das banalerweise immer weniger wird, sondern dem echten Geld, mit dem sich das Wunder seiner Vermehrung begibt.
Ein langes Zitat möge verdeutlichen, was sich mit gutem Grund als der Gehalt, wenn man will: die Dividende des Buchs ansehen lässt: „Ja, jubelte Karl, die Kunst. (. . .) Kunst um der Kunst willen weiß nicht mehr, ob sie noch Kunst ist oder schon Wahn. Politik um der Politik wäre asozial, zynisch, absurd oder verbrecherisch. Wissenschaft um der Wissenschaft willen wäre menschenfeindlich. Geld vermehren um des Geldvermehrens willen entgeht diesen Gefahren. Es produziert. Es produziert Wert. Und da ist keine philosophische Diskussion nötig, was das für ein Wert sei. Dafür steht die Zahl.
Die Zahl ist die Hauptsache. Die Zahl ist der einzig gültige Ausdruck des Geldes. Die Zahl ist der Sinn des Geldes. Die Zahl ist das Geistigste, was die Menschen haben, was über jede Willkür erhaben ist. Die Zahl ist kein Menschenwerk. Die Menschen haben die Zahl nicht geschaffen, sondern entdeckt. Also sage ich dir zum Schluss: Das Absahnen, Gewinnmitnehmen samt Geldausgeben ist die triviale Dimension. Ich sage verständnisvoll: die irdische Dimension. Wer aber Geld spart und verzinst, erlebt den ersten Schauer der Vermehrung. Ich sage: der Vergeistigung. Der Zins ist die Vergeistigung des Geldes. Wenn der Zins dann wieder verzinst wird, wenn also der Zinseszins erlebt wird, steigert sich die Vergeistigung ins Musikgemäße. Das ist kein Bild, kein Vergleich, das ist so. Die Zinseszinszahlen sind Noten. Wenn wir aber den Zinseszins-Zins erleben, erleben wir Religion. (. . .) Spürbar wird Gott.”
Obszöne Metaphysik des Geldes
Dieser Hymnus trifft viel präziser als alles, was eine weithin theorielose, im moralischen Maulen befangene Linke, die „Eo-ipso-Bessermenschen”, wie sie im Buch nicht ohne Ressentiment bezeichnet werden, heute hinkriegt. Das könnte von Marx sein. Da es aber nicht von Marx ist, sondern von Walser/Kahn, da es statt dem Geist der Kritik vielmehr der reinen Hingabe entspringt, wiegt es noch schwerer. Was sich wie eine grässliche Blasphemie ausnimmt, nennt die immanente Metaphysik, die heute die Welt beherrscht, genau beim Namen.
„Der Anblick gibt den Engeln Stärke, / Da keiner ihn ergründen mag”, heißt es in Goethes „Faust” über die gleichfalls in der Zahl sich ausdrückende tönende Harmonie der himmlischen Sphären. Einen solchen Engel des Geldes zum Helden zu machen, war der buchstiftende Einfall Walsers, dem man eine obszöne Genialität bescheinigen muss.BURKHARD MÜLLER
Entspannte, stille Andacht vor der erhabenen Kurve der steigenden Rendite: „Der Zins ist die Vergeistigung des Geldes . . . Wenn wir aber den Zinseszins-Zins erleben, erleben wir Religion.”
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2008

Die Angst in voller Blüte
Martin Walser betätigt sich als Finanzjongleur

Jeden Freitag übersetzt der Anlageberater Karl von Kahn in einer Finanzkolumne für seine Kunden "alles Wirtschaftliche ins Menschliche". Einmal zitiert er Benjamin Franklin: "Money makes money. And the money that money makes makes more money." Entschieden betrachtet dieser Karl von Kahn den "Markt als Naturgeschehen", aus dem sich der Staat herauszuhalten habe, denn: "Die Schlacht wird vom Besseren gewonnen." Von wem auch sonst, wenn es keine Regeln gibt?

Man darf annehmen, dass Martin Walser es in seinem bisher vorletzten Roman "Angstblüte" nicht darauf angelegt hat, die Figur des Karl von Kahn als Parodie eines von allen Rücksichten befreiten Neoliberalen bloßzustellen. Eher schien es seine Absicht, die charakterlichen Eigenarten, die er dahinter vermutete, freizulegen und als etwas Allgemeinmenschliches begreiflich zu machen. Die materielle und, wie beim späten Walser ja mittlerweile notorisch, sexuelle Gier, dazu die Geltungssucht dieser Figur sind so präzise und offen beschrieben, dass man wohl nicht zu weit geht, dahinter ein identifikatorisches Moment zu vermuten.

