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Dieser Band zeigt Nabokov, wie ihn kaum jemand kennt: als Dramatiker. Obwohl er sich niemals wirklich als Bühnenautor verstanden hat, schrieb er, im Schatten seiner Romane, Erzählungen und Gedichte, in seiner ersten, «russischen» Phase mehrere dramatische Texte: in den Jahren 1923/24 vier kurze jugendliche Versdramen und ein langes, 1926 und dann wieder 1937/38 drei abendfüllende «dramatische Komödien» für russischsprachige Exiltheater in Berlin und Paris. Die ersten beiden von ihnen gelangten prompt zur Aufführung, beide mit Erfolg, das zweite sogar mit großem. Aber was hieß hier Erfolg? Das…mehr

Produktbeschreibung
Dieser Band zeigt Nabokov, wie ihn kaum jemand kennt: als Dramatiker. Obwohl er sich niemals wirklich als Bühnenautor verstanden hat, schrieb er, im Schatten seiner Romane, Erzählungen und Gedichte, in seiner ersten, «russischen» Phase mehrere dramatische Texte: in den Jahren 1923/24 vier kurze jugendliche Versdramen und ein langes, 1926 und dann wieder 1937/38 drei abendfüllende «dramatische Komödien» für russischsprachige Exiltheater in Berlin und Paris. Die ersten beiden von ihnen gelangten prompt zur Aufführung, beide mit Erfolg, das zweite sogar mit großem.
Aber was hieß hier Erfolg? Das exilrussische Publikum war so dünn, daß zwei beklatschte Aufführungen einen großen und vier einen unerhörten Erfolg darstellten; und das Publikum war eine geschlossene und bald zur gänzlichen Auflösung bestimmte Gesellschaft. Die Aufführung des dritten und interessantesten Stücks «Walzers Erfindung» verhinderte der Krieg; die Premiere konnte erst dreißig Jahre später in Oxford stattfinden, als es nennenswerte russische Kolonien in Westeuropa längst nicht mehr gab. Die Bühnentauglichkeit dieser drei Dramen wurde also nie wirklich erprobt.
Nabokov-Leser werden erstaunt feststellen, daß einige durchgehende Motive seiner Prosa zuerst in diesen Dramen auftauchten, darunter eines ihrer Grundmotive, das auf der Bühne allerdings auch besonders nahelag: die erfundene, die inszenierte Scheinwelt fadenscheinig zu machen, einzureißen, aufzuheben. Das lange, Fragment gebliebene frühe Versdrama «Die Tragödie des Herrn Morn» wird hier erstmals überhaupt veröffentlicht.
Autorenporträt
Vladimir Nabokov wird am 22. April 1899 in St. Petersburg geboren. Nach der Oktoberrevolution flieht die Familie 1919 nach Westeuropa. 1919-1922 in Cambridge Studium der russischen und französischen Literatur. 1922-1937 in Berlin, erste Veröffentlichungen, meist unter dem Pseudonym W. Sirin. 1937-1940 nach der Flucht aus Nazideutschland in Südfrankreich und in Paris, seit 1940 in den USA. 1961-1977 wohnt Nabokov im Palace Hotel in Montreux. Er stirbt am 2. Juli 1977.

Dieter E. Zimmer, geb. 1934, war freier Autor und Übersetzer. Von 1959-1999 war er Redakteur bei DIE ZEIT, davon 1973-1977 Leiter des Feuilletons, danach als Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Psychologie, Biologie, Medizin und Linguistik. Neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen erhielt er den Preis für Wissenschaftspublizistik der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Bei Rowohlt war er u. a. als Herausgeber und Übersetzer für die Nabokov-Gesamtausgabe verantwortlich. Dieter E. Zimmer starb 2020 in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Henker im Halbschlaf
Vladimir Nabokovs Dramen / Von Joachim Kalka

