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Zu dem sozusagen unter Tage vollbrachten Lebenswerk, mit dem Imre Kertész die literarische Welt seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs überrascht, gehört neben den großen Romanen seiner 'Trilogie der Schicksallosigkeit' die hier erstmals auf deutsch vorgelegte Langerzählung Der Spurensucher: die Geschichte eines Mannes, der viele Jahre nach seiner Befreiung aus Buchenwald zum ersten Mal an den Ort des Grauens und tiefster Demütigung zurückkehrt. In den Erzählungen Die englische Flagge und Protokoll spiegelt der inzwischen weltweit bekannte Autor dagegen seine Erfahrung zweier einander…mehr

Produktbeschreibung
Zu dem sozusagen unter Tage vollbrachten Lebenswerk, mit dem Imre Kertész die literarische Welt seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs überrascht, gehört neben den großen Romanen seiner 'Trilogie der Schicksallosigkeit' die hier erstmals auf deutsch vorgelegte Langerzählung Der Spurensucher: die Geschichte eines Mannes, der viele Jahre nach seiner Befreiung aus Buchenwald zum ersten Mal an den Ort des Grauens und tiefster Demütigung zurückkehrt. In den Erzählungen Die englische Flagge und Protokoll spiegelt der inzwischen weltweit bekannte Autor dagegen seine Erfahrung zweier einander ablösender Totalitarismen aus der Perspektive der ersten Nachwendezeit: eine Summa osteuropäischen Seins in diesem Jahrhundert.
Autorenporträt
Kertész, ImreImre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 als 14-Jähriger nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. In seinem "Roman eines Schicksallosen" hat er diese Erfahrung auf außergewöhnliche Weise verarbeitet. Das Buch erschien zuerst 1975 in Ungarn, wo er während der sozialistischen Ära jedoch Außenseiter blieb und vor allem von Übersetzungen lebte (u.a. Nietzsche, Hofmannsthal, Schnitzler, Freud, Joseph Roth, Wittgenstein, Canetti). Erst nach der europäischen Wende gelangte er zu weltweitem Ruhm, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Seitdem lebte Imre Kertész überwiegend in Berlin und kehrte erst 2012, schwer erkrankt, nach Budapest zurück, wo er 2016 starb.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2002

Der eiserne Vorhang
Zwei Erzählungen des Nobelpreisträgers Imre Kertész

Am heutigen Samstag wird Imre Kertész in Stockholm seine Nobel Lecture mit dem Titel "Heureka!" halten, die obligatorische Rede, mit der sich der Nobelpreisträger für Literatur bei der Schwedischen Akademie für ihre Wahl bedankt und zugleich ein Forum betritt, das ihm weltweite Aufmerksamkeit garantiert. Kertész war bereits vor der Stockholmer Entscheidung ein Autor von hohem internationalen Renommee, aber nicht alle seine Bücher fanden die Aufmerksamkeit, die sie verdient haben, wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie im Schatten von Kertész' Hauptwerk stehen, dem "Roman eines Schicksallosen".

Zu den wenig wahrgenommenen Titeln gehört auch der Band "Die englische Flagge", in dem der Rowohlt Verlag vor drei Jahren einige Erzählungen von Kertész versammelte. Jetzt sind zwei der darin enthaltenen Texte neu erschienen, jedoch in verschiedenen Verlagen: Die titelgebende Erzählung über "Die englische Flagge" im Rowohlt Verlag, der etwas längere, novellistisch anmutende Text "Der Spurensucher" bei Suhrkamp. Die kuriose Situation ist durch Kertesz' Wechsel von Rowohlt zu Suhrkamp entstanden; nun bringen der alte und der neue Verlag zwei Werke des Nobelpreisträgers heraus, die zuvor sinnvoll in einem Band versammelt waren.

Beide Texte sind in einer Zeit nach dem Ende des NS-Regimes angesiedelt, das den Halbwüchsigen ins Konzentrationslager verschleppen ließ, beide Male spielt die Handlung in einem sozialistischen System. "Die englische Flagge" berichtet von den Nachkriegsjahren in Ungarn bis zum Aufstand des Jahres 1956; "Der Spurensucher" spielt in der DDR, genauer in Weimar und Buchenwald, und geht auf das Jahr 1962 zurück, als Kertész zum ersten Mal nach seiner Befreiung aus Auschwitz in ein Konzentrationslager zurückkehrte. Beide Texte zeichnen sich durch eine Sprache aus, der Kertész selbst eine "gewisse stilistische Euphorie" bescheinigt, die er im Nachwort zum "Spurensucher" als Folge jener "rigiden Sprachdisziplin" beschreibt, die er sich während der Arbeit am "Roman eines Schicksallosen" auferlegt hatte.

Tatsächlich tritt uns nun, da die Fesseln gelockert sind, ein anderer Kertész entgegen: parabelhaft und stark an Kafka gemahnend, zur philosophischen Sentenz neigend, immer wieder auch erzähltheoretische Passagen einstreuend. Was im "Spurensucher" untergründig mitschwingt, wird in der "Englischen Flagge" offen thematisiert: das Problem der Inkongruenz und Unvereinbarkeit von Leben und Literatur. Aber darunter, auf einer tieferen Ebene, liegt ein Frage von noch größerem Gewicht: Wie ist nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Stalinismus ein Weiterleben möglich? Und wie entgeht die Literatur dem Vorwurf der Lüge angesichts dessen, was sich nicht erzählen läßt?

"Der Spurensucher" kündet vom Verlust einer vermeintlichen Selbstgewißheit. Die Titelfigur, auch der "Abgesandte" genannt, will nach Buchenwald fahren und führt zuvor ein Gespräch mit dem DDR-Intellektuellen Hermann. Der Auftrag wird ebensowenig erläutert wie die offenkundig übergeordnete Instanz, in deren Namen der Besuch erfolgt. Mit inquisitorischer Härte und Finesse geht der Spurensucher zu Werk, er erhebt keinerlei konkrete Vorwürfe, läßt indes auch keinen Zweifel daran, daß er Hermann, der sich zunächst durch seine staatlich verordnete antifaschistische Gesinnung gepanzert fühlt, durchaus zum Kreis der Verdächtigen zählt.

In Buchenwald schließlich erkennt er die Aussichtslosigkeit seines Unternehmens. Das Lager ist weitgehend verschwunden, die Baracken sind abgetragen, fast alle Spuren, so scheint es ihm, sind absichtsvoll und gründlich getilgt. Erst als er wieder in der Stadt ist, wird ihm bewußt, daß die Veränderung, die ihn zunächst schockiert hatte, bedeutungslos ist, denn die Dinge bewahren nichts, sie "legen über nichts Rechenschaft ab". Am Ende seiner Reise liest der Abgesandte, der Rechenschaft fordern und Zeugnis ablegen wollte, vom Selbstmord jener Frau im Trauerflor, die ihn zuvor in seinem Hotel angesprochen hatte. Auch sie war eine Überlebende des Lagers.

"Die englische Flagge" beschreibt den Werdegang des Ich-Erzählers von seinen Anfängen als junger Journalist in Budapest über den Umweg der Fabrikarbeit zum Schriftsteller, der nach dem "Erzählen des Abenteuers" zum "Abenteuer des Erzählens" vordringt. Geschildert werden Bildungserlebnisse mit Richard Wagner und Thomas Mann und Alltagserfahrungen im stalinistischen Ungarn, eine Kombination, die zu der Erkenntnis führt, "was für ein eiserner Vorhang zwischen Erzählen und Leben steht, zwischen dem Erzähler und seinem Publikum, zwischen Mensch und Mensch und zwischen dem Menschen und sich selbst, dem Menschen und seinem eigenen Leben". Vor allem der letzte Punkt führt zum großen Thema des Imre Kertész, der Dialektik von Selbstfindung und Selbstverleugnung in der literarischen Arbeit. Am Ende der Erzählung steht die Einsicht, "daß in der hiesigen Welt, die einzig schöpferische Leistung die Selbstverleugnung als schöpferische Leistung war".

Imre Kertész: "Der Spurensucher". Erzählung. Aus dem Ungarischen übersetzt von György Buda. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 130 Seiten, geb., 11, 80 [Euro].

Imre Kertész: "Die englische Flagge". Aus dem Ungarischen übersetzt von Kristin Schwamm. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 94 S., geb., 12,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

In dieser, im Nachkriegsungarn spielenden Erzählung sieht Rezensent Hubert Spiegel das Problem der Inkongruenz von Leben und Literatur offen thematisiert. Vordergründig behandele sie den Werdegang des jungen Journalisten in Budapest "über den Umweg der Fabrikarbeit" zum Schriftsteller. Der Rezensent sah Bildungserlebnisse ebenso wie Alltagserfahrung im sozialistischen Ungarn beschrieben. Freilich in einer parabelhaften und an Kafka gemahnenden Sprache. Zu Unrecht gehöre die Erzählung zu den wenig wahrgenommenen Texten des Autors, schreibt der Rezensent, der hier auch die Frage behandelt sah, wie nach der Erfahrung von Nationalsozialismus und Stalinismus ein Weiterleben überhaupt noch möglich sei.

© Perlentaucher Medien GmbH