Inzwischen macht Walser damit von sich reden, dass er den umgekehrten Weg seines Karl von Kahn geht und das Menschliche ins Wirtschaftliche übersetzt - vielmehr: Er trägt das Menschliche ins Wirtschaftliche hinein und erklärt Korruption für eine lässliche Sünde, die nur in Deutschland beanstandet werde. Das Magazin "Capital" ließ er wissen, "dass in vielen Ländern Großaufträge ohne Bestechung nicht zu bekommen sind". Eines dieser Länder ist Bulgarien, dem die Europäische Union gerade eine halbe Milliarde Euro vorenthalten hat, weil man in Brüssel vermutlich nicht ohne Grund befürchtet, diese Hilfsgelder würden im immer noch nicht trockengelegten Korruptionssumpf versickern. Meinte Walser dieses Vorgehen, mit dem immerhin verhindert wird, dass Geld, das Steuerzahler durch ehrliche Arbeit erwirtschaftet haben, verschwendet wird? Es ist noch gar nicht lange her, da führte Walser öffentlich Klage darüber, dass er eine größere Summe, die er bei seinem Abschied von Suhrkamp "mitgenommen" habe, allen Ernstes habe versteuern müssen. "Ich gestehe: Ich fühlte mich beraubt." Wer solche Empfindungen äußert, stellt sie schon über das Steuerrecht und trägt dazu bei, die Zahlungsmoral zu untergraben.

Der Amnestievorstoß, mit dem der Untreue-Experte Walser gleichsam eine Brücke schlägt von seiner literarischen Geliebtenrepublik zu einer Bestechungsrepublik, kommt auch sonst zur rechten Zeit: Für Anfang kommender Woche wird das Urteil im ersten Siemens-Schmiergeldprozess gegen einen ehemaligen Firmendirektor erwartet. Die Staatsanwaltschaft hat sich für zwei Jahre auf Bewährung ausgesprochen - eine Strafe, die sogar von der Verteidigung akzeptiert werden würde. Was noch aussteht, ist eine Schadenersatzklage von Siemens gegen seine eigenen ehemaligen Vorstände. Für Heinrich von Pierer hält Walser jetzt schon ein Plädoyer: "Hier ist eine öffentliche Person in den Medien mehr oder weniger zur Hinrichtung präpariert worden". Mehr oder weniger? Von Pierer musste sich nicht erst ans Licht zerren lassen, sondern trat früher in Talkshows als Sachverständiger in Fragen der Unternehmenshygiene auf.

Interessant an dieser vielleicht nicht unsympathischen Meinung ist die Denkfigur der Vorverurteilung, die Walser schon lange umtreibt und der er sich unlängst in einer Münchner Akademie-Rede ausgiebig gewidmet hat: "Über Erfahrungen mit dem Zeitgeist - ein Potpourri" sprach er und nahm auch da schon von Pierer in Schutz. Die jetzige "Capital"-Auslassung ist also nur ein Ableger davon - die Angstblüte produziert eine Angstblüte, und die Angstblüte, die die Angstblüte produziert, produziert noch eine Angstblüte. Es sei "deutsch, deutsch bis ins Mark", Manager an den Pranger zu stellen. Wenn es international üblich ist, auf diese Form von Moral zu pfeifen, wie kann es dann sein, dass Siemens ein Fall für die amerikanische Börsenaufsicht wurde? Dem Zeitgeist attestiert Walser, sich sein Urteil vorab zu bilden, und wundert sich darüber, dass gegen Siemens so gründlich ermittelt wird.

Die reflexhafte Nationalpsychologie, die selbst die Verdächtigung betreibt, die sie zu bekämpfen meint, entbindet niemanden davon zu fragen, ob gegen geltendes Recht verstoßen wurde. Walser sieht nur noch Moral am Werk und ist blind dafür, dass vor Gericht keine Moralkeulen geschwungen werden, sondern man sich dort kühl ans Gesetz halten muss. Wie schrieb er in der "Angstblüte"? "Im Alter nimmt Verschiedenes ab. Auch die Kraft, moralisch zu sein. Oder sich so zu geben." Die Freiheit sei ihm gegönnt. Als Resteverwerter sollte er nur wissen, was er Karl von Kahn mitgab: "Dass du nicht zweimal im selben Wasser baden kannst, wird nirgends so wahr wie im Anlegergeschäft." Fürs intellektuelle Geschäft gilt das auch.

EDO REENTS

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für eine sehr ernste Angelegenheit hält Felicitas von Lovenberg Martin Walsers jüngsten Roman "Angstblüte" - denn mancherlei ist hier am Ende: der Held Karl von Kahn, ein Finanzjongleur, der sich unsinnig in eine viel zu junge Schauspielerin verliebt, aber auch die Gesellschaft überhaupt, in der es in erster Linie um Täuschen und Getäuschtwerden geht. Wie Walser das alles aber schildere, mit einer "Vitalität" und einem "Furor", die seine besten Texte auszeichnen, das mache auch diesen Roman zu einem "Hauptwerk", das weite Teile der zeitgenössischen Literatur viel jüngerer deutscher Autoren alt aussehen lässt. Gnadenlos schildere Walser den Niedergang seines Helden, der das verliert, was ihm das Wichtigste auf der Welt ist: seine "Unabhängigkeit". Gewiss, so Lovenberg, ist auch an diesem leidenschaftlichen Werk nicht alles meisterlich - und das offenbar ausdrückliche Desinteresse des Autors an der erzählerischen Formvollendung dann fast wieder gerade doch. Ein Wurf jedenfalls und ein Wagnis, ein "brennend aktueller Roman" dazu.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Eine Abrechnung mit dem Alter, das hemmungslos romantische Manifest einer aussichtslosen Liebe." - FAZ
Ein geistreicher und dazu hocherotischer Roman. ZDF "Aspekte"