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Der Sturz des riesigen Stalin-Monuments in Budapest war der Auftakt zur Ungarischen Revolution von 1956. Nur Stalins Stiefel verblieben damals auf dem Sockel. Anfangs noch ein Triumphdenkmal besonderer Art verselbständigte sich das Motiv politischer Hybris schon bald zur Metapher gescheiterter Macht.Das Motiv der zurückgebliebenen Stiefel reicht bis in die Antike und erfuhr im Medium der Karikatur zahlreiche Aktualisierungen. Der historische Ort des Stalin-Monuments wurde nach dem Zusammenbruch des Ostblocks mit einem neuen Denkmal 'überschrieben'. Stalins Stiefel hingegen erlebten in einem…mehr

Produktbeschreibung
Der Sturz des riesigen Stalin-Monuments in Budapest war der Auftakt zur Ungarischen Revolution von 1956. Nur Stalins Stiefel verblieben damals auf dem Sockel. Anfangs noch ein Triumphdenkmal besonderer Art verselbständigte sich das Motiv politischer Hybris schon bald zur Metapher gescheiterter Macht.Das Motiv der zurückgebliebenen Stiefel reicht bis in die Antike und erfuhr im Medium der Karikatur zahlreiche Aktualisierungen. Der historische Ort des Stalin-Monuments wurde nach dem Zusammenbruch des Ostblocks mit einem neuen Denkmal 'überschrieben'. Stalins Stiefel hingegen erlebten in einem Skulpturenpark eine denkwürdige Wiederauferstehung. Zwischen politischer Bildrhetorik und Denkmalpflege vermittelnd bilden sie als Touristenattraktion einen originellen Beitrag zur aktuellen Diskussion um die 'Geschichte der Rekonstruktion - Rekonstruktion der Geschichte'.
Autorenporträt
Peter Springer; geb. 1944; Promotion mit einer Corpus-Edition mittelalterlicher Bronzen; 1973-75 wissenschaftlicher Assistent an den Staatl. Museen Preußischer Kulturbesitz in Berlin; Stipendiat der Max-Planck-Gesellschaft an der Bibliotheca Hertziana in Rom; 1989 Habilitation an der FU Berlin mit einer Arbeit über Das Kölner Dom-Mosaik; 1980-2009 Professor für Theorie und Geschichte der Bildenden Kunst an der Universität Oldenburg; 1994/95 Member am Institute for Advanced Study in Princeton; zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. "Voyeurismus in der Kunst " (978-3-496-01390-7)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.2013

Niemand hatte den Diktator jemals ohne Stiefel gesehen
Was uns Unterdrückungsrequisiten über die Fallhöhe der Entmündigung verraten: Peter Springer deutet die Geschichte des geschleiften Stalin-Denkmals in Budapest

Zur Ikonographie des ungarischen Volksaufstandes gegen die kommunistische Diktatur gehört der Sturz des Stalin-Denkmals. Jeder kennt die Fotografien, die dieses Ereignis dokumentieren: der wankende Koloss, der mit Stahlseilen aus der Verankerung gerissen wird und zur Seite kippt, der abgeschlagene Kopf des Diktators, der auf der Straße liegt. 1951 hatten die Machthaber das Denkmal im Zentrum Budapests aufstellen lassen, als Zeichen der Fremdherrschaft, und fünf Jahre später schon fiel es der Volkswut zum Opfer. Übrig blieben nur die steinernen Stiefel, die auf dem Sockel des Denkmals zurückblieben, bis auch sie entfernt wurden.

Heute sind Stalins Stiefel im Memento-Park außerhalb von Budapest zu sehen. Ihre Wirkung als Symbol verlorengegangener Macht haben sie längst eingebüßt, der Betrachter sieht nur eine Ironisierung sozialistischer Ästhetik. Wer weiß aber heute noch, worauf die leeren Stiefel einmal verwiesen haben? Das ist das Thema des Essays von Peter Springer.

Jedermann empfand die Errichtung des Stalin-Denkmals als eine Demonstration der Macht. Der Diktator wurde nicht nur im Zentrum Budapests aufgestellt. Alle wichtigen Festveranstaltungen fanden im Schatten des Denkmals statt. Am 1. Mai versammelte sich die Parteiführung vor dem Sockel, auf dem der Diktator stand, und nahm die Parade ab. Jeder konnte sehen, dass Ungarns Kommunisten im Schatten des großen Diktators standen. Stalin war allgegenwärtig, allmächtig, eine andere Botschaft strahlte das Denkmal nicht aus, wenngleich die Kommunisten versuchten, sich als Sprecher dieser Macht zu präsentieren. Durch die Nähe zum Denkmal, schreibt Springer, sei die Würde des Diktators auf seine Vollstrecker übertragen worden. In Wahrheit aber konnten Ungarns Kommunisten im Angesicht des Stiefels nur die Rolle von Sklaven spielen, die der Macht ebenso ausgeliefert waren wie ihre Untertanen.