Eine Literaturquizfrage nach Nabokov-Titeln wie "Vagabunden" oder "Walzers Erfindung" würde vielleicht selbst Liebhaber dieses Autors in Verlegenheit bringen. Sie kennen den Erzähler, haben mit der Lektüre der Romane - etwa der frühen "Gabe" - auch einen gewissen Begriff von Nabokovs Virtuosität als Lyriker, doch als Dramatiker ist der große Prosaist fast unbekannt. Insofern ist der nun erschienene Band XV/1 der deutschen Gesamtausgabe (die zweite, bereits erschienene Abteilung des fünfzehnten Bandes gehört dem "Lolita"-Drehbuch) von großem Interesse. Ein dem Autor ferner stehender Leser mag allerdings die Frage stellen: Was, außer Gewissenhaftigkeit, kann der Grund für die Veröffentlichung dieser nach wenigen Aufführungen an russischen Exiltheatern in den zwanziger und dreißiger Jahren mehr oder weniger verschollenen Stücke sein? Ich glaube, hierauf gibt es eine Antwort.

Der Band versammelt in einer nicht chronologischen, sondern sachlichen Anordnung zunächst in einer Gruppe die drei abgeschlossenen Dramen in nicht gebundener Sprache ("Der Mann aus der UdSSR", 1926, "Das Ereignis" und "Walzers Erfindung", beide 1938) und dann die frühen Versdramen der Jahre 1921 bis 1924, über denen - das letzte ausgenommen - trotz schöner Einzelzüge alles in allem als Motto die Bemerkung von Nabokovs Vater stehen kann: der das "Vivian Calmbrood", den anagrammatisch verschlüsselte Autorennamen des ersten Stücks "Vagabunden", für bare Münze nahm und klagte, sein Sohn übersetze anscheinend "aus bloßer Liebe zur Literatur unbedeutende Werke". Charakteristisch ist "Der Großpapa", ein Einakter, der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts irgendwo in der französischen Provinz spielt, wo sich wie in einer verworrenen Halbschlafphantasie auf einem idyllischen Bauernhof der einst durch einen plötzlichen Brand knapp der Guillotine entronnene Aristokrat und der schwachsinnig gewordene, der Bauernfamilie wie ein Kind zugelaufene greise Scharfrichter wiederbegegnen und sich anschicken, die unterbrochene Exekutionszene als bukolischen Albtraum zu wiederholen.

Der wichtigste Fund für den deutschen Leser ist "Die Tragödie des Herrn Morn", der Schlusspunkt (1924) der Versdramen. In diesem seltsam das geträumte nordische Sehnsuchtsreich Zemla aus "Fahles Feuer" vorwegspiegelnden Traumstück findet das bisher ehrgeizigste und leidenschaftlichste Spiel mit den Illusionsebenen statt. Der unvollendete Text, der hier in Prosa wiedergegeben wird, ist erst 1997 auf Russisch erschienen; hier liegt die erste Übersetzung in eine andere Sprache vor. Warum der bedeutende Versuch unvollendet und unpubliziert blieb - die Antwort auf diese Frage gibt der Herausgeber Dieter E. Zimmer, und sie scheint wiederum entscheidend für die Einschätzung von Nabokovs Verhältnis zum Theater überhaupt: "Nabokov könnte über der Arbeit an ,Morn' im Winter 1923/24, gerade weil es sein ehrgeizigstes Vorhaben bis dato war, zu dem Schluß gekommen sein, daß das, was er ausdrücken wollte, sich nicht den Konventionen des Versdramas und der von ihm später ausdrücklich verworfenen Schicksalsdramaturgie anvertrauen ließ. Dann hätte ihn die Arbeit an ,Morn' zu der Einsicht gebracht, daß sein schriftstellerischer Weg in eine ganz andere Richtung gehen müßte." So, wie das Theater als längere und komplexere Form die Lyrik abgelöst hatte, tritt schließlich an die Stelle des Theaters der Roman.

