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Ein hoher lauter Schrei, der nicht aufhören wollte. Daran konnte sich Georg noch ein halbes Menschenleben später erinnern. Sein Gesangbuch damals war voller Sterbebildchen gewesen. Elfuhr läuten im Dorf und die schwarzen Kleider seiner Mutter blieben für immer in seinem Kopf. Georg wollte einfach nur weg, und weshalb sollte er nicht ins Internat? Dort erwarteten ihn der Prior und der junge Lateinlehrer, die ihm vom Punischen Krieg erzählten, aber eigentlich El Alamein und den Wüstenfuchs meinten. Sie rauchten während des Unterrichts, und ihre Hände zitterten. Georg ahnte bald, daß hier niemand…mehr

Produktbeschreibung
Ein hoher lauter Schrei, der nicht aufhören wollte. Daran konnte sich Georg noch ein halbes Menschenleben später erinnern. Sein Gesangbuch damals war voller Sterbebildchen gewesen. Elfuhr läuten im Dorf und die schwarzen Kleider seiner Mutter blieben für immer in seinem Kopf. Georg wollte einfach nur weg, und weshalb sollte er nicht ins Internat? Dort erwarteten ihn der Prior und der junge Lateinlehrer, die ihm vom Punischen Krieg erzählten, aber eigentlich El Alamein und den Wüstenfuchs meinten. Sie rauchten während des Unterrichts, und ihre Hände zitterten. Georg ahnte bald, daß hier niemand ins Leben hinaustreten wollte, und fragte sich, wohin es für ihn gehen würde. In der Enge eines Internats spiegelt Egon Gramer die stille Verzweiflung und den Schmerz der bundesrepublikanischen Gründerjahre.
Autorenporträt
Egon Gramer, geboren 1936 in Stuttgart, verbrachte seine Kindheit in einem schwäbischen Dorf und absolvierte seinen Schulabschluß auf einem jesuitischen Internat. Sein erster Roman "Gezeichnet: Franz Klett", den er erst mit knapp 70 veröffentlichte, erhielt begeisterte Kritikerstimmen und wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Egon Gramer lebt mit seiner Frau in Tübingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2007

Stark, stärker, halbstark

Der Spätzünder Egon Gramer erzählt in seinem zweiten Roman von einem Jungen, der in den Fünfzigern den Führerschein fürs Leben macht - Motto: Cogito ergo bumm.

Von Martin Halter

Die Männer fallen im Krieg und im Wirtschaftswunderfrieden, die Frauen schreien, und zwischen Sterben und Schreien leben die Kinder. Georg Schramms Erinnerung beginnt mit dem Schrei der Großmutter, die im Ersten Weltkrieg ihren Mann verlor und jetzt, im Februar 1942, ihren Sohn verliert; sie endet Mitte der fünfziger Jahre mit der Beerdigung ihres zweiten Sohns, Georgs Vater. So wächst der Junge unter Toten, Witwen und Kriegskrüppeln auf. Anfangs sammelt Georg Gefallenenbildchen und ordnet sie im Gebetbuch beim Lied "Wann wir mit dem Tode ringen" ein. Dann kommen die Franzosen, die Flüchtlinge, die Heimkehrer und zuletzt auch, magenkrank und gebrochen, der Vater: "Ein Verlierer. Der Vater kam kleiner aus dem Krieg zurück."

Fortan heißt das erste Gebot im Hause: "Der Vater darf nicht belastet werden". Magen und Nerven sind zu schwach, als dass man sie mit unnötigen Fragen reizen dürfte. Während seine Kriegskameraden am Stammtisch schon wieder die "Angebergeschichten von Verlierern" erzählen, macht er sich schweigend an den Wiederaufbau. Geschäft, Haus und Familie werden ausgebaut, und sonntags fährt der Vater mit dem Sohne zum Motorradrennen. Der Knabe im Seitenwagen hängt sich weit hinaus in die Kurven, der Fahrer gibt Gas, und "wer bremst, verliert". Am Ende, kurz vor seinem Tod, überlässt der Vater Georg zum ersten Mal das Steuer seines neuen Autos, gerade, als ihnen ein Lastwagen auf der engen Straße entgegenkommt: "Fahr, Georg, fahr!" Der Sohn hat sich nach Jahren scheuer, schonender Liebe endlich das Vertrauen des Vaters verdient und den Führerschein fürs Leben erworben.

