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Meine Großmütter hießen Marthe und Mathilde. Ihre Vornamen begannen mit derselben Silbe. Sie sind im selben Jahr, 1902, geboren. Mathilde am 20. Februar, Marthe am 20. September. Sie sind beide im Jahr 2001 gestorben. Mit ein paar Wochen Abstand, ganz am Anfang des neuen Jahrhunderts, kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag. Marthe und Mathilde haben das zwanzigste Jahrhundert Seite an Seite durchwandert. Sie waren Freundinnen, seit sie sechs waren. Auf den Stufen einer Vortreppe, die am Vogesenwall 6 im Viertel Saint Joseph hinter dem Bahnhof von Colmar zu einem winzigen Gärtchen hinunterführt, sind sie sich zum ersten Mal begegnet ... …mehr

Produktbeschreibung
Meine Großmütter hießen Marthe und Mathilde. Ihre Vornamen begannen mit derselben Silbe. Sie sind im selben Jahr, 1902, geboren. Mathilde am 20. Februar, Marthe am 20. September. Sie sind beide im Jahr 2001 gestorben. Mit ein paar Wochen Abstand, ganz am Anfang des neuen Jahrhunderts, kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag.
Marthe und Mathilde haben das zwanzigste Jahrhundert Seite an Seite durchwandert. Sie waren Freundinnen, seit sie sechs waren. Auf den Stufen einer Vortreppe, die am Vogesenwall 6 im Viertel Saint Joseph hinter dem Bahnhof von Colmar zu einem winzigen Gärtchen hinunterführt, sind sie sich zum ersten Mal begegnet ...
Autorenporträt
Hugues, PascalePascale Hugues, geboren in Straßburg, ist Journalistin und Schriftstellerin. Mit ihrem ersten Buch «Marthe und Mathilde» gelang ihr auf Anhieb ein großer Erfolg. Für ihr Buch «Ruhige Straße in guter Wohnlage» erhielt sie den Prix Simone Veil und den Europäischen Buchpreis. Pascale Hugues ist Deutschlandkorrespondentin des französischen Nachrichtenmagazins «Le Point», Kolumnistin beim «Tagesspiegel» und schreibt regelmäßig für verschiedene deutsche Medien. Sie lebt in Berlin.

Künzli, LisLis Künzli, geboren bei Luzern, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und lebt heute in Toulouse. Die Übersetzerin von Amin Maalouf, Atiq Rahimi, Camille Laurens, Pierre Bayard, Pascale Hugues, Marivaux, S. Corinna Bille u. a. wurde 2009 mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.03.2009

Immer besetzt
Pascale Hugues erzählt von ihren Großmüttern im Elsass
Hübsch, aber schwierig – so könnte man das Elsass beschreiben. Die Grenzregion mit ihren sanft ansteigenden Weinbergen, die in romantische Mischwälder und schließlich in karge Vogesenkämme übergehen, betrachten Deutsche gerne als heimisches Territorium; wie selbstverständlich fahren sie zur Weinprobe ins pittoreske Riquewihr, zum Bummeln ins Klein-Venedig von Colmar oder zum Einkaufen nach Straßburg. Die Touristen, die in Scharen das Elsass heimsuchen, merken freilich wenig von der Schizophrenie dieses Landstriches, den Tomi Ungerer einmal derb mit einer Toilette verglich: immer besetzt. Die Franzosen wiederum nehmen das Elsass nicht wirklich für voll. Für sie gehört es – anders als die Grenzregionen Savoyen oder Pyrenäen – nicht zu Kern-Frankreich. Das zeigt sich auch daran, dass das Elsass erst im vergangenen Jahrzehnt vermehrt zum Ziel französischer Touristen geworden ist, ironischerweise wegen der von Deutschland abgeschauten Weihnachtsmärkte, die es inzwischen in jedem größeren Dorf gibt.
Als Symptom für die Distanziertheit Frankreichs zum Elsass darf auch die Tatsache gelten, dass Pascale Hugues’ Buch „Marthe und Mathilde” zunächst auf deutsch erschienen ist (in diesem Sommer soll es auch in französisch gedruckt werden), obwohl die gebürtige Straßburgerin es auf französisch geschrieben hat. Hugues, langjährige Korrespondentin französischer Zeitungen und Magazine in Berlin, schildert das eng verwobene Schicksal ihrer Großmütter: Beide sind 1902 geboren, sie freundeten sich als kleine Mädchen an, ihre Kinder heirateten. Beide wohnten bis zu ihrem nur wenige Wochen auseinanderliegenden Tod im Alter von 99 Jahren, Zeit ihres Lebens in Colmar.
Eng verbunden, und doch durch vieles getrennt: Marthe und Mathilde erleben die wechselvolle Geschichte des Elsass auf höchst unterschiedliche Weise. Denn Marthe ist Deutsche und Mathilde Französin. Als die französische Armee am 8. November 1918 durch die Straßen von Colmar defiliert, jubelt Marthe und wirft einem reitenden Offizier, ihrem späteren Mann, ein Bouquet weißer Rosen vor das Pferd. Mathilde schweigt derweil, ahnt sie doch, dass für ihre Familie schlechte Zeiten anbrechen könnten. Ihr Vater Karl Georg Goerke, ein wohl situierter Geschäftsmann, ist „feindlicher Bürger” geworden, auch wenn er als Ehemann einer Belgierin alles andere als ein eingefleischter deutscher Nationalist ist. Goerke verbarrikadiert sich in seinem Arbeitszimmer, während Marthes Vater, der Franzose Henri Réling, hurtig die Wohnzimmeruhr auf französische Zeit umstellt und die Mutter Betttücher indigoblau färbt und daraus Trikoloren näht.
Über Nacht bricht der Hass hervor, der sich in den sich in den vier Jahren Militärdiktatur angestaut hat. Die Elsässer verzeihen den deutschen Soldaten und Beamten ihre Arroganz nicht. Vergessen ist der wirtschaftliche Aufschwung im Elsass, das seit 1871 Reichsland ist, vergessen sind die Sozialgesetze Bismarcks, vergessen ist die Autonomie, die das deutsche Reich dem Grenzland zugestanden hatte. Französischer Nationalismus bahnt sich seinen Weg, die Elsässer wollen mit aller Macht Franzosen sein. Die Geschäfte verramschen deutsche Ware, um Platz für Spitzen aus Valenciennes, Foulards aus Lyon, Seife aus Marseille und Schuhe aus Paris zu machen. Deutsch wird zur Fremdsprache erklärt.
Und wie fast immer nach einem Krieg werden Menschen vertrieben. 24 Stunden Zeit haben die Deutschen, um abzureisen, dreißig Kilo Gepäck darf ein Erwachsener mitnehmen, 2000 Mark pro Familie sind erlaubt. Der Gymnasiallehrer muss gehen; der Versicherungsagent, der Anwalt, der Dentist, Ärzte sind unter den Flüchtlingen. Doch darüber redet später niemand gerne, auch nicht Großmutter Mathilde, und Marthe schon gar nicht. Urgroßvater Goerke verliert seine Arbeit, er will dennoch bleiben, flüchtet sich in sein Zuhause, um ja nicht aufzufallen. Doch sein Leben hat einen Knacks bekommen, von dem er sich nie mehr erholen wird.
Diesen dunkleren Teil ihrer Geschichte verdrängen viele Elsässer auch heute noch gerne. Im Geschichtsunterricht ist selten die Rede von Vertreibungen, ebenso wie man ungerne die Rückkehr der Deutschen 1940 und die Germanisierung thematisiert. Damals kehrt sich die Geschichte des Elsass wieder einmal über Nacht um. Auf der Straße darf nicht mehr französisch gesprochen werden, die Colmarer Statuen von Jeanne d’Arc und General Rapp, des Helden aus dem Ersten Weltkrieg, werden geschleift. Doch über diese Zeit erfährt Autorin Pascale Hugues von ihren Großmüttern Marthe und Mathilde nur wenige Anekdoten. Nichts über die Juden, die über Nacht in aller Eile das Elsass verlassen mussten, wenn sie es denn überhaupt schafften. Nichts vom KZ Natzweiler-Struthof, wohin 52 000 Menschen aus ganz Europa deportiert wurden, wo 22 000 an Hunger starben oder ermordet werden.
Die Einäugigkeit der Elsässer im Hinblick auf ihre Geschichte thematisiert Pascale Hugues. Die Bewohner des lieblichen Landstrichs haben sich immer gerne als Opfer der wechselnden Machthaber dargestellt, zwangsläufig waren sie auch Täter. Erst seit ein paar Jahren beschäftigen sie sich wieder offensiver und selbstkritischer mit ihrer Vergangenheit. „Marthe und Mathilde”, das von der Freundschaft zweier Großmütter, aber vor allem von der verdrängten Geschichte einer schwierigen Region erzählt, leistet dazu einen Beitrag, ohne belehrend zu wirken. Hugues macht einem die Lektüre nicht immer ganz leicht, sie springt zwischen den Episoden – andererseits wird durch diese durchbrochene Chronologie und die collagehafte Erzählung die Lektüre unterhaltsam und kurzweilig. Wer das Elsass liebt, sollte dieses Buch lesen. JEANNE RUBNER
PASCALE HUGUES: Marthe und Mathilde. Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland. Deutsch von Lis Künzli. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008. 288 Seiten, 19,90 Euro.
Marthe und Mathilde Foto: Pascale Hugues/Privatbesitz
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Ruth Fühner begrüßt das anregende Buch der französischen Deutschlandkorrespondentin Pascale Hugues, die anhand der Lebensläufe ihrer miteinander seit Kindertagen befreundeten Großmütter Marthe und Mathilde aufzeigt, wie die politisch wechselvolle Geschichte des Elsass in Familienschicksale hineinreichte. Während Marthe im Zweiten Weltkrieg als Witwe eines französischen Soldaten aus dem von Deutschen besetzten Elsass ausgewiesen wird, erlebte die deutschstämmige Mathilde im Ersten Weltkrieg Demütigungen und Denunziationen von französischer Seite. Die in den Jugendjahren gemachten Erfahrungen hat Mathilde im Lauf ihres Lebens und im Verhältnis zu Marthe nicht überwinden können, resümiert die Rezensentin. Der Autorin geht es weniger um "Alltagsgeschichtsschreibung", als darum Verständnis für die Großmütter zu entwickeln, so Fühner. Bedauerlicherweise spart sie allerdings das Verhalten Mathildes' 1939 aus, als das Elsass wieder unter deutsche Verwaltung gestellt wurde und damit bleibt ein "blinder Fleck" in dem ansonsten wichtige Fragen stellenden Buch zurück, schließt die Rezensentin.

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