Drei Stücke hat Nabokov nach der Verwerfung des Versdramas noch geschrieben. Die dramatische Form bietet, um den reichen und disparaten Inhalt des Bandes grob zu vereinfachen, Nabokov Gelegenheit, Techniken einzusetzen, die ihn faszinieren. Das mir als wichtigster dramatischer Versuch Nabokovs erscheinende "Ereignis" ist so etwas wie eine liebevolle, ungeheuerliche Paraphrase von Nabokovs Beobachtung, dass Gogol dazu neigt, Figuren, die niemals auf der Szene auftauchen und über die lediglich von den Anwesenden beiläufig gesprochen wird, mit einem üppigen kleinen Eigenleben auszustatten. Gogol zählt zu den Autoren, die Nabokov am meisten - und man darf vielleicht sagen: am tiefsten - bewundert hat. Selten ist man dem eigenen Anliegen des Autors Nabokov so nahe wie in seinen Reflexionen über Gogols Techniken. Gogols Größe liegt für Nabokov auch darin, dass diese Homunkuli nie wieder auftauchen - während in dem von Nabokov mit Verachtung bedachten konventionellen Stück die kunstvoll beiläufige Erwähnung "des Fremden mit dem australischen Akzent oder des Onkels mit dem lustigen Hobby" die unbedingt verlässliche Ankündigung ist, dass der Genannte sogleich die Bühne betritt. Die Autonomie dieses sprachlichen Zwischenreiches bei Gogol, bevölkert von kleinen schwebenden Grimassen, hat Nabokov fasziniert. In "Das Ereignis" probiert er eine radikale Variante dieser Technik (und gleichzeitig einiger anderer) durch: Das ganze Stück über warten die Bühnenfiguren auf den katastrophalen Auftritt eines gefürchteten oder heimlich ersehnten Mannes, der plötzlich wieder in der Stadt aufgetaucht ist - sie aber, wie vor dem letzten Vorhang durch eine Zufallsbemerkung klar wird, auch bereits wieder verlassen hat.

So, wie im "Revisor" zwei miteinander (bis auf einen Buchstaben) völlig verwechselbare Figuren auftreten, die einander ständig unterbrechenden kleinen, dicken klatschsüchtigen Gutsbesitzer Pjotr Iwanowitsch Bobtschinski und Pjotr Iwanowitsch Dobtschinski, tritt im "Ereignis" eine mit sich identische Zwillingsfigur (zu zwei verschiedenen Zeitpunkten) auf. Hinter komischen Divertimenti steht nicht nur das Spiel mit der Theaterillusion, es geht in ihnen auch jene Kontingenz um, deren umständliche Schilderung einer für das Stück folgenlosen Banalität der gogolschen Technik der unwesentlichen Abschweifung folgt. Nabokov sieht in diesen Folgenlosigkeit den höheren Realismus.

Hier könnte man einen kritischen Satz von ihm zitieren: "In einer Tragödie" (das ist jetzt der negative Begriff für ein traditionelles, perfekt gezimmertes und hässlich knarrende Stück) "verläuft nie etwas einfach im Sande - obwohl es vielleicht eine der Tragödien des Lebens ist, daß selbst die tragischsten Situationen einfach im Sande verlaufen" - die tragischsten Situationen "fizzle out", wie es im Englischen heißt, mit einem Verb, das quasi einen nicht losgehenden, ein wenig vor sich hin zischenden und dann verlegen erlöschenden Feuerwerkskörper beschreibt. Das steht in dem Essay "Die Tragödie der Tragödie", wo Nabokov versucht, Umrisse einer Ästhetik des Dramatischen zu entwerfen - und hier rechnet er mit der Tradition der pièce bien faite, mit ihrem leeren Ballett aus Ursache und Wirkung, ihrer törichten Folgerichtigkeit und "Unerbittlichkeit" ab. Das ungelöste Problem fast aller Theaterstücke liegt genau darin, dass dem Chaos der Lebenszufälle eine falsche Ordnung übergestülpt wird. (Von Tschechows bekannten Satz, das Gewehr, das im ersten Akt an der Wand hängt, müsse im letzten auch abgefeuert werden, sagt er an anderer Stelle, dies könne nur die irritierte Antwort des Autors an einen neugierigen Langweiler gewesen sein, der sich nach den Betriebsgeheimnissen des dramatischen Handwerks erkundigte.) Ein Schlüssel für "Das Ereignis" ist hier zu finden: Hier geht es um die Demonstration, dass das Lauern auf das logische Losgehen derartiger dramatischer Gewehre bloß unfreiwillig komisch ist. Stattdessen rücken in den Mittelpunkt des Interesses "Schönheit und Schrecken des Zufalls" und die seltsamen tragikomischen (durch keine Handlungslogik verbundenen) Einzelheiten eines dummen kleinen Lebens. "Liebkosen Sie die Einzelheiten", hat Nabokov als Dozent seinen Studenten als Lektürenanweisung gegeben. Er tut dies auf anderer Ebene natürlich selbst unablässig - er, der, wie er einmal schreibt, sich auch deshalb nicht für das Theater eignet, weil ihm die Zersplitterung von Kreativität, die für eine Inszenierung notwendig ist, unerträglich erscheint - er wollte nicht nur das Stück schreiben, sondern es auch einstudieren, alle Details überwachen, Bühnenbild und Kostüme schaffen und "als Gast oder Geist" die Kontrolle unter den Schauspielern auf der Bühne ausüben. (Das heißt am Ende: einen Roman schaffen.)