Die Aufständischen wussten, dass sie das Herz des Systems trafen, als sie den steinernen Koloss aus den Angeln hoben. Springer beschreibt die symbolische Entehrung des Denkmals. Seine Überreste wurden beschmiert, über die Straße geschleift, der Kopf des Diktators mit spitzen Metallgegenständen bearbeitet. Stalins Allmacht und seine mythische Präsenz waren gebrochen, die Erniedrigung gerächt, als seine Statue auf der Straße lag. Stalins Überreste verschwanden nicht sofort aus dem Stadtbild. Im November 1956 wurden die Stiefel entfernt, die nach dem Sturz des Denkmals stehen geblieben waren, später der Sockel und die Reliefs, und erst 1989 wurde auch die Tribüne abgerissen und an ihrer Stelle ein Denkmal für die Opfer des Stalinismus errichtet.

Springer nennt Stalins Stiefel Unterdrückungsrequisiten, die auf die Überwindung und Abwesenheit der Macht verweisen. Stiefel sind Symbole der Macht, der Gewalt und der Entschlossenheit, alles, was unter ihren Sohlen liegt, ist ihnen unterworfen. Ihre Größe weist auf die Fallhöhe der Entmündigung hin. Denn Stiefel schüchtern ein und führen den Unterworfenen ihre Machtlosigkeit vor, im Angesicht der Bedrohung werden sie in willenlose Objekte der Despotie verwandelt.

In allen visuellen Repräsentationen wurde Stalin als ein Mann dargestellt, der Stiefel trug. Niemand hatte Stalin je ohne Stiefel gesehen, es war, als hätte der lebende den inszenierten Stalin imitiert. Seine Stiefel waren Ausdruck einer Allmachtsphantasie. Plakate und Karikaturen zeigten den Diktator, wie er mit Siebenmeilenstiefeln große Distanzen überwand, Territorien besetzte und Feinde wie Insekten zertrat. Schon in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts war der Stiefel zu einer Chiffre für die Allmacht der totalitären Diktatur geworden.

Deshalb waren leere Stiefel Zeichen für die Umkehrung der Macht, sie warfen Fragen nach den Umständen auf, unter denen sie verloren wurden. Der Stalinismus war tot, als die Symbole der Unterdrückung nur noch als Lächerlichkeit wahrgenommen wurden. Im Nachwort schreibt Springer, er habe eigentlich nur einen Aufsatz über Stalins Stiefel schreiben wollen, dann aber sei aus dieser Idee ein Buch geworden. Darauf hätte er lieber verzichten sollen. Denn Historiker sollen schöne Bücher schreiben. Springers Darstellung aber gefällt sich in Unverständlichkeit und Umständlichkeit, sie folgt keinem roten Faden und verliert immer wieder das Thema aus den Augen. Der Autor informiert seine Leser über Variationen des Schuhmotivs in der europäischen Malerei, macht sie mit einer Bildinterpretation Martin Heideggers bekannt, erzählt von Chruschtschows Schuhen und vom Fuß Uwe Seelers, dessen Abbild vor dem Volksparkstadion in Hamburg bewundert werden kann. Aber was haben diese Geschichten mit Stalins Stiefeln zu tun? Man erfährt es nicht.

Wie wurde die Abwesenheit Stalins im Zentrum Budapests eigentlich empfunden? Wir wissen, dass in der Sowjetunion alle Statuen, die den Diktator darstellten, auf Anweisung der Parteiführung entfernt wurden. In Ungarn aber war das Denkmal vor allem ein Monument der Fremdherrschaft. Nicht Stalins Erben, sondern Stalins Feinde stießen es vom Sockel. Erst als das Symbol der Knechtschaft verschwunden war, konnte Ungarns Parteiführung aus dem Schatten des Allmächtigen treten. Was bedeutete dieser symbolische Bruch für die Entstalinisierung in Ungarn, und wie erinnerten sich die Revolutionäre des Jahres 1956 an ihn? Springer lässt den Leser leider auch mit dieser Frage allein.

JÖRG BABEROWSKI

Peter Springer: "Stalins Stiefel". Politische Ikonographie und künstlerische Aneignung.

Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2013. 183 S., Abb., geb., 35,-[Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wäre der Historiker Peter Springer doch bloß bei seinem Vorhaben, einen Aufsatz über "Stalins Stiefel", geblieben, stöhnt Rezensent Jörg Baberowski. Denn die wesentlichen Punkte dieses Buches hat er durchaus mit Interesse gelesen: Erst einige Zeit nach dem Sturz des Stalin-Denkmals in Budapest wurden auch die übrig gebliebenen steinernen Stiefel entfernt. Die leeren Stiefel des Mannes, der sich auf allen visuellen Repräsentationen mit Stiefeln zur Demonstration seiner Macht inszenieren ließ, wurden bald nicht mehr als Symbole der Unterdrückung, sondern als "Lächerlichkeit" wahrgenommen, berichtet der Kritiker. Leider muss Baberowski aber feststellen, dass der Autor bald sein eigentliches Thema aus den Augen verliert: Von den Variationen des Schuhmotivs in der europäischen Malerei ist hier ebenso die Rede wie von Chruschtschows Schuhen oder vom Abbild des Fußes von Uwe Seeler vor dem Volksparkstadion in Hamburg. Während der Rezensent auf diese Informationen durchaus hätte verzichten können, hätte er gern erfahren, wie die Abwesenheit Stalins im Zentrum Budapests empfunden wurde.

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