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Erfolgreicher Großindustrieller im Vorstand der AEG, strategisch denkender Politiker, umtriebiger Erfinder, Philosoph und Schriftsteller: Walther Rathenau (1867 1922) ist eine ungemein komplexe und faszinierende Figur der deutschen Geschichte. Keine andere Persönlichkeit hat die Epoche des Übergangs vom Kaiserreich zur Republik so geprägt wie er. In seiner Wandlung vom preußischen Patrioten zum Demokraten verkörpert er beispielhaft jene Zeit des Umbruchs, deren Kenntnis heute jedem tieferen Verständnis der Jahre 1933 bis 1945 vorauszugehen hat. Denn mit Rathenaus Ermordung scheiterte auch die…mehr

Produktbeschreibung
Erfolgreicher Großindustrieller im Vorstand der AEG, strategisch denkender Politiker, umtriebiger Erfinder, Philosoph und Schriftsteller: Walther Rathenau (1867 1922) ist eine ungemein komplexe und faszinierende Figur der deutschen Geschichte. Keine andere Persönlichkeit hat die Epoche des Übergangs vom Kaiserreich zur Republik so geprägt wie er. In seiner Wandlung vom preußischen Patrioten zum Demokraten verkörpert er beispielhaft jene Zeit des Umbruchs, deren Kenntnis heute jedem tieferen Verständnis der Jahre 1933 bis 1945 vorauszugehen hat. Denn mit Rathenaus Ermordung scheiterte auch die andere Möglichkeit der Geschichte: die Schaffung eines neuen demokratischen Deutschlands, für das dieser Mann stand und für das er sterben mußte. Gerade sein tragisches Leben im Spannungsfeld zwischen Geist und Macht aber eröffnet einen unverstellten Blick auf die deutsche Vergangenheit: Was wäre gewesen, wenn der Jude Rathenau nicht von seinen rechten Hassern ermordet worden wäre?
Autorenporträt
Wolfgang Brenner , geboren 1954 in Quierschied/Saar, lebt als Journalist und Autor in Berlin und im Hunsrück. Er wurde 2007 mit dem Berliner Krimipreis "Krimifuchs" in der Kategorie Autoren für sein langjähriges Schaffen in diesem Genre gewürdigt. Seine Krimis zeichnen sich durch gründliche Recherche, überzeugende Chraktere und große Spannung aus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2005

Das konnte sich dieser Multimillionär nicht leisten
Vielfach diskriminiert und doch erfolgreich: Wolfgang Brenner rückt Walther Rathenau zu Leibe / Von Andreas Platthaus

Walther Rathenau ist eine jener Figuren, für die man im Englischen die schöne Bezeichnung geprägt hat, sie seien "larger than life". Aber kann eine Persönlichkeit wirklich noch größer sein als dieses 1867 begonnene und 1922 gewaltsam beendete Leben? Rathenau war der Sohn eines der größten deutschen Unternehmer, des AEG-Gründers Emil Rathenau, er selbst rief auf der Grundlage eigener chemischer Forschungen einen Betrieb in Bitterfeld ins Leben, der zur Keimzelle des mitteldeutschen Chemiedreiecks und damit einer der wichtigsten Industrieregionen Deutschlands wurde, er arbeitete als Bankier und saß in mehr Aufsichtsräten, als es sich Hermann Josef Abs je hätte träumen lassen, er war Erfolgsautor, wurde Präsident der AEG, organisierte im Ersten Weltkrieg die deutsche Rohstoffversorgung, bekleidete in der Weimarer Republik zweimal Ministerämter, führte den Ausgleich des Deutschen Reichs mit der Sowjetunion herbei und starb im Kugelhagel von Rechtsterroristen, die mit ihm dem ganzen demokratischen System den Todesstoß versetzen wollten.

Doch da ist mehr als dieses Leben. Da ist ein Geist, der von seinen Zeitgenossen als provozierend empfunden wurde, ein jüdischer Geist, der mit aller Macht für Assimilierung kämpfte und dennoch niemals den Übertritt zum christlichen Glauben für sich in Erwägung zog. Und da war eine Seele, die nicht verwinden konnte, daß sie im Außenseiterstatus verharren sollte, gleich mehrfach diskriminiert durch religiöse Herkunft, politische Ambitionen, familiäre Rivalitäten und sexuelle Präferenzen.

Überreicher Stoff also. Man könnte Romane darüber schreiben. Robert Musil hat es mit seiner literarischen Inhaftierung Rathenaus als Dr. Arnheim im "Mann ohne Eigenschaften" getan - und seitdem alle anderen Romanciers abgeschreckt. Auf dem Feld der Biographik dagegen herrscht Überfülle. Herrmann Brinckmeyer veröffentlichte nach dem Mord eine belanglose Familiengeschichte über Vater und Sohn ("Die Rathenaus", 1922), doch mit Harry Graf Kesslers Biographie erschien 1928 das erste gründlich gearbeitete Werk über Walther Rathenau, und seitdem sind ein rundes Dutzend weitere Lebensbeschreibungen publiziert worden. Aber immer noch fehlt eine wissenschaftliche Biographie.

Die liefert auch Wolfgang Brenner nicht. Doch dürfte der Publizist mit seiner Studie die Rathenau-Forschung unter Druck setzen, endlich die Lücke zu schließen. Die Umstände für die Forschung sind immer noch prekär: Ein wesentlicher Teil des Nachlasses liegt im "Zentrum für die Aufbewahrung historischer und dokumentarischer Sammlungen" in Moskau. Als die Rote Armee das Landschloß Freienwalde erreichte, Rathenaus ehemaliges Wochenenddomizil, wo eine Gedenkstätte sogar die Nazi-Zeit überdauert hatte, nahm sie das Inventar als Kriegsbeute mit - Rathenaus Wirken war durch den von ihm als Außenminister 1922 mitausgehandelten Vertrag von Rapallo eng mit der Geschichte der Sowjetunion verknüpft. Bis heute ist dieser Bestand der Forschung weitgehend unzugänglich.

Brenner hat eine sehr gut lesbare Biographie geschrieben, die jedoch vor gewagten Thesen nicht zurückschreckt. So wird die von Rathenau maßgeblich bestimmte deutsche Erfüllungspolitik gegenüber den Siegermächten im Ersten Weltkrieg auf einen "Reflex der Demut" zurückgeführt, den er in der Kindheit gegenüber dem herrischen Vater entwickelt habe. Überhaupt wird viel populärpsychologisiert in diesem Buch, das sich dazu auch Rathenauscher Kategorien wie etwa der Unterscheidung von Furcht- und Mutmenschen bedient. Die Nähe des Autors zu seinem Gegenstand ist so groß, daß man oft die Bezeichnung "Walther" statt "Rathenau" findet. Die Absicht ist klar: Hier soll lebendig erzählt werden. Aber im Gegensatz zu Rathenau schreibt Brenner nicht aus innerer Notwendigkeit.

Rathenau ließ keinen Zweifel daran, daß für ihn nur das zählte, was er schrieb. Und er schrieb dabei um mehr als sein Leben - weil er nicht als Multimillionär, Organisator, Minister in Erinnerung bleiben wollte, sondern als Vordenker. Der für seinen Anspruch programmatische Buchtitel ist "Von kommenden Dingen", 1917 im Krieg erschienen - das meistverkaufte unter seinen Büchern. Doch zugleich auch in der Wirkung das kurzlebigste. Rathenau wußte zwar 1917 bereits, daß Deutschland nicht mehr siegen würde. Aus dem unabwendbaren inneren Zusammenbruch - der für ihn aber noch nicht die äußere Niederlage bedeutete - sah er aber einen stärkeren, sozial gewandelten "Volksstaat" entstehen, dessen Organisation das Beste aus Kapitalismus und Sozialismus verbinden sollte.

Kein Wunder also, daß seine Vorstellung vom Kriegsende eine deutsche levée en masse war und nicht die Revolution. Doch als der Krieg dann verlorenging, wurden diese Prognosen von der Wirklichkeit überholt. Der Umsturz aber war für Rathenau nur ein Straucheln. Niemand aus der Klasse derer, die schließlich aus den Wirren gestärkt hervorgingen, spottete nach dem Krieg treffender als er: "Die Kette fiel ab, und die Befreiten standen verblüfft, hilflos, verlegen und mußten sich wider Willen rühren. Den Generalstreik einer besiegten Armee nennen wir deutsche Revolution."

Rathenau war auch ein exzessiver Briefeschreiber, und erst in der Korrespondenz ist er ganz bei sich. Seine Briefwechsel mit der Familie, mit dem Freund und Verleger Maximilian Harden, mit der vergötterten Lili Deutsch, die unglücklicherweise mit dem mächtigsten Direktor der AEG verheiratet war, mit Politikern, Künstlern, Militärs sind von einer Intensität, die der seiner Gesellschaftsphilosophie in nichts nachsteht, ja vieles schärfer faßt als die Schriften. In seinen Briefen an den Generalquartiermeister Erich Ludendorff etwa steckt schon das Grundgedankengut aus "Von kommenden Dingen", in der Korrespondenz mit Harden das Mißtrauen gegenüber dem revolutionären Überschwang von 1918.

Das bemerkenswerteste schriftliche Gespräch aber muß das zwischen Lili Deutsch und Rathenau gewesen sein. Man kann die Größe des Verlustes für unser Rathenau-Bild erahnen, wenn man die Abschriften heranzieht, die Graf Kessler in seiner Biographie verwendet. Doch das ist nur ein spärlicher Rest, denn ihre Briefe verbrannte Rathenaus Mutter nach der Ermordung des Sohnes, und die seinen sind mit Lili Deutsch verschollen, die als Jüdin 1939 nach Belgien emigrierte und von dort vor dem Einmarsch der deutschen Truppen 1940 floh. Wohin, weiß niemand,

Brenner behauptet es zu wissen: Lili Deutsch habe sich auf ein Schiff nach Amerika gerettet, das dann von einem deutschen Torpedo versenkt worden sei. Dabei hat Ernst Schulin schon vor zwölf Jahren festgestellt, daß es in den Unterlagen der Familie von Lili Deutsch keinen Hinweis auf solch ein Unglück gibt. Brenner hat die Literatur zu Rathenau, gerade die wissenschaftliche, äußerst selektiv ausgewertet - um es höflich auszudrücken. Weder der Katalog zur Rathenau-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum von 1993 noch der extrem ertragreiche und auch kontroverse Band "Ein Mann vieler Eigenschaften" mit den wichtigsten Texten eines 1989 durchgeführten Berliner Rathenau-Kolloquiums wurde von Brenner ausgewertet.

Seine Quellengrundlage sind die Textausgaben und die anderen biographischen Studien. Diese Materialmasse ist geschickt kompiliert, auch wenn man sich einige Stilblüten lieber erspart und ein paar Nachlässigkeiten gern korrigiert gesehen hätte. So erfährt man mit Staunen, daß Bismarck als Reichskanzler Anfang der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts schon geschaßt gewesen sei, andererseits aber 1904 Maximilian Harden noch zu frugalen Abendessen eingeladen habe.

Brenners Buch ist da am besten, wo es statt ins Analysieren ins Erzählen kommt, wo nicht historische Akkuratesse gefragt ist (der Text springt ohne Rücksicht auf die Chronologie), sondern Einfühlung in die Person Rathenau. Einen historiographischen Tiefschlag aber versetzt Brenner seinem Gegenstand: Erst stellt er fest, daß Rathenau durch seinen "exponierten Fatalismus" die Mörder schon besiegt habe, "bevor sie überhaupt antraten". Doch die letzten zwanzig Seiten des Buches widmen sich ganz der Aufspürung der Täter - eine tolle Räuberpistole, fürwahr, doch zu Rathenau gibt es kein Wort mehr. Das letzte Wort behalten so doch seine Mörder.

Was bleibt von Brenners Rathenau? Viele Fakten, aber kein schlüssiges Bild. Das ist immerhin etwas, denn so steht Rathenau weiter im Fokus. Möge es ihm nie ergehen wie jenem Herrn, den Brenner bei dessen einzigem Auftritt als "einen gewissen Hellmut von Gerlach" vorstellt. Gerlach ist heute tatsächlich so gut wie vergessen, dabei ist sein Leben nicht minder faszinierend als das von Rathenau: vom ostelbischen Junker zum Chefredakteur der demokratischen Wochenzeitung "Welt am Montag", Reichstagsabgeordneter, Leiter der "Weltbühne" in Vertretung des verhafteten Ossietzky, schließlich Flüchtling vor den Nazis. Gerlach ist als Figur heute "smaller than life". Ein historischer Mythos entsteht eben nur auf der Basis gesammelten Wissens. Zu den Sammlern zählt Brenner.

Wolfgang Brenner: "Walther Rathenau". Deutscher und Jude. Piper Verlag, München 2005. 520 S., 33 Abb. auf Tafeln, geb., 26,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.05.2006

Subversive Erfüllungspolitik in allen Lebenslagen
So zerrissen die Persönlichkeit Walther Rathenaus war, so unterschiedlich sind zwei neue Biografien über ihn
Walther Rathenau hat wie kaum ein anderer seine Zeitgenossen fasziniert, ihre Phantasie angeregt - im Positiven wie im Negativen. Als Mann vieler Eigenschaften hat man ihn bezeichnet, ihm eine „multiple Identität” attestiert. Erfinder, Großindustrieller, Politiker, Schriftsteller: Rathenau war eine komplexe, auch eine widersprüchliche, ja zerrissene Persönlichkeit.
Obwohl kapitalistischer Unternehmer, propagierte er gemeinwirtschaftliche Utopien und etatistische Ordnungsmodelle. Auf technisch-ökonomischem Feld trieb er mit Vehemenz Entwicklungen voran, deren Folgen er in seinen kulturkritischen Schriften beklagte. Gleich nach Beginn des Ersten Weltkriegs stand er als Leiter der Kriegsrohstoff-Abteilung (KRA) an exponierter Stelle und forcierte einen Prozess, der die alte Vorkriegswelt, die auch ihm lieb und teuer war, unwiederbringlich zerstören musste. Als Präsident des AEG-Konzerns agierte er rational und pragmatisch, doch er konnte geradezu verblendet sein, wenn er Gelegenheit fand, sich mit den politisch Mächtigen gemein zu machen. Da geschah es zuweilen, dass er reflexartig und opportunistisch innere Überzeugungen verleugnete und seinen Gesprächspartnern - Kaiser Wilhelm etwa oder Erich Ludendorff - zu imponieren suchte, indem er sie an verbaler Radikalität noch übertrumpfte.
Beherzt essayistisch . . .
Obwohl Jude und in vielen Fragen durchaus liberal und fortschrittlich denkend, hantierte er in seinen Schriften mit zeittypischen rasseideologischen Versatzstücken. Vor 1914 hatte er zwar ein allzu forsches außenpolitisches Auftreten Deutschlands meist abgelehnt, doch während des Weltkriegs erteilte er allen Ernstes den Rat, 700 000 Belgier als Zwangsarbeiter nach Deutschland zu deportieren. Noch in den letzten Kriegsmonaten wollte er die deutsche Bevölkerung in eine sinnlose „nationale Erhebung” jagen. Und doch war Rathenau auch der hochsensible, kunstsinnige Ästhet, der bürgerliche Demokrat, der wenig später zum Außenminister der Weimarer Republik aufsteigen und den Vertrag von Rapallo abschließen sollte. Die antisemitische Rechte diffamierte ihn als servilen „Erfüllungspolitiker”. 1922 wurde er das Opfer eines Mordanschlags rechtsradikaler Geheimbündler.
Den Zeitgenossen galt Rathenau als Erfolgsmensch. Er selbst hat das wohl nüchterner gesehen. Rathenau war oft einsam, depressiv, gefährdet, musste schmerzhafte Niederlagen und Demütigungen verkraften. Insbesondere sein Judentum erwies sich im Kaiserreich als Karrierehindernis, das auch durch herausragende Leistungen nicht zu beseitigen war. Doch er stand sich auch selbst im Weg; sein ausgeprägter Wille zur Macht war nicht konsequent auf ein bestimmtes Ziel fokussiert. Seine vielen Aufsichtsrats- und Vorstandsposten ließen ihn wie eine Spinne im deutschen und europäischen Wirtschaftsnetz erscheinen, doch tatsächlich waren sie nur bedingt in reale Macht konvertierbar.
Der Schriftsteller und Filmemacher Wolfgang Brenner hat eine Biografie Rathenaus vorgelegt, die ein breites, historisch interessiertes Publikum erreichen dürfte: konventionell chronologisch, unbelastet von historiografischen Schulstreitigkeiten und trotz einiger stilistischer Unzulänglichkeiten insgesamt fesselnd geschrieben. Mit viel Empathie, kluger Interpretation, auch begründeter Spekulation sucht Brenner die Seelenzustände und inneren Konflikte, die Antriebskräfte und Interessen seines Protagonisten zu entschlüsseln.
Rathenau, der zuweilen unnahbar und arrogant wirkte, als Meister der Selbstinszenierung und -stilisierung galt, rückt dem Leser nahe, wird plastisch, gewinnt scharfe Konturen und menschliches Maß. Brenner zeichnet ein Porträt, das zwar nicht mit bahnbrechend neuen Erkenntnissen aufwartet, jedoch einen gewichtigen Beitrag zum besseren Verständnis dieses Mannes leistet. Und das, obwohl der Autor kaum Spuren in einschlägigen Archiven hinterlassen und selbst die verfügbare Sekundärliteratur nur selektiv ausgewertet hat.
Derlei kann man der anderen neuen Rathenau-Biografie, der von Christian Schölzel, nicht ankreiden. Zehn Jahre hat Schölzel an seinem Buch - ursprünglich seine geschichtswissenschaftliche Dissertation - gearbeitet, etwa 80 Archive aufgesucht, auch den in Moskau lagernden und lange Zeit verschollen geglaubten Privatnachlass Rathenaus gesichtet. Da verwundert es wenig, dass er manche Aspekte von Rathenaus Wirken, etwa seine Geschäftspolitik als AEG-Präsident oder seine Rolle als KRA-Chef, weitaus detaillierter und differenzierter aufbereiten kann als Brenner. Gleichwohl bleiben auch in Schölzels Buch viele Fragen offen. Es besticht durch Informationsfülle und Kenntnisreichtum, analytische Qualität und systematischen Zugriff. Sein Bemühen, struktur- und sozialgeschichtliche Ansätze mit einer biografischen Nahaufnahme zu verknüpfen, hat freilich auch eine Schattenseite, denn es geht fast durchweg zu Lasten des chronologischen Erzählens - und allzu häufig auf Kosten der Spannung.
Die Grundkonzeptionen der beiden Bücher könnten unterschiedlicher kaum sein. Brenner neigt zur Personalisierung von Geschichte und ist immer dann in seinem Element, wenn er die privaten und beruflichen Beziehungen Rathenaus thematisiert. Mit Mut zum interpretatorischen Risiko schlägt er immer wieder Funken aus diesem Ansatz. Ohne eindeutige Beweise zu liefern, legt er zum Beispiel mehrfach die Homosexualität Rathenaus nahe. Ganz anders Schölzel: Er erklärt die Frage nach der sexuellen Orientierung Rathenaus für offen und zudem sekundär. Stattdessen widmet er ein langes Unterkapitel einer fast buchhalterisch anmutenden Aufarbeitung von Rathenaus „sozialen Beziehungen”. Gerade dort, wo Brenner reichlich unbekümmert zu Werke geht, spürt man bei Schölzel einen übergroßen Respekt, eine eigentümliche Befangenheit.
. . . gediegen wissenschaftlich
Während Schölzel mehrere Fragestellungen parallel verfolgt und konsequent im Blick behält, verzichtet Brenner fast völlig auf einen den immensen Lebensstoff bändigenden systematischen Zugriff. Gleichwohl wartet er mit einer interessanten, gut belegten These auf. Rathenaus vielgestaltige Suche nach Anerkennung - als Sohn seines übermächtigen Vaters, als deutscher Jude - habe zur Ausbildung einer spezifischen „Lebensstrategie” geführt. Sie bestand Brenner zufolge darin, sich Forderungen und Zumutungen, die an ihn gerichtet wurden, nicht zu verweigern, sondern sie ohne Murren zu erfüllen und sein Gegenüber durch kalkulierte Willfährigkeit zu düpieren. Eine Art „Erfüllungspolitik” in allen Lebenslagen also, die von Rathenau gleichwohl nie ohne subversive Hintergedanken praktiziert wurde und durchaus in der Lage war, eine subtile Dialektik in Gang zu setzen.
Die beiden Biografien - beherzt-essayistisch die eine, gediegen-wissenschaftlich die andere - verhalten sich gleichsam komplementär zueinander. Wo die eine Stärken hat, offenbart die andere Schwächen, und umgekehrt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass beide Autoren am Ende die große Synthese, die Gesamtwürdigung Rathenaus schuldig bleiben. Während Schölzel es mit einer knapp sechsseitigen Zusammenfassung seiner Untersuchungsergebnisse bewenden lässt, schildert Brenner in einem furiosen Schlusskapitel die Jagd auf Rathenaus Mörder, angeführt von Bernhard Weiß, dem legendären Chef der Berliner Politischen Polizei. Was jedoch die historische Größe Rathenaus ausmacht, was er uns Heutigen noch sagen und bedeuten kann - dieser Frage gehen beide Autoren aus dem Weg.
ULRICH TEUSCH
WOLFGANG BRENNER: Walther Rathenau. Deutscher und Jude. Piper Verlag, München 2005. 520 S., 26,90 Euro.
CHRISTIAN SCHÖLZEL: Walther Rathenau. Eine Biographie. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2005. 652 Seiten, 49,90 Euro.
Forcierte selbst die Zerstörung einer Welt, die ihm lieb und teuer war: Walther Rathenau (1867-1922), hier als Außenminister 1922
Foto: AP
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Gut erzählt, aber mit leichten Schwächen bei der historischen Darstellung sei diese Rathenau-Biografie, resümiert Rezensent Christoph Jahr. Auf jeden Fall zeige sie einmal mehr, dass die Figur Rathenau nach wie vor "fasziniert", auch wenn sie nicht mehr "polarisiert". Charakteristisch sei seine in allen Bereichen "schwankende" Natur, zwischen Handeln und Zaudern, "freundschaftlicher Nähe und Distanz", und nicht zuletzt seine latente Homosexualität und das heikle Verhältnis zu Frauen. Als Wirtschaftslenker, Politiker, Kunstmäzen und Publizist habe Rathenau vieles angestoßen, doch nur wenig beendet. Der Rezensent vermisst an Wolfgang Brenners Biografie allerdings sowohl eine "Bilanz" als auch einen Blick auf die "größeren Zusammenhänge". Ausgespart sei zudem, auf welche Weise Rathenau zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Gruppen politisch vereinnahmt worden sei. Eine "definitive Biografie", so der Rezensent, stehe somit noch aus.

© Perlentaucher Medien GmbH