Unter den Einzelheiten nehmen die peinlichen eine privilegierte Stellung ein. Sie sind entlarvend, aber auch - das ist vielleicht die besondere Epiphanie von "Das Ereignis" - in bestimmten Momenten rührend. Nabokovs ästhetisches Interesse an der Vulgarität ist bekannt; man könnte fast mit Karl Kraus' Prägung sagen, dass er in die Manifestationen des Vulgären "verhaßt" ist. Er hat in seinen Meditationen über das russische Wort poschlost (das mit dem deutschen "Kitsch" verschwägert, aber nicht identisch ist) diese Vulgarität studiert, hat Parallelen solcher Studien in "Madame Bovary" und den "Toten Seelen" entdeckt und sieht im poschlost eine Art alberner Erscheinungsform des Bösen.

Doch der Verachtung für das Prätentiöse, Gemeine entspricht seltsam eine Art Mitleid für poschlost-Objekte, wenn sie verstaubt und zerbrochen in der Ecke liegen, eine fast verlegene Zuneigung zu den missachteten Gegenständen, eine in Opposition zum wohlfeilen guten Geschmack stehende franziskanische Caritas angesichts der ausgestoßenen Nippes. Diese Liebe zu den abseitig-schäbigen, hässlich-hilflosen Dingen hat Nabokov in seiner Lieblingserzählung "Frühling in Fialta" sadistisch verfremdet in Ferdinands Kauf des monströsen Souvenier-Tintenfasses dargestellt. Solche entsetzlichen Objekte - etwa das Leuchtenweibchen im Pensionszimmer des fünften Aktes von "Der Mann aus der UdSSR" - sind wie Brennpunkte eines Interesses am Hässlichen, an jenem Moment, wo der falsche Prunk des Kitschobjekts in "Erbärmlichkeit" umschlägt. Diese Objekte wiederholen stumm das Schicksal Nabokovscher Figuren.

Das Bild von Nabokov als kühlem, sardonisch-souveränem Zauberer, der in vollkommener Desinvolture den Zuckungen seiner Figuren zusieht, ist mittlerweile zum Klischee geworden, und es deckt die Komplexität seines Verhältnisses zu seinen Schöpfungen, zum Leben seiner Geschöpfe, zu. Vielleicht ist gerade das Erscheinen der Theaterstücke ein geeigneter Anlass, auf das scheinbare Paradoxon von Distanz und Mitgefühl im Werk dieses großen Dichters hinzuweisen. Dmitri Nabokov, dessen 1984 erschienene amerikanische Übersetzung der Stücke ("The Man from the USSR and other plays") lange Zeit für den des Russischen nicht mächtigen Leser der einzige Zugang zu den Texten war, zitiert in der Einleitung zu jenem Band den Kritiker Denis Donoghue. Der schrieb über Nabokov, er beweise "außergewöhnliche Zärtlichkeit gegenüber zerbrochenen Gegenständen, verstümmelten Existenzen und Menschen, die nicht das Geringste von sich selbst wissen". Dieses Zitat dient dem Sohn Dmitri als Waffe in einem intimen Gefecht gegen diejenigen Leser (Edmund Wilson wird namentlich genannt), die in Nabokov lediglich den "herzlosen Puppenspieler" sehen. Aber es hat über diesen Zweck hinaus Gültigkeit. Die kühle, raffiniert kontrollierte Technik schließt nur scheinbar die Emotion aus. Aus seinen Vorlesungen zur europäischen Literatur ist in dem Dickens gewidmeten Abschnitt ein unerwarteter Satz erhalten, der ein verborgenes Engagement des Autors ausdrückt: Nach einem längeren Zitat aus "Bleak House", das die Begegnung mit einem dreizehnjährigen Mädchen schildert, welches als Wäscherin seine kleinen Geschwister ernährt, schreibt Nabokov nicht ohne Schärfe: "Ich würde ungern hören, daß man diesem Zug, der durch den ganzen Roman ,Bleak House' geht, den Vorwurf des Gefühlsseligen macht. Ich möchte behaupten, daß Leute, die das Gefühlsselige denunzieren, im allgemeinen nicht wissen, was Gefühl ist."

