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Der fundamentale Transformationsprozess des Strafsystems zwischen 1750 und 1850 machte die Strafanstalt zum Zentrum des staatlichen Strafvollzugs. Mit ihrer Hilfe hofften die Zeitgenossen, den Delinquenten in einen nützlichen Staatsbürger umschaffen zu können. Doch welches Design mußte diese Institution haben? Mit welchen Techniken war die Besserung des Delinquenten zu erreichen? Und wie sollte diese neue Straftechnologie in das bestehende Anstaltssystem implementiert werden? Die Geburt des Gefängnisses war ein langwieriger Erfindungsprozeß, der sich über drei Generationen hinzog. Thomas Nutz…mehr

Produktbeschreibung
Der fundamentale Transformationsprozess des Strafsystems zwischen 1750 und 1850 machte die Strafanstalt zum Zentrum des staatlichen Strafvollzugs. Mit ihrer Hilfe hofften die Zeitgenossen, den Delinquenten in einen nützlichen Staatsbürger umschaffen zu können. Doch welches Design mußte diese Institution haben? Mit welchen Techniken war die Besserung des Delinquenten zu erreichen? Und wie sollte diese neue Straftechnologie in das bestehende Anstaltssystem implementiert werden? Die Geburt des Gefängnisses war ein langwieriger Erfindungsprozeß, der sich über drei Generationen hinzog. Thomas Nutz zeichnet nach, wie sich im ausgehenden 18. Jahrhundert ein spezifischer Diskurs über die Reform der Haftanstalten formierte und ein internationales Fachwissen herausbildete. Eine Entwicklung, die schließlich Mitte des 19. Jahrhunderts in der Entstehung einer eigenständigen Disziplin der "Gefängniskunde" mündete. Am Beispiel Preußens demonstriert der Autor, wie eng die staatlichen Bürokratienbei der Durchführung der Reformen des Vollzugswesens mit den gefängniskundlichen Experten zusammenarbeiteten.
Autorenporträt
Thomas Nutz ist promovierter Historiker und Geschäftsführer einer von ihm gegründeten Firma für automatisierte Handelstechnologien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2001

Besserungsmaschine hinter Gittern
Thomas Nutz erklärt die Geburt der Knastkunde aus dem Geist der Gefängnisreform

Der Göttinger Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg, der sich im Dezember 1777 notierte: "Ich habe schon lange an einer Geschichte meines Geistes so wohl als elenden Körpers geschrieben", litt seit seinem achten Lebensjahr an einer beklemmenden Brustwirbelsäulenverkrümmung, die seinen Lungenflügeln die Bewegungs- und Atemfreiheit nahm. Er war buchstäblich ein Gefangener seiner gebrechlichen Konstitution. Sie knechtete ihn mit asthmatischer Atemnot und gewährte ihm jahrelang kaum, den Wohntrakt im Haus seines Verlegers und Vermieters Johann Christian Dieterich zu verlassen. Auf dem Höhepunkt dieser Knechtschaft war seine Bewegungsfreiheit gänzlich auf eine Zelle eingeschränkt. An den Schreibtisch gekettet aber erwarb er sich den bis nach England vorauseilenden Ruf, einer der im Denken behendesten Naturwissenschaftler, Aufklärer und hommes de lettres seiner Zeit zu sein, bei dem Station zu machen sich lohnte: "Der berühmte Howard besuchte mich bei seiner Durchreise. Warum? kann ich eigentlich nicht sagen, es müßte denn sein, daß er meine Stube, weil ich damals eineinhalb Jahre nicht vor die Türe gekommen war, etwa als einen Kerker habe in Augenschein nehmen wollen."

Die Selbstironie von Lichtenbergs Bemerkung erschließt sich nur, wenn man weiß, daß der englische Calvinist John Howard zwischen 1774 und seinem Pesttod 1790 unermüdlich die europäischen Anstalten bereiste und aufsehenerregende Berichte über die katastrophalen hygienischen Zustände in Gefängnissen, Zuchthäusern und Hospitälern verfaßte. Howards Sorge galt dem "Kerkerfieber", das dort entstand, wo die Ausdünstungen von auf engstem Raum zusammengedrängten Menschenknäueln die Luft mit Fäulnis schwängerten. Die sogenannten "Schwarzen Gerichtstage" kündigten sich durch den aus den Gefängnissen dringenden Gestank an: 1750 etwa hatten zwei erkrankte Gefangene aus Newgate einen ganzen Gerichtssaal des Londoner Old Bailey infiziert; fast fünfzig Menschen starben. Howard wollte diesem Übel endlich ein Ende bereiten. Die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen zur Humanisierung des Strafvollzugs - Isolierung der Häftlinge in gut durchlüfteten Pavillons, wo sie durch religiöse Unterweisung gebessert werden sollten - waren zwar nicht neu, aber zusammen mit den von ihm zum erstenmal angewandten Methoden zur Erhebung von empirischen Daten über den Zustand in den Gefängnissen, die ihn zum Vorläufer der Sozialstatistik machten, wurden sie richtungweisend für deren Reform.