Egon Gramers zweiter Roman beschwört in kurzen Kapiteln Schlaglichter einer Kindheit in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren. Es sind lauter "Stichpunkte des Augenblicks": der Geruch der Holzvergaser, die sieben Affen in der Bimbo-Musikbox, Bikini und Bundesjugendspiele. Pater Leppich, das Maschinengewehr Gottes, predigt vom Opel-Blitz-Lieferwagen herab gegen Atombusen, Nylonhexen und Seelenroboter, die Patres im Jesuiteninternat empfehlen "Ablenken! Abhärten! Arbeiten!" Zu den schlimmsten Verwirrungen des Zöglings gehört die pubertäre Verballhornung geflügelter Worte: "Cogito ergo bumm". Wenn Georg dennoch an Gottes Allmacht und Vaters Schonung zweifelt, so liegt das an Charlie Parker und Chuck Berry. Der brave Beifahrer entdeckt die "Affenmusik" von Rock und Jazz, die Stärke der Halbstarken ("Halbstark war mehr, viel mehr als bloß stark. Stark, stärker, halbstark.") und ermannt sich wie James Dean in "Denn sie wissen nicht, was sie tun": "Sei ein Mann, Vater! Vater, sag die Wahrheit!"

Als Egon Gramer 2005 mit fast siebzig Jahren als Romanautor debütierte, bekam er zu Recht viel Lob für "Gezeichnet: Franz Klett". Martin Walser, der immer wieder begabte Schüler aus seiner oberschwäbischen Dichterschule entdeckt und durchsetzt, rühmte die Geschichte des unglücklichen Franz Klett, der dazugehört und doch draußen vor der Tür bleibt, als Sprachkunstwerk ersten Ranges. Auch Gramer ist ein begnadeter Heimatkundler, der vom Aussterben oder Vergessen bedrohte Erinnerungen, dörfliches Brauchtum und schöne alte Wörter wie "Ehne" oder "Halbseckel" retten will. Der kühle, genaue Blick und eine kraftvolle, lakonische Sprache heben seine Prosa weit über schwäbische Dorfgeschichten und sentimentale Kindheitserinnerungen hinaus.

Allerdings tut sich Gramer beim zweiten Roman schwerer als beim ersten. Damals konnte er seine zwiespältigen Erinnerungen an eine Landjugend noch in der Tragödie eines Einzelgängers spiegeln; diesmal dringen sie fast distanzlos und ungeordnet auf ihn ein. Franz Klett, der Schulkamerad, hinterließ ihm seine Aufzeichnungen; bei "Zwischen den Schreien" war Gramer auf sich und eigene Notizen und Vorarbeiten zurückgeworfen. "Man schreibt nicht auf, was man gesehen oder gehört oder erlebt hat", heißt es einmal. "Man schreibt mit tausend Schwingungen den Schlag und die Schläge, die man erhalten hat. Es sind einzelne Einschläge, Punkte in einer Landschaft, Löcher und Krater": Inseln im Ozean der Erinnerung, keine Kontinente.

- Egon Gramer: "Zwischen den Schreien". Roman . Piper Verlag, München 2007. 295 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit seinem späten Debüt "Gezeichnet: Franz Klett" hat der damals bereits siebzigjährige Egon Gramer, nicht zuletzt dank des nachdrücklichen Hinweises durch Martin Walser, vor wenigen Jahren für einiges Aufsehen gesorgt. Auch Martin Halter war vom Erstling offensichtlich beeindruckt. Mit dem nun vorliegenden zweiten Roman kehrt Gramer wieder in die fünfziger und sechziger Jahre der Bundesrepublik zurück. Er erzählt aus der Sicht eines Jungen vom Vater, der angeschlagen aus dem Krieg zurückkehrt, in den Wirtschaftswunderjahren jedoch erfolgreich ist. Einerseits ist, wie Halter feststellt, das Talent Gramers, in knappen "Schlaglichtern" und einer "krafvollen, lakonischen Sprache" eine ganze Zeit zu "beschwören", auch im zweiten Roman nicht zu übersehen. Andererseits fehle es diesmal merklich an der im Debüt so überzeugenden Distanz zum Geschehen. Es ist dies aber, scheint es, ein eher leiser Vorbehalt gegen ein Buch, das Halter insgesamt offenbar gerne gelesen hat.

© Perlentaucher Medien GmbH