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Produktdetails
  • Verlag: Piper
  • 2000.
  • Seitenzahl: 413
  • Deutsch
  • Abmessung: 39mm x 144mm x 219mm
  • Gewicht: 680g
  • ISBN-13: 9783492041522
  • ISBN-10: 3492041523
  • Artikelnr.: 08529543
Autorenporträt
Carol Ann Lee, geboren 1969 in Yorkshire, lebt als Publizistin in Cornwall. Für ihre Biographie über Anne Frank erhielt sie den exklusiven Zugang zu zahlreichen unbekannten Dokumenten.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2000

Die zweite Seite des verwöhnten Mädchens
Anne Frank zeichnet in ihrem Tagebuch im Versteck ein anderes Bild von sich selbst, als Freunde und Verwandte kannten
CAROL ANN LEE: Anne Frank; Die Biographie, Piper Verlag, München 2000. 413 Seiten, 44. Mark.
Am 12. Juni 1942 – knapp zwei Monate vor dem Untertauchen – schenkte Otto Frank seiner Tochter Anne zu ihrem 13. Geburtstag ein Tagebuch: Jenes Tagebuch, durch das sie später zu postumem Ruhm gelangen sollte. Wenige Wochen später musste die Familie Frank ihr Versteck im Hinterhaus an der Amsterdamer Prinsengracht 263 beziehen, um der Deportation in ein nationalsozialistisches Vernichtungslager zu entgehen. In den zwei Jahren, die Anne bis zu ihrer Verhaftung am 4. August 1944 im Verborgenen verbrachte, reifte in ihr der Wunsch, durch ein von ihr geschaffenes Werk nach dem Tod fortzuleben, und sie begann, ihre bis dahin verfassten Tagebucheintragungen im Hinblick auf eine spätere Publikation zu überarbeiten.
Während wir durch das Tagebuch – dieses berührende und einzigartige Dokument – über Anne Franks Zeit im Versteck gut informiert sind, ist über ihre früheren Jahre im niederländischen Exil weit weniger bekannt. Die Beschäftigung mit der inneren Wandlung, die sich in dem jungen Mädchen in diesem Lebensabschnitt vollzog, ist einer der interessantesten Aspekte der von der britischen Publizistin Ann Carol Lee verfassten, nun auch auf deutsch erschienenen Biografie. Lee rekonstruiert, wie Anne im Amsterdamer „Flussviertel”, wo sich die Familie Frank nach ihrer Flucht aus Deutschland 1933 niedergelassen hatte, zunächst noch eine einigermaßen „normale” Kindheit in einer Atmosphäre des Wohlstands verleben konnte. Sogar die deutsche Besetzung der Niederlande im Mai 1940 bedeutete anfangs keinen massiven Einschnitt im Alltag der Heranwachsenden, versuchte doch Anne, die in immer rascherer Abfolge verhängten antijüdischen Verordnungen so weit wie möglich zu ignorieren.
Lebhaft und extrovertiert
Die Autorin beschreibt die Anne Frank dieser Periode als selbstbewusstes und verwöhntes Kind der jüdischen Mittelschicht, das zunächst eher durch seine außergewöhnliche Lebhaftigkeit und Extrovertiertheit als durch eine überdurchschnittliche Begabung auffiel. Wie andere Mädchen ihres Alters sammelte Anne Photos von Filmstars, las Modezeitschriften und begann, sich für Jungen zu interessieren. Noch ließ kaum etwas ihre spätere Ernsthaftigkeit erahnen, noch gab es kaum einen Hinweis auf ihre Fähigkeit, Dinge und Situationen knapp, aber zugleich treffend und präzise zu beschreiben.
Ein spürbarer Bruch in ihrem Leben erfolgte erst, als Anne und ihre Schwester Margot im zweiten Halbjahr 1941 die geliebte Montessori-Schule verlassen und in das jüdische Lyzeum überwechseln mussten, und als ab dem Winter 1941/42 das Eislaufen, eine von Annes Lieblingsbeschäftigungen, für Juden verboten wurde. Nun schien das bedrohliche Geschehen in der Außenwelt die innere Entwicklung der Heranwachsenden zu beschleunigen – als ob Anne es plötzlich eilig gehabt hätte, noch möglichst viel zu erfahren und zu erleben. Äußerlich zart und noch fast ein Kind, wuchs sie auf einmal in ihrer seelischen Entwicklung über ihr Alter hinaus.
Ihre frühe schriftstellerische Reife erreichte sie dennoch erst in der Zeit des Untergetauchtseins, vor allem in der letzten Phase, als sie mit dem Umschreiben ihres Tagebuchs begann. Sogar ihr eigener Vater, der sie einmal als „ein Plappermaul, das hübsche Kleider liebte” charakterisierte, lernte nach dem Krieg über ihre Aufzeichnungen eine andere Anne kennen als jene in seiner Erinnerung. Er habe, so bekannte er später, nichts von der Tiefe ihrer Gedanken und Emotionen geahnt und überrascht festgestellt, wie intensiv Anne sich etwa mit dem Leiden des jüdischen Volkes oder der Frage nach Gott beschäftigt habe.
Erstaunt war er wohl auch über die Offenheit und das Maß an Selbstreflexion, mit denen Anne die Gefühle ihrer Pubertätsjahre festgehalten hatte. Eine genaue und zugleich sensible Beobachterin, registrierte sie darüber hinaus die inneren Zustände der mit ihr im Versteck lebenden Menschen: die ständige Angst vor dem Entdecktwerden, den ständigen Wechsel von Verzweiflung und neu gefasster Zuversicht und die kleinen alltäglichen Freuden. Auch entgingen Anne die Spannungen nicht, die sich zwischen den unterschiedlichen Charakteren während der zwei langen Jahre des unfreiwilligen Zusammenlebens aufbauten.
Annes schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter war ein Thema, das ihren Vater im Zusammenhang mit der späteren Veröffentlichung des Tagebuches zur Streichung von Textpassagen veranlassen sollte. Während sich Anne dem Vater emotional sehr nahe fühlte, beschrieb sie ihre Mutter als strenge, reservierte und verständnislose Frau. Auch die Ehe ihrer Eltern blieb nicht von ihren Attacken verschont, war Anne doch überzeugt, dass ihr Vater keine Leidenschaft für seine Frau empfand. Lee relativiert diese Sichtweise, indem sie Annes gespanntes Verhältnis zur Mutter als „normalen Pubertätskonflikt” interpretiert und auf Aussagen anderer verweist, die Edith Frank als liebevollen, wenn auch zurückhaltenden Menschen beschreiben.
In ihren Ausführungen über Annes Zeit nach der Verhaftung betont Lee, dass sich das Verhältnis zwischen Anne und ihrer Mutter in der Extremsituation der Lager stark verändert und sich Anne an ihre Mutter geklammert habe. Hinsichtlich der Ehe von Otto und Edith Frank räumt die Autorin zwar ein, dass es sich möglicherweise um eine Vernunftehe gehandelt habe (Edith Holländer brachte eine beachtliche Mitgift ein), doch verweist sie gleichzeitig auf die großen Belastungen, denen die Beziehung von Annes Eltern während der Zeit im Versteck durch die räumliche Beengtheit, den Mangel an Privatsphäre und den ständigen Stress ausgesetzt war.
Lee beschäftigt sich auch ausführlich mit Annes letzten Monaten im holländischen Transitlager Westerbork und in Auschwitz sowie den Umständen ihres Todes in Bergen-Belsen im März 1945, wenige Wochen vor der Befreiung. Wie viele andere vor ihr stellt sie die Frage nach dem Verräter der Familie Frank, wobei aber auch sie über Spekulationen nicht hinauskommt: Der aus Wien stammende Gestapo-Mann Karl Josef Silberbauer, der die acht Versteckten im Hinterhaus verhaftet hatte, habe sein Wissen um den Schuldigen mit ins Grab genommen.
Lee hatte sich zu Beginn ihrer Arbeit an der Anne-Frank-Biographie ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Sie werde ihre Karriere im Falle eines Misserfolgs als gescheitert betrachten, schrieb die damals knapp Dreißigjährige, als sie 1997 Buddy Elias, den letzten lebenden Verwandten Anne Franks und Präsidenten des Anne-Frank-Fonds um Unterstützung ihres Vorhabens bat. Dabei hatte sie sich auf schwieriges Terrain begeben, gibt es doch mittlerweile neben der kommentierten Ausgabe des Tagebuchs eine umfangreiche Literatur zum Thema: Erinnerungen von Menschen, die Anne persönlich kannten, Auseinandersetzungen mit der Rezeptionsgeschichte des Tagebuchs und schließlich eine 1998 erschienene Anne-Frank-Biografie der Österreicherin Melissa Müller.
Wenn auf dem Umschlag von Lees Buch auf die vielen bislang unbekannten Briefe und Dokumente verwiesen wird, welche die Biografin ausgewertet habe, so versäumt sie es, im Text klarzustellen, wo ihre Arbeit über das bisher Bekannte hinauszuweisen vermag. Auch irritieren die vielen historischen Exkurse, zumal Lee hier immer wieder die notwendige wissenschaftliche Präzision vermissen lässt. Trotz dieser Einwände kann das Buch vor allem zur Erstinformation über Leben und Persönlichkeit von Anne Frank durchaus als anregende Lektüre empfohlen werden.
GABRIELE ANDERL
Die Rezensentin ist Journalistin in Wien.
Unbeschwerte Zeiten im Hause Frank: Anne im Sommer in Freiheit.
Foto:SZ
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Neben kommentierten Tagebuchausgaben und einer 1998 von Melissa Müller vorgelegten Anne-Frank-Biografie gibt es nun eine weitere Biografie der Engländerin Carol Ann Lee, die Gabriele Anderl mit Sympathie, wenn auch nicht völlig ohne Kritikpunkte begutachtet. Als interessantesten Abschnitt der Leeschen Biografie schildert Anderl die Zeit im holländischen Exil, bevor sich die Familie Frank verstecken musste. Damals soll Anne Frank ein verwöhntes Gör der jüdischen Mittelschicht gewesen sein, dessen innere Wandlung und vorzeitige Reife erst in den zwei Jahren des Verstecks vor sich gegangen sein muss. Weitere interessante Passagen betreffen die Beziehung zur Mutter und das Maß an Selbstreflexion in der Pubertätszeit. Unbefriedigend findet die Rezensentin die Tatsache, dass die Autorin zwar darauf verweist, viele bislang unbekannte Dokumente verarbeitet zu haben, aber nirgends mitteilt, welche das sind. Als überflüssig empfindet Anderl auch die vielen historischen Exkurse, die ihr zudem wissenschaftlich ungenau erscheinen. Als Einstiegslektüre dennoch empfohlen.

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