In der Zeit von Howards Besuch bei Lichtenberg setzt Thomas Nutz' sozialkonstruktivistische und diskursanalytische Studie über die Geburt der wissenschaftlichen Gefängniskunde aus dem Geist der philanthropisch, spätaufklärerisch und medizinisch-naturwissenschaftlich beflügelten Gefängnisreform ein. Auf der einen Seite sieht Nutz in der Hygiene "eine Art Mutterwissenschaft" der sich herausbildenden Disziplin der Gefängniskunde, "an die sie thematisch und methodisch gebunden blieb", auch nachdem die tätige Nächstenliebe der ersten Gefängnisreformer längst der technischen Rationalisierung des Gefängniswesens durch Ingenieure gewichen war. Auf der anderen Seite kommt im Erfolg von Howards philanthropischen Schriften, den sie mit der spätaufklärerischen Kritik an der Folter und an der Todesstrafe teilten, ein Mentalitätswandel in der bürgerlichen Selbstwahrnehmung zum Ausdruck: Der zur Einfühlsamkeit und Fürsorglichkeit erzogene Bürger wird zum Bürger zwar erst im Spiegel all der Karrieren, die ihm nur seine Tugenden, allen voran Arbeitsamkeit, Mäßigkeit und Gehorsam, erspart haben, sei es als Vagabund, als Delinquent oder als Irrer - um den Preis allerdings, den Anblick nicht länger ertragen zu können, wie diese ihrerseits zivilisiert und zur Wohlanständigkeit geläutert werden sollen.

Das Mitleid schnürte den empfindsamen Seelen die Kehle zu, wenn sie mitansehen mußten, wie ein Zug von zusammengeketteten, kahlgeschorenen Delinquenten in bunten Uniformen mit Schildern, die ihre Verbrechen denunzierten, die sogenannten "wheelbarrow men", durch die Straßen von Philadelphia zur Strafarbeit geführt wurden. Die Öffentlichkeit des Strafvollzugs war zum skandalösen Ärgernis geworden.

Die elegante Lösung, die der pennsylvanische Arzt Benjamin Rush 1787 anbot und die durch den Umbau des Walnut Street Jail in Philadelphia 1790 zum erstenmal in die Tat umgesetzt wurde: Die Strafarbeit selbst, von der man sich weiterhin eine bessernde Wirkung versprach, wurde zwar beibehalten, aber hinter Mauern verlegt, die sie dem Blick der Öffentlichkeit entzogen. Eine neue Institution war geboren, die bald auch in Europa Epoche machen sollte: die Straf-Anstalt. Es blieb nur ihr furchterregender Anblick, der die Aufgabe der Abschreckung übernehmen sollte. Gefängnisreformer empfahlen um 1800, beim Bau von Strafanstalten "viel Stangen- und Kettenwerk" zu verwenden, die Gefängnisse schwarz anzumalen, mit kleinen vergitterten Fenstern zu versehen und den Eingang "mit grossen eisernen, fürchterlich tönenden Riegeln" zu verschließen, um sie "der Phantasie furchtbar" zu machen. Das unsichtbare Uhrwerk im Innern sollte in den Delinquenten die fehlenden bürgerlichen Tugenden produzieren. Die Rede von der "Besserungsmaschine" will Nutz nicht metaphorisch, sondern buchstäblich verstanden wissen: "Die ganze Lebensweise des Sträflings" - Arbeit, Andacht, Ernährung, Bewegung, Schlaf - "ist organisiert nach den Regeln einer totalen Diätetik". Die Seele wurde zum Gegenstand einer auf dem Umweg über den Körper auf sie einwirkenden Technologie: Übung und Gewöhnung sollten die bürgerlichen Tugenden zum unveräußerlichen Besitz reifen lassen.

Der Perfektionierung dieser "Besserungsmaschinen" widmete sich die aus der Gefängnisreform hervorgegangene wissenschaftliche Gefängniskunde. Nutz stellt die Diskursgeschichte ihrer Institutionalisierung ausführlich im Licht ihrer Legitimationsstrategien, der Typologie ihrer Teilnehmer, ihrer institutionellen Orte, ihrer medialen Erscheinungsformen und ihrer Debatten dar. Ihre Erfolgsgeschichte führt vom Umbau des Walnut Street Jail in Philadelphia 1790 bis zum Bau des alle gesammelten Erkenntnisse in sich vereinigenden Zellengefängnisses in Pentonville im Norden Londons 1842, das für ganz Europa bis zum Ersten Weltkrieg vorbildlich sein sollte: Perfektioniert wurden sowohl die hygienischen Einrichtungen, die Arbeit der Häftlinge, ihre Klassifikation und Isolation wie ihre Überwachung. Dabei zeigt sich: Mögen auch nur wenige Anstalten tatsächlich nach den Plänen von Jeremy Benthams "Panoptikum" gebaut worden sein - einem Rundbau, aus dessen Zentrum ein Beobachter alle Gefangenen überwachen konnte, ohne selbst gesehen zu werden -, dem Geist seiner Konzeption waren die meisten Ingenieure und Architekten verpflichtet. Auch die Architektur des 1829 eröffneten siebenstrahligen Einzelzellengefängnisses von Cherry Hill, die sich schließlich durchsetzte, wurde als "panoptische Bauart" bezeichnet; und auch hier sollten die Delinquenten durch die allgegenwärtige, aber nicht greifbare Überwachung dazu angehalten werden, den reuigen Blick gegen sich selbst zu richten, Einkehr zu halten, die eigene Seele zu zerknirschen und die Vernunft dieses Systems als stete Selbstüberwachung zu verinnerlichen.

Trotz dieser Perfektionierung vermehrte sich die Zahl der Delinquenten nach 1848 explosionsartig. Thomas Nutz' nüchterne dokumentarische Bestandsaufnahme enthält sich der historischen Spekulationen von Michel Foucault, der sich 1976 in seinem Buch "Überwachen und Strafen" gefragt hat, wozu dieser vermeintliche Mißerfolg des Gefängnisses gut war. Für Foucault war das vermeintlich menschenfreundliche Vertrauen in die "Perfektibilität" des Verbrechers als eines verlorenen, aber zurückzugewinnenden Bürgers nur die korrupte Maske eines zynischeren Kalküls: Die Besserungsmaschinen sollten geradezu Delinquenz produzieren, um sie besser differenzieren, klassifizieren und den verwaltungstechnischen Umgang mit ihr zweckmäßiger und ökonomischer organisieren zu können.

Die von Foucault unterstellte Systemrationalität allein erklärt allerdings nicht den anstehenden Wandel: Die neuen "Humanwissenschaften", die durch die Seelenpolitik des Gefängnisses hervorgebracht worden sind, Kriminalanthropologie und Kriminologie, gingen unter dem Vorzeichen der fehlgeschlagenen Gefängnisreform dazu über, das Menschenbild des Verbrechers neu zu fassen: Als "uomo criminale" (Cesare Lombroso) und "geborener Verbrecher" wurde er nicht länger im strafrechtlichen Sinne kriminalisiert, sondern im naturwissenschaftlichen Sinne biologisiert und als überkommenes Relikt einer bereits überwundenen Evolutionsstufe, als Atavismus in eine noch immer teleologisch gedachte und auf Fortschritt bedachte Entwicklungsgeschichte eingeordnet, in dessen Namen es ihn auszumerzen galt: An die Stelle der hygienischen Verbesserung seiner Haftbedingungen trat die "Sozialhygiene", durch die der Bevölkerungskörper prophylaktisch vor der Entartung bewahrt werden sollte, indem seine krankhaften Elemente durch eugenische Maßnahmen - allen voran die Sterilisation, die lebenslange Verwahrung, aber auch die Exekution - daran gehindert wurden, sich fortzupflanzen.

Diese weitere Entwicklung deutet Nutz nur an. Seine Geschichte der Gefängnisreform und der mit ihr einhergehenden Institutionalisierung der wissenschaftlichen Gefängniskunde endet am Vorabend der Revolution von 1848, an dem sie ihren Höhepunkt erreicht hat. Die konkrete historische Umsetzung der reformpolitischen Impulse aus der Gefängniskunde überprüft Nutz am Beispiel Preußens. Das Studium der erstmals erschlossenen Akten zu den preußischen Gefängnisreformbestrebungen auf Ministerialebene im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin fördert eine unerwartete preußische Reformfreudigkeit zutage. Insbesondere König Friedrich Wilhelm IV. drängte nach seinem Regierungsantritt am 7. Juni 1840 sofort auf die Einführung des pennsylvanischen Einzelhaftsystems, in dem die Sträflinge gänzlich isoliert voneinander gehalten wurden, konnte sich aber gegen die federführenden Minister in seinem Kabinett nicht durchsetzen, die beharrlich am Auburnschen Haftsystem festhielten, in dem die Sträflinge nur nachts getrennt, tagsüber aber dem mit der Peitsche durchgesetzten Gebot des Stillschweigens unterworfen wurden.

"Strafanstalt als Besserungsmaschine" ist eine ebenso quellengesättigte wie den aktuellen Forschungsstand bereichernde Monographie. Bei ihrer umfassenden Literaturkenntnis erstaunt nur, daß Regula Ludis breit angelegte Berner Dissertation "Die Fabrikation des Verbrechens. Zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik (1750-1850)" von 1997 (bibliotheca academica Verlag, Tübingen 1999), die sich in verschiedenen Segmenten mit ihrer eigenen Fragestellung überschneidet, nicht zur Kenntnis genommen worden ist, obwohl das Manuskript erst im Dezember 2000 abgeschlossen wurde. Ein Seitenblick auf die Schweiz nährt den Verdacht, daß der Liberalismus selbst einen produktiven Anteil an der von ihm so listenreich bekämpften Delinquenz hat.

MARTIN STINGELIN

Thomas Nutz: "Strafanstalt als Besserungsmaschine". Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775-1848. R. Oldenbourg Verlag, München 2001. X, 435 S., Abb., geb., 97,40 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Viel Lob hat Martin Stingelin in seiner ausführlichen Kritik für diese "sozialkonstruktivistische und diskursanalytische Studie über die Geburt der wissenschaftlichen Gefängniskunde" übrig. Quellengesättigt wie sie sei, bereichere sie den aktuellen Forschungsstand. Und auch die "nüchterne, dokumentarische" Darstellung von Thomas Nutz, der sich aller Spekulationen im Sinne von Michel Foucault enthalte, findet offenbar den Beifall des Rezensenten. Worum geht es in dieser Dissertation? Nach Nutz hatte die Gefängnisreform, die Ende des 18. Jahrhunderts in den USA und Europa begann, zwei Gründe: zum einen erkannte man den Wert der Hygiene -die dreckigen Gefängnisse, in denen Häftlinge reihenweise am "Kerkerfieber" starben, erschienen plötzlich unzeitgemäß. Zum anderen bereitete den Bürgern der Anblick kahlgeschorener, unterernährter und misshandelter Sträflinge auf den Straßen Pein. Also beschloss man, die Unglücklichen nicht mehr in Kerkern aufzubewahren, sondern in "Besserungsmaschinen" zu den bürgerlichen Tugenden zu bekehren, berichtet der Rezensent. Das Wort "Besserungsmaschine" nehme der Autor der Studie wörtlich: 'Die ganze Lebensweise des Sträflings ... ist organisiert nach den Regeln einer totalen Diätik', zitiert Stingelin den Autor. Seltsamerweise explodierten jedoch gerade in dieser Zeit die Kriminalitätszahlen. Nutz stellt die "Diskursgeschichte ihrer Institutionalisierung ausführlich im Licht ihrer Legitimationsstrategien, der Typologie ihrer Teilnehmer, ihrer institutionellen Orte, ihrer medialen Erscheinungsformen und ihrer Debatten dar", beobachtet Stingelin. Nur einen Makel kann er an dieser Arbeit feststellen: Leider habe der Autor die Berner Dissertation von Regula Ludis, "Die Fabrikation des Verbrechens" übersehen. Diese legt für Stingelin den Verdacht nahe, dass "der Liberalismus selbst einen produktiven Anteil an der von ihm so listenreich bekämpften Delinquenz hat."

© Perlentaucher Medien GmbH
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