Vielleicht markiert Nabokovs Liaison mit dem Drama den Punkt, wo sich die Liebe zu den Details noch einmal kristallisiert hat. Vielleicht sollte man "Das Ereignis" endlich wieder aufführen.

Vladimir Nabokov: "Gesammelte Werke". Band XV/1: Dramen. Herausgegeben von Dieter E. Zimmer. Aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze und Sabine Baumann. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 583 S., geb., 68,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Das Erscheinen früher dramatischer Werke des russisch-amerikanischen Schriftstellers in der Reinbekschen Ausgabe der Gesammelten Werke nimmt Joachim Kalka zum Anlass, sich mit der eher unbekannten Entwicklung des Autors vom Lyriker über den Dramatiker zum Romancier zu befassen. Er sieht darin - sekundiert von dem Herausgeber Dieter E.Zimmer - eine immer stärker sich entfaltende Ablehnung des "leeren Balletts aus Ursache und Wirkung" und eine Hinwendung zur an Gogol geschulten "Abschweifung" und "Folgenlosigkeit", die ihm als tragische Lebenssituationen mehr und mehr aufscheinen. Kalka hebt besonder das Drama "Ereignis" hervor, das er in diesem Sinne auffasst, nämlich als Kristallisationspunkt Nabokovscher "Liebe zu den Details" und wünscht sich seine Wiederentdeckung auch auf der Bühne.

© Perlentaucher Medien GmbH
Henker im Halbschlaf
Vladimir Nabokovs Dramen / Von Joachim Kalka

Eine Literaturquizfrage nach Nabokov-Titeln wie "Vagabunden" oder "Walzers Erfindung" würde vielleicht selbst Liebhaber dieses Autors in Verlegenheit bringen. Sie kennen den Erzähler, haben mit der Lektüre der Romane - etwa der frühen "Gabe" - auch einen gewissen Begriff von Nabokovs Virtuosität als Lyriker, doch als Dramatiker ist der große Prosaist fast unbekannt. Insofern ist der nun erschienene Band XV/1 der deutschen Gesamtausgabe (die zweite, bereits erschienene Abteilung des fünfzehnten Bandes gehört dem "Lolita"-Drehbuch) von großem Interesse. Ein dem Autor ferner stehender Leser mag allerdings die Frage stellen: Was, außer Gewissenhaftigkeit, kann der Grund für die Veröffentlichung dieser nach wenigen Aufführungen an russischen Exiltheatern in den zwanziger und dreißiger Jahren mehr oder weniger verschollenen Stücke sein? Ich glaube, hierauf gibt es eine Antwort.

Der Band versammelt in einer nicht chronologischen, sondern sachlichen Anordnung zunächst in einer Gruppe die drei abgeschlossenen Dramen in nicht gebundener Sprache ("Der Mann aus der UdSSR", 1926, "Das Ereignis" und "Walzers Erfindung", beide 1938) und dann die frühen Versdramen der Jahre 1921 bis 1924, über denen - das letzte ausgenommen - trotz schöner Einzelzüge alles in allem als Motto die Bemerkung von Nabokovs Vater stehen kann: der das "Vivian Calmbrood", den anagrammatisch verschlüsselte Autorennamen des ersten Stücks "Vagabunden", für bare Münze nahm und klagte, sein Sohn übersetze anscheinend "aus bloßer Liebe zur Literatur unbedeutende Werke". Charakteristisch ist "Der Großpapa", ein Einakter, der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts irgendwo in der französischen Provinz spielt, wo sich wie in einer verworrenen Halbschlafphantasie auf einem idyllischen Bauernhof der einst durch einen plötzlichen Brand knapp der Guillotine entronnene Aristokrat und der schwachsinnig gewordene, der Bauernfamilie wie ein Kind zugelaufene greise Scharfrichter wiederbegegnen und sich anschicken, die unterbrochene Exekutionszene als bukolischen Albtraum zu wiederholen.

Der wichtigste Fund für den deutschen Leser ist "Die Tragödie des Herrn Morn", der Schlusspunkt (1924) der Versdramen. In diesem seltsam das geträumte nordische Sehnsuchtsreich Zemla aus "Fahles Feuer" vorwegspiegelnden Traumstück findet das bisher ehrgeizigste und leidenschaftlichste Spiel mit den Illusionsebenen statt. Der unvollendete Text, der hier in Prosa wiedergegeben wird, ist erst 1997 auf Russisch erschienen; hier liegt die erste Übersetzung in eine andere Sprache vor. Warum der bedeutende Versuch unvollendet und unpubliziert blieb - die Antwort auf diese Frage gibt der Herausgeber Dieter E. Zimmer, und sie scheint wiederum entscheidend für die Einschätzung von Nabokovs Verhältnis zum Theater überhaupt: "Nabokov könnte über der Arbeit an ,Morn' im Winter 1923/24, gerade weil es sein ehrgeizigstes Vorhaben bis dato war, zu dem Schluß gekommen sein, daß das, was er ausdrücken wollte, sich nicht den Konventionen des Versdramas und der von ihm später ausdrücklich verworfenen Schicksalsdramaturgie anvertrauen ließ. Dann hätte ihn die Arbeit an ,Morn' zu der Einsicht gebracht, daß sein schriftstellerischer Weg in eine ganz andere Richtung gehen müßte." So, wie das Theater als längere und komplexere Form die Lyrik abgelöst hatte, tritt schließlich an die Stelle des Theaters der Roman.

Drei Stücke hat Nabokov nach der Verwerfung des Versdramas noch geschrieben. Die dramatische Form bietet, um den reichen und disparaten Inhalt des Bandes grob zu vereinfachen, Nabokov Gelegenheit, Techniken einzusetzen, die ihn faszinieren. Das mir als wichtigster dramatischer Versuch Nabokovs erscheinende "Ereignis" ist so etwas wie eine liebevolle, ungeheuerliche Paraphrase von Nabokovs Beobachtung, dass Gogol dazu neigt, Figuren, die niemals auf der Szene auftauchen und über die lediglich von den Anwesenden beiläufig gesprochen wird, mit einem üppigen kleinen Eigenleben auszustatten. Gogol zählt zu den Autoren, die Nabokov am meisten - und man darf vielleicht sagen: am tiefsten - bewundert hat. Selten ist man dem eigenen Anliegen des Autors Nabokov so nahe wie in seinen Reflexionen über Gogols Techniken. Gogols Größe liegt für Nabokov auch darin, dass diese Homunkuli nie wieder auftauchen - während in dem von Nabokov mit Verachtung bedachten konventionellen Stück die kunstvoll beiläufige Erwähnung "des Fremden mit dem australischen Akzent oder des Onkels mit dem lustigen Hobby" die unbedingt verlässliche Ankündigung ist, dass der Genannte sogleich die Bühne betritt. Die Autonomie dieses sprachlichen Zwischenreiches bei Gogol, bevölkert von kleinen schwebenden Grimassen, hat Nabokov fasziniert. In "Das Ereignis" probiert er eine radikale Variante dieser Technik (und gleichzeitig einiger anderer) durch: Das ganze Stück über warten die Bühnenfiguren auf den katastrophalen Auftritt eines gefürchteten oder heimlich ersehnten Mannes, der plötzlich wieder in der Stadt aufgetaucht ist - sie aber, wie vor dem letzten Vorhang durch eine Zufallsbemerkung klar wird, auch bereits wieder verlassen hat.

So, wie im "Revisor" zwei miteinander (bis auf einen Buchstaben) völlig verwechselbare Figuren auftreten, die einander ständig unterbrechenden kleinen, dicken klatschsüchtigen Gutsbesitzer Pjotr Iwanowitsch Bobtschinski und Pjotr Iwanowitsch Dobtschinski, tritt im "Ereignis" eine mit sich identische Zwillingsfigur (zu zwei verschiedenen Zeitpunkten) auf. Hinter komischen Divertimenti steht nicht nur das Spiel mit der Theaterillusion, es geht in ihnen auch jene Kontingenz um, deren umständliche Schilderung einer für das Stück folgenlosen Banalität der gogolschen Technik der unwesentlichen Abschweifung folgt. Nabokov sieht in diesen Folgenlosigkeit den höheren Realismus.

Hier könnte man einen kritischen Satz von ihm zitieren: "In einer Tragödie" (das ist jetzt der negative Begriff für ein traditionelles, perfekt gezimmertes und hässlich knarrende Stück) "verläuft nie etwas einfach im Sande - obwohl es vielleicht eine der Tragödien des Lebens ist, daß selbst die tragischsten Situationen einfach im Sande verlaufen" - die tragischsten Situationen "fizzle out", wie es im Englischen heißt, mit einem Verb, das quasi einen nicht losgehenden, ein wenig vor sich hin zischenden und dann verlegen erlöschenden Feuerwerkskörper beschreibt. Das steht in dem Essay "Die Tragödie der Tragödie", wo Nabokov versucht, Umrisse einer Ästhetik des Dramatischen zu entwerfen - und hier rechnet er mit der Tradition der pièce bien faite, mit ihrem leeren Ballett aus Ursache und Wirkung, ihrer törichten Folgerichtigkeit und "Unerbittlichkeit" ab. Das ungelöste Problem fast aller Theaterstücke liegt genau darin, dass dem Chaos der Lebenszufälle eine falsche Ordnung übergestülpt wird. (Von Tschechows bekannten Satz, das Gewehr, das im ersten Akt an der Wand hängt, müsse im letzten auch abgefeuert werden, sagt er an anderer Stelle, dies könne nur die irritierte Antwort des Autors an einen neugierigen Langweiler gewesen sein, der sich nach den Betriebsgeheimnissen des dramatischen Handwerks erkundigte.) Ein Schlüssel für "Das Ereignis" ist hier zu finden: Hier geht es um die Demonstration, dass das Lauern auf das logische Losgehen derartiger dramatischer Gewehre bloß unfreiwillig komisch ist. Stattdessen rücken in den Mittelpunkt des Interesses "Schönheit und Schrecken des Zufalls" und die seltsamen tragikomischen (durch keine Handlungslogik verbundenen) Einzelheiten eines dummen kleinen Lebens. "Liebkosen Sie die Einzelheiten", hat Nabokov als Dozent seinen Studenten als Lektürenanweisung gegeben. Er tut dies auf anderer Ebene natürlich selbst unablässig - er, der, wie er einmal schreibt, sich auch deshalb nicht für das Theater eignet, weil ihm die Zersplitterung von Kreativität, die für eine Inszenierung notwendig ist, unerträglich erscheint - er wollte nicht nur das Stück schreiben, sondern es auch einstudieren, alle Details überwachen, Bühnenbild und Kostüme schaffen und "als Gast oder Geist" die Kontrolle unter den Schauspielern auf der Bühne ausüben. (Das heißt am Ende: einen Roman schaffen.)

Unter den Einzelheiten nehmen die peinlichen eine privilegierte Stellung ein. Sie sind entlarvend, aber auch - das ist vielleicht die besondere Epiphanie von "Das Ereignis" - in bestimmten Momenten rührend. Nabokovs ästhetisches Interesse an der Vulgarität ist bekannt; man könnte fast mit Karl Kraus' Prägung sagen, dass er in die Manifestationen des Vulgären "verhaßt" ist. Er hat in seinen Meditationen über das russische Wort poschlost (das mit dem deutschen "Kitsch" verschwägert, aber nicht identisch ist) diese Vulgarität studiert, hat Parallelen solcher Studien in "Madame Bovary" und den "Toten Seelen" entdeckt und sieht im poschlost eine Art alberner Erscheinungsform des Bösen.

Doch der Verachtung für das Prätentiöse, Gemeine entspricht seltsam eine Art Mitleid für poschlost-Objekte, wenn sie verstaubt und zerbrochen in der Ecke liegen, eine fast verlegene Zuneigung zu den missachteten Gegenständen, eine in Opposition zum wohlfeilen guten Geschmack stehende franziskanische Caritas angesichts der ausgestoßenen Nippes. Diese Liebe zu den abseitig-schäbigen, hässlich-hilflosen Dingen hat Nabokov in seiner Lieblingserzählung "Frühling in Fialta" sadistisch verfremdet in Ferdinands Kauf des monströsen Souvenier-Tintenfasses dargestellt. Solche entsetzlichen Objekte - etwa das Leuchtenweibchen im Pensionszimmer des fünften Aktes von "Der Mann aus der UdSSR" - sind wie Brennpunkte eines Interesses am Hässlichen, an jenem Moment, wo der falsche Prunk des Kitschobjekts in "Erbärmlichkeit" umschlägt. Diese Objekte wiederholen stumm das Schicksal Nabokovscher Figuren.

Das Bild von Nabokov als kühlem, sardonisch-souveränem Zauberer, der in vollkommener Desinvolture den Zuckungen seiner Figuren zusieht, ist mittlerweile zum Klischee geworden, und es deckt die Komplexität seines Verhältnisses zu seinen Schöpfungen, zum Leben seiner Geschöpfe, zu. Vielleicht ist gerade das Erscheinen der Theaterstücke ein geeigneter Anlass, auf das scheinbare Paradoxon von Distanz und Mitgefühl im Werk dieses großen Dichters hinzuweisen. Dmitri Nabokov, dessen 1984 erschienene amerikanische Übersetzung der Stücke ("The Man from the USSR and other plays") lange Zeit für den des Russischen nicht mächtigen Leser der einzige Zugang zu den Texten war, zitiert in der Einleitung zu jenem Band den Kritiker Denis Donoghue. Der schrieb über Nabokov, er beweise "außergewöhnliche Zärtlichkeit gegenüber zerbrochenen Gegenständen, verstümmelten Existenzen und Menschen, die nicht das Geringste von sich selbst wissen". Dieses Zitat dient dem Sohn Dmitri als Waffe in einem intimen Gefecht gegen diejenigen Leser (Edmund Wilson wird namentlich genannt), die in Nabokov lediglich den "herzlosen Puppenspieler" sehen. Aber es hat über diesen Zweck hinaus Gültigkeit. Die kühle, raffiniert kontrollierte Technik schließt nur scheinbar die Emotion aus. Aus seinen Vorlesungen zur europäischen Literatur ist in dem Dickens gewidmeten Abschnitt ein unerwarteter Satz erhalten, der ein verborgenes Engagement des Autors ausdrückt: Nach einem längeren Zitat aus "Bleak House", das die Begegnung mit einem dreizehnjährigen Mädchen schildert, welches als Wäscherin seine kleinen Geschwister ernährt, schreibt Nabokov nicht ohne Schärfe: "Ich würde ungern hören, daß man diesem Zug, der durch den ganzen Roman ,Bleak House' geht, den Vorwurf des Gefühlsseligen macht. Ich möchte behaupten, daß Leute, die das Gefühlsselige denunzieren, im allgemeinen nicht wissen, was Gefühl ist."

Vielleicht markiert Nabokovs Liaison mit dem Drama den Punkt, wo sich die Liebe zu den Details noch einmal kristallisiert hat. Vielleicht sollte man "Das Ereignis" endlich wieder aufführen.

Vladimir Nabokov: "Gesammelte Werke". Band XV/1: Dramen. Herausgegeben von Dieter E. Zimmer. Aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze und Sabine Baumann. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 583 S., geb., 68,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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