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Der ganze Schrecken und der ganze Trost, den Familie bedeuten kann
Wie ist es, wenn man in hohem Alter seine Frau verliert und auf einmal merkt, dass man nie mit ihr geredet hat - zumindest nicht über das, was einem seit sechzig Jahren das Herz zuschnürt? Wie ist es, wenn man als Rentner wieder bei seinem Vater einzieht - und einen Mann pflegt, der einem ein Leben lang fremd geblieben ist? Und wie ist es, wenn man immer sicher war, anders zu sein als die Eltern - und nun, da man zum ersten Mal liebt, erkennen muss, dass man genauso verstockt und unfähig ist wie sie?
Walther sitzt an
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Produktbeschreibung
Der ganze Schrecken und der ganze Trost, den Familie bedeuten kann

Wie ist es, wenn man in hohem Alter seine Frau verliert und auf einmal merkt, dass man nie mit ihr geredet hat - zumindest nicht über das, was einem seit sechzig Jahren das Herz zuschnürt? Wie ist es, wenn man als Rentner wieder bei seinem Vater einzieht - und einen Mann pflegt, der einem ein Leben lang fremd geblieben ist? Und wie ist es, wenn man immer sicher war, anders zu sein als die Eltern - und nun, da man zum ersten Mal liebt, erkennen muss, dass man genauso verstockt und unfähig ist wie sie?

Walther sitzt an Grethes Krankenbett und sieht hilflos die letzte Chance verstreichen, ihr alles zu erzählen. Jürgen will seinem Vater zur Seite stehen, aber der wehrt seine Hilfe ab. Dennoch entsteht zwischen den beiden Männern eine Nähe, die neu für sie ist. Als Walther damals aus dem Krieg und der Gefangenschaft kam, war Jürgen bereits zehn, er hat seinen Sohn nicht aufwachsen sehen. Diese Jahre haben sie immer getrennt, Jahre, in denen viel geschehen ist, Erlebnisse, für die es keine Worte gibt. Doch nun wird Walther zum Pflegefall und Jürgen zum Pfleger, und Vater und Sohn entkommen sich nicht mehr. Als dann auch noch Jürgens Sohn Nicki sie besucht, der mit Ruth gerade zum ersten Mal erfährt, wie schön und schwer es ist zu lieben, wird die Mauer des Schweigens rissig und die Vergangenheit blitzt hervor. Alte, bislang nie ausgesprochene Konflikte bahnen sich wütend ihren Weg an die Oberfläche und führen zu einer vorsichtigen und zarten Annäherung.

Nach ihrem hochgelobten Debüt »Ostersonntag« erweist sich Harriet Köhler erneut als feinfