Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 9,00 €
  • Gebundenes Buch

"Der Keim des Verdachts breitet sich aus und befällt Männer, Frauen, Familien und Schulen. Darin liegt die Aktualität und Faszination des Buches." Umberto Eco Nacht für Nacht träumt ein Kind vom Ende der Welt. Das Kind sucht das Feuer, es ist Schlafwandler. 30 Jahre später erlebt der junge Mann, der seine Kindheit mit diesen Albträumen verbrachte, wie eine Stadt in Angst und Schrecken versinkt. Kinder und Eltern beschuldigen Lehrer und Erzieher des sexuellen Missbrauchs in Kindergärten und Schulen.

Produktbeschreibung
"Der Keim des Verdachts breitet sich aus und befällt Männer, Frauen, Familien und Schulen. Darin liegt die Aktualität und Faszination des Buches."
Umberto Eco
Nacht für Nacht träumt ein Kind vom Ende der Welt. Das Kind sucht das Feuer, es ist Schlafwandler. 30 Jahre später erlebt der junge Mann, der seine Kindheit mit diesen Albträumen verbrachte, wie eine Stadt in Angst und Schrecken versinkt. Kinder und Eltern beschuldigen Lehrer und Erzieher des sexuellen Missbrauchs in Kindergärten und Schulen.
Autorenporträt
Antonio Scurati, 1969 in Neapel geboren, lehrt an der IULM Universität Mailand und koordiniert dort das Forschungszentrum für Kriegs- und Gewaltsprachen. Er lebt in Mailand.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Franz Haas erinnert sich an die erbitterte Debatte, mit der 2009 in Italien um Antonio Scuratis Roman "Das Kind, das vom Ende der Welt träumte" gestritten wurde. Von vielen Seiten wurde dem Roman die literarische Qualität abgesprochen, von Umberto Eco wurde er aber für seine "Aktualität" gepriesen. In der Geschichte über eine beispiellose Medienjagd auf drei Kindergärtnerinnen, die der Pädophilie verdächtigt werden, sucht man nach sprachlichen Vorzügen tatsächlich umsonst, muss der Rezensent zugeben. Dass er dem Buch trotzdem einiges abgewinnen kann, liegt an seiner - wie Haas findet: bestechenden - Darstellung einer "Massenpsychologie des schleichenden Faschismus", die die italienische Medienlandschaft prägt. Der Autor wisse als Medienexperte genau, "wovon er schreibt", und hat zudem seine Geschichte an einen tatsächlichen Fall von 2007 angelehnt, betont der Rezensent. Die wenig ansprechende Textgestalt, die Haas streckenweise gar an einen medientheoretischen oder soziologischen Text erinnert, wirkt auf den Rezensenten geradezu absichtsvoll, und er überlegt, ob der Autor hier nicht vorzuführen sucht, wie die "schöne Literatur" an der "hässlichen Wirklichkeit" zerschellt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2010

Spürt die Angst, schürt die Angst

Sexueller Missbrauch ist zum Fetisch einer skandallüsternen Berichterstattung geworden. Der italienische Autor Antonio Scurati zeigt in einem Roman die verheerenden Folgen, wenn sich Angst, Sensationslust und Quotengier vermengen.

Wenn wieder Fälle von Kindesmissbrauch die Schlagzeilen bestimmen und die öffentliche Aufregung alle Grenzen sprengt, könnte man sich gelegentlich in einer Welt wähnen, in der man niemandem mehr trauen darf: Hinter jeder liebevollen Geste eines Lehrers, Trainers oder Onkels, hinter jeder Verhaltensauffälligkeit eines Kindes könnte sich das Grauen verbergen.

Solch eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens herrscht im Roman "Das Kind, das vom Ende der Welt träumte", in dem der italienische Autor Antonio Scurati ein endzeitlich-pessimistisches Bild der norditalienischen Provinzstadt Bergamo zeichnet: "Man hatte keine Nachbarn mehr, die man fragen konnte, ob sie einem mit einem Päckchen Nudeln oder etwas Salz aushelfen würden. Auf jedem Treppenabsatz könnte sich im Schatten ein potentieller Pädophiler verstecken."

Scurati, Kolumnist der Tageszeitung "La Stampa" und des Wochenmagazins "Internazionale", geht mit seiner eigenen Zunft scharf ins Gericht: Wie Raubtiere wittern die Medien das Potential des Themas, archaische Ängste aufzupeitschen. Die reißerischen Berichte über satanische Rituale und schändliche Videos - die allerdings nie jemand zu Gesicht bekommen wird - lösen gezielt eine Massenhysterie aus, die sich die Politik für den Wahlkampf zunutze macht. Immigranten müssen als Sündenböcke herhalten.

Zunächst aber wird der Leser wieder aus diesem Sumpf herausgehoben und nimmt die anfangs unbeteiligt-distanzierte Erlebnisperspektive des Ich-Erzählers ein. Dieser lehrt wie Scurati Medienphilologie an der Universität in Bergamo, ist ebenfalls Kolumnist von "La Stampa" und scheint dank einer ordentlichen Portion Rationalität gut gegen Massenhysterien gewappnet.

"Eine fette Story landen" will sein Chefredakteur mit einem Leitartikel über einen vermeintlichen Missbrauchsfall, der sich vor 25 Jahren im Priesterseminar der Stadt zugetragen haben soll. Aus Pflichtbewusstsein sagt der namenlose Ich-Erzähler zu, arbeitet sich routiniert-gelangweilt an dem Thema ab, wettert "auf altbewährte Art" gegen die Kirche, gegen den Staat und gegen die Verharmloser. Die emotionale Erregtheit ist indes nur Pose, steht nur auf dem Papier.

Doch dann überschlagen sich die Ereignisse. Eine ratlose Mutter besucht den Verfasser des aufrüttelnden Zeitungskommentars in seiner Sprechstunde an der Universität und berichtet vom Missbrauch an ihrem Kind. Einen von der Redaktion bestellten Artikel im Hinterkopf, folgt er ihrer Einladung zu einer Informationsveranstaltung im Kindergarten der Tochter, wo eine übereifrige Psychologin alle Alarmglocken der Eltern schrillen lässt.

Immer mehr Mütter entdecken an ihren Kindern verräterische Symptome. Die heile Welt zahlreicher Kleinfamilien bricht zusammen. Kindergärtnerinnen, Vertreter der Kirche, Väter und zuletzt ein Freund des Ich-Erzählers geraten in das Netz der Beschuldigungen. Kaum eine Verdächtigung lässt sich erhärten, doch der Nebel der Halbwahrheiten, Vorverurteilungen und Falschmeldungen wird dichter.

Auch die Distanziertheit des Ich-Erzählers löst sich mit dem Fortschreiten der Ereignisse auf, weicht zunächst einem Gefühl des Ekels, ausgelöst vom "abscheulichen Geschmack fanatischen Übereifers", dann des Entsetzens. Zuletzt ergreift auch ihn der fiebrige Wahn und malträtiert ihn mit verschwommenen Kindheitserinnerungen an nächtliche Albträume und seine Eskapaden als Schlafwandler. Sein Realitätssinn wird durch Panikattacken so verzerrt, dass er abwechselnd an seiner eigenen Unschuld zu zweifeln und an ein selbsterlittenes Trauma zu glauben beginnt.

In Scuratis Buch ist die Stimmung drückend und klebrig wie vor einem Gewitter. Doch selbst der Regen bringt keine Erleichterung. Als die Gerüchte sich als haltlos erweisen, ist die Stadt schon vom Gift der Intrige durchdrungen. "Meine einzige Leidenschaft war die Angst" - dieses Zitat von Thomas Hobbes ist Scuratis beunruhigendem Roman vorangestellt, der zeigt: Wenn in einer Gesellschaft, die sicherer und reicher ist als je zuvor, mit der Panik spekuliert wird, entsteht ein unauflösliches Paradox.

Scurati überspitzt zwar gewaltig, doch ist unbestreitbar, dass sich in Berlusconis Mediensystem und auch andernorts Schneebälle zu Lawinen entwickeln können. Des Autors eigentliches Interesse gilt diesen Lauffeuern der öffentlichen Erregung, die sich auch zu anderen Anlässen entzünden - teilweise gelenkt und geschürt, teilweise völlig unkontrollierbar. Er schwimmt dem Strom der reflexartigen Empörung, der beim Wort Missbrauch sofort anschwillt, entgegen.

Dass sich das Buch stellenweise wie ein Tatsachenbericht liest, hat seinen Grund: Scurati weist in der Vorrede darauf hin, dass er reale Vorkommnisse und Fiktion mische. Dadurch ist man versucht, seine Schilderung an der Wirklichkeit zu messen - und will widersprechen: Wird Kindesmissbrauch nicht eher unterschätzt, totgeschwiegen und vertuscht als unverhältnismäßig aufgeplustert? Vergisst Scurati nicht über seiner flammenden Medienschelte die notwendige Aufklärungsleistung der Getadelten - auch im System Berlusconi? Doch durch die Verpackung in der Fiktion entgeht Scurati Vorwürfen, wie sie die deutsche Publizistin Katharina Rutschky 1993 mit ihrem Buch "Erregte Aufklärung" auf sich zog. Sie wurde für ihre Darlegung, wie der Vorwurf des Missbrauchs auch missbraucht werden kann, schwer attackiert. Man kann Scurati nicht vorwerfen, den Missbrauch zu banalisieren, doch er lässt den Leser mit äußerst gemischten Gefühlen zurück.

Scurati, der in Italien bereits mehrere, teilweise preisgekürte Bücher veröffentlicht hat, ist mit "Das Kind, das vom Ende der Welt träumte" nun erstmalig auf dem deutschsprachigen Büchermarkt präsent, und sein Beitrag könnte aktueller kaum sein. Die Stimme der öffentlichen Erregung erreicht hierzulande zwar selten solch schrille Höhen wie in Scuratis Bergamo, dennoch liest sich sein Plädoyer für eine unaufgeregte Betrachtung der Zustände auch wie ein Kommentar zur hiesigen Debatte um Kindesmissbrauch. Er erinnert an den Wert des Schweigens in einer Zeit, in der sich Ankläger ins mediale Getümmel stürzen, Massenmedien konstant Ängste hochhalten und Menschen - wie im Fall Kachelmann oder Benaissa - vor das hysterische Tribunal der Öffentlichkeit gezerrt werden. Dass Scurati seine Mahnung zur Bedachtsamkeit stellenweise in ein geradezu sinnbetäubendes sprachliches Getöse packt, ist hochgradig verstörend. Doch genau dieser Effekt ist es, der die Qualität seines Buches ausmacht.

ANNIKA MÜLLER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr