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Phänomene "jenseits vom Glück" hatten im späten 18. Jahrhundert Konjunktur: Mit Melancholie, Suizid und Hypochondrie beschäftigte sich in den letzten Dekaden vor 1800 eine wahre Flut von Schriften. Ein eingehender Blick auf die "dunklen" Seiten der Aufklärung lohnt sich also; auch wenn (oder: gerade weil) die Forschung bisher eher die strahlende Seite des "Zeitalters des Lichts" in den Mittelpunkt rückte. Beide Seiten, die dunkle und die strahlende, sind untrennbar miteinander verbunden. Denn das große Interesse, das man den düsteren, unglücklichen Themen im späten 18. Jahrhundert…mehr

Produktbeschreibung
Phänomene "jenseits vom Glück" hatten im späten 18. Jahrhundert Konjunktur: Mit Melancholie, Suizid und Hypochondrie beschäftigte sich in den letzten Dekaden vor 1800 eine wahre Flut von Schriften. Ein eingehender Blick auf die "dunklen" Seiten der Aufklärung lohnt sich also; auch wenn (oder: gerade weil) die Forschung bisher eher die strahlende Seite des "Zeitalters des Lichts" in den Mittelpunkt rückte. Beide Seiten, die dunkle und die strahlende, sind untrennbar miteinander verbunden. Denn das große Interesse, das man den düsteren, unglücklichen Themen im späten 18. Jahrhundert entgegenbrachte, offenbart grundsätzliche Denkweisen in dieser Zeit. Anders herum gilt jedoch auch: Die zeitgenössischen Bedeutungen von Suizid, Melancholie und Hypochondrie können nur entschlüsselt werden, wenn man sich umfassend auf die Gedankenwelt des späten 18. Jahrhunderts einlässt. Deutlich werden so etwa die Besonderheiten der Kommunikationskultur, die Auffassungen vom menschlichen Sein, Vorstellungen über Moral und Recht. In ihrer interdisziplinären und diskursanalytischen Ausrichtung leistet Schreiners Arbeit einen Beitrag zur Kultur- und Geistesgeschichte des späten 18. Jahrhunderts.
Autorenporträt
Julia Schreiner ist Lektorin im Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.08.2003

Mit dem Hinterkopf
Glücklos:Melancholische Frauen, hypochondrische Männer
Wenn sich heutzutage „Entpönalisierung” und „Suizident” in einer „veränderten Medienlandschaft” begegnen, dann entsteht darüber kein surrealistisches Gedicht. Es handelt sich vielmehr um eine wissenschaftliche Arbeit, genauer um eine historiographische Dissertation darüber, in welcher Weise und aus welchen Gründen sich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts die gesellschaftliche Wahrnehmung des Selbstmordes, der Melancholie und der Hypochondrie verwandelte. Aufgezeichnet wird des näheren, wie die sich stetig erweiternde Zeitschriftenvielfalt und eine sich der Allgemeinheit immer stärker öffnende Medizin schließlich dazu führten, dass sich unter den Lesern der Hang zur Hypochondrie verstärkte und obendrein Selbstmörder nicht mehr als verdammenswerte Sünder, sondern als seelisch Kranke angesehen wurden. Ihnen drohten daraufhin keine Strafen mehr, ihnen wurde vielmehr „psychologisches Verständnis” entgegengebracht, was freilich auch seine Schattenseiten hat.
Bemerkenswert ist das Buch nicht wegen seiner historischen Einsichten. Mehr oder minder sind die Quellen bekannt, der Sachverhalt klar. Interessant ist die Studie eher wegen der markanten und wohl zeitsymptomatischen Selbstinszenierung der Wissenschaftlerin. Denn die verschwindet nicht mehr hinter ihrem Gegenstand oder ihren Erkenntnissen, sondern sagt nur ständig, was sie meint und denkt: „Sowohl die Auswahl der Quellen als auch der Prozess des Schreibens ist alles andere als objektiv (deswegen aber trotzdem nicht willkürlich). Ich habe mich daher dafür entschieden, mich selbst und mein Wirken als Forscherin und Autorin auch in meinem eigenen Text transparent zu machen.” Zum Beispiel gibt sie sich rasch als selbstbewusste Frau zu erkennen, die den Zeigefinger hebt, wenn Gelehrte des achtzehnten Jahrhunderts vom „Menschen” sprechen und damit natürlich nur den „weißen Mann” im Auge hätten. Sie selbst verwendet dagegen „bewusst verschiedene Möglichkeiten, um die Beteiligung der Geschlechter auszudrücken und die Darstellung etwas von der männlichen Diktion zu lösen.” Sie trennt etwa eine offenbar den Damen vorbehaltene Melancholie von der Männerdomäne der Hypochondrie.
Und wie für Schreiner die Aspekte ihres Buches „meandern”(sic!), so tut es vielleicht noch ausgeprägter ihre Argumentation. Denn auf den Spuren der Diskursanalyse will sich Schreiner bewegen und sich zugleich von ihr absetzen, denn sie gedenkt, „die Texte aus den verschiedenen Wissensgebieten, also zum Beispiel Theologie, Jurisprudenz und Medizin nicht zu separieren. Statt dessen lese ich immer wieder quer zu den Disziplinen und schlage gedankliche Schneisen.” Und in der Fußnote heißt es noch dazu: „Wichtig ist für mich, im Hinterkopf mitzudenken, dass jede Quelle durch bestimmte Bedeutungsinhalte geprägt ist”. In dem Kapitel zu Goethes Werther endlich lässt Schreiner zunächst zwar durchblicken, dass es Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu gar keiner Selbstmord-Epidemie gekommen sei, betont mit Hinweis auf Derrida jedoch wenig später, dass es keine Wirklichkeit außerhalb der Texte gebe und folglich die – eigentlich entstellende – damalige Wahrnehmung das einzige sei, was uns von dieser Vergangenheit bliebe. Allein damit ist der Leser so klug als wie zuvor.
FRANZISKA MEIER
JULIA SCHREINER: Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts. Verlag R. Oldenbourg, München 2003. 323 Seiten, 49,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2004

Erst lesen, dann weinen
Julia Schreiner entwirft den Zivilbürger als Hypochonder

In ihrer Münchner Dissertation widmet sich Julia Schreiner Phänomenen, die wir mittlerweile zur Nachtseite der Aufklärung zu zählen gewohnt sind: dem Selbstmord, der Hypochondrie, der Melancholie. So gut erforscht das achtzehnte Jahrhundert bezüglich seiner schwarzen Züge auch scheint, so moniert die Autorin doch das Fehlen gründlicher Studien, die Querverbindungen zwischen ihnen aufzeigten. Ihre auf den deutschen Sprachraum bezogene, von Foucaults Diskursanalyse inspirierte Arbeit versteht sich als ein solcher Versuch. Nicht eine neue Großthese zum Epochenwandel "um 1800" will sie aufstellen, sondern der wechselseitigen Beeinflussung von Disziplinen und dem Bedeutungswandel althergebrachter Phänomene im Detail nachgehen. Eine solche interdisziplinäre Herangehensweise wandelt auf den verschlungenen Pfaden zwischen der sich rasch entwickelnden Medizin, Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Anthropologie und Diätetik und legt den Verzicht auf schematische Konfrontationen der Blöcke Vernunft und Wahn, Aufklärung und Theologie nahe.

Schreiners spätes achtzehntes Jahrhundert präsentiert sich vornehmlich unter somatischen Vorzeichen. Das ist bemerkenswert, denn die Verfasserin gibt der "Erfahrungsseelenkunde", empfindsamer Romanlektüre, der Kultur des Gefühls und des Individuums, also dem ganzen Aufschwung von Psychologie, Seele und Selbstbeobachtung, breiten Raum. Doch läßt sie etwa die Melancholie als Modekrankheit des Zeitalters auffällig hinter der Hypochondrie zurücktreten. (Kenner der Melancholiegeschichte von "Saturn und Melancholie" bis Wolf Lepenies werden zu diesem speziellen Punkt hier wenig Neues finden.) Der Grund: Wurde die Melancholie bereits weitgehend als geistiges Phänomen verstanden, so umfaßte die Hypochondrie noch ein diffuses Bündel von Erklärungsmöglichkeiten, die von der alten Säftelehre über den Einfluß der Einbildungskraft bis hin zu der bedeutsamen Entdeckung des Nervensystems reichten. Sie war mithin anschlußfähiger für neue medizinische Theorien. Indem die Autorin diesen sich im letzten Jahrhundertdrittel enorm ausweitenden medizinischen und diätetischen Diskurs permanent mitlaufen läßt, kommt es zur Konzentration auf somatische Perspektiven.

Beispielsweise wandelt sich der Zweck der Sektion von Hingerichteten und Selbstmördern: Nicht mehr strafende Entehrung durch die Versehrung des Körpers steht im Vordergrund, sondern die Suche nach körperlichen Anomalien, welche die sträfliche Handlung verursacht haben könnten. Gerichtsmediziner beginnen mitzureden, wenn es um den Gemütszustand des Toten geht, und drucken ihre Gutachten in Zeitschriften wie dem "Archiv der medicinischen Polizey und der gemeinnützigen Arzneikunde". Daß der anatomischen Publizität durchaus auch eine sensationslüsterne Neugier entsprach, belegen nicht nur die "sieben Geribbe von so viel kleinen Kindern, welche allerhand zur Music gehörige Instrumente in Händen haben", die nach einem Verzeichnis von 1750 im "Anatomischen Theater" in Berlin zu sehen waren.

Vielfältig belegt die Untersuchung die Mehrdeutigkeit der historischen Bemühungen, Geistiges auf körperliche Grundlagen zurückzuführen. Eine boomende Diätetik etwa hielt die Menschen an, auf gesunde, lebensverlängernde Lebensführung zu achten, nachdem immer mehr Krankheiten mit körperlichen Ursachen korreliert werden konnten und nicht mehr als Schicksalsschläge oder göttliche Strafe hingenommen werden mußten. Doch förderte und forderte sie nun die Verantwortung des einzelnen für seine Gesundheit, für die Orientierung an neu aufgestellten Normen. So wurden die Kranken zu pathologischen Fällen und die Gesunden unter medizinische Dauer(selbst)beobachtung gestellt. Die moralische Bewertung von Krankheit und abweichendem Verhalten hörte also nicht auf, sie entglitt nur der Zuständigkeit der Theologen.

Besonders detailliert zeichnet die Studie diese Entwicklung am Beispiel des Selbstmordes nach. Auch hier suchte der medizinische Blick nach körperlichen Determinanten einer Tat, die bis dahin als Sünde galt und auch post mortem hart bestraft wurde - eine Vorgehensweise, die in der juristischen Reformdebatte um den Strafzweck auf den Prüfstand kam. Als Getriebener seiner Konstitution konnte der Suizident nach und nach von unmittelbarer Schuld freigesprochen werden. Zugleich war die gefährliche Gedankenfigur einer "rationalen" Selbsttötung ausgeschlossen, denn für eine determinierte Handlung konnte es keine Begründung geben. Freilich tauschte der Suizident für seine Entlastung von Schuld die Verantwortung für seinen körperlichen Zustand ein.

Mit der detaillierten Betrachtung des Einzelfalls, wie sie das medizinische Paradigma verlangte, ging eine verstärkte Anteilnahme des Publikums einher. Man konnte den Selbstmord als solchen verurteilen und trotzdem mit dem Schicksal eines Unglücklichen mitempfinden. Vor allem dem rasanten Aufschwung des Medienmarktes, der Vielzahl neu gegründeter Zeitschriften, die das medizinisch-anthropologische Wissen für alle Bevölkerungsgruppen aufbereiteten und in den Kommunikationskreislauf einspeisten, sieht Schreiner denn auch die um sich greifende "Medikalisierung" geschuldet.

Zu deren Ironien zählte nicht zuletzt, daß die anhaltende Beobachtung der eigenen Verfassung gerade jene Hypochondrie zu fördern schien, die zu bekämpfen die Diätetik sich zum Ziel gesetzt hatte - denn "die Krankheit selbst wurde als eine Krankheit der besonderen Aufmerksamkeit auf die Krankheit" verstanden. Einen ähnlichen Verstärkungseffekt hält die Autorin für die Erfolgsgeschichte der Gattung Roman fest. "Lesen, darüber weinen, darüber berichten" - auf diese griffige Formel bringt sie die empfindsame Lektüre, die sich in einer "merkwürdigen Zwischenwelt von Privatheit und Öffentlichkeit" etablierte. Durch die Gefühle, die ihre Schicksale hervorriefen, wurden die Romanfiguren im Gefühlsleben der Leserinnen und Leser verankert und zu Bezugsgrößen des eigenen Empfindens. Auch diese Art literarischer Kommunikation beflügelte natürlich die permanente Selbstbeobachtung und damit tendenziell hypochondrische Einstellungen.

Folgt man der vorliegenden Arbeit, dann erscheint in der Tat die Hypochondrie als das Signum des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Das könnte aber schlicht auch methodologische Gründe haben. Auf die Frage, ob es denn im Zusammenhang mit dem Werther-Fieber tatsächlich zu einer Selbstmordwelle gekommen sei, antwortet die Autorin, das lasse sich heute nicht mehr feststellen. Der Unmöglichkeit, einen historischen Sachverhalt zu klären, verleiht sie indes ontologische Weihen. Mit der (aus dem textuellen Jenseits einer sekundärliterarischen Quelle zitierten) berühmt-berüchtigten Wendung von Derrida: "il n'y a pas de hors-texte" reiht sie ihren eigenen Text unter jene ein, die nur Texte kennen. Klingt das nicht ein wenig wie eine Krankheit der besonderen Aufmerksamkeit auf die Krankheit?

MICHAEL ADRIAN

Julia Schreiner: "Jenseits vom Glück". Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts. Ancien régime, Aufklärung und Revolution. Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer. Band 34. R. Oldenbourg Verlag, München 2003. 323 S., geb., 49,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Keine neue Großthese zum Epochenwandel um 1800 wollte Julia Schreiner mit ihrer Dissertation vorlegen, informiert Michael Adrian, sondern eine Detailstudie, die sich den Querverbindungen zwischen bereits erforschten Phänomenen wie Hypochondrie, Melancholie und Selbstmord widmet. Eine Arbeit also, die sich an Foucaults Diskursanalyse orientiere und zwischen so verschiedenen Disziplinen wie Medizin, Theologie, Jura, Philosophie und Anthropologie lustwandele, so Adrian. Obwohl Schreiner der "Erfahrungsseelenkunde" im ausgehenden 18. Jahrhundert großen Raum einräume, präsentiere sich diese Epoche hauptsächlich unter somatischen Vorzeichen, staunt Adrian. Der Untersuchung gelänge es in mehrfacher Hinsicht zu zeigen, lobt der Rezensent in Folge, wie sich die Menschen damals bemühten, Geistiges auf körperliche Ursachen zurückzuführen. Ironischerweise, merkt er an, führte die einsetzende Selbstbeobachtung auch zu vermehrter Hypochondrie. So weit stimmt der Rezensent der Autorin bei, dass aber die Hypochondrie das Signum des späten 18. Jahrhunderts gewesen sein soll, stellt er in Frage und macht hierfür das methodologische Vorgehen Schreiners verantwortlich, die sich auf historische Sachverhalte außerhalb eines Textes nicht einlasse.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Julia Schreiner hat in diesem Band kundig zusammengetragen und gedeutet, was aus heutiger Sicht zu einer Fülle an düsteren Zeugnissen mit deren Vorstellungen zu Recht, zu Moral und zur Kommunikationskultur anzumerken ist." (Rheinischer Merkur vom 03.02.2005)

"Mit Fleiß und Spürsinn rekonstruiert Schreiner Umstände, die zu dem großen, zuweilen gar modischen Interesse der Aufklärung an der Seelenverdunkelung beitrugen." (Alexander Kosenina in: Zeitschrift für Germanistik NF 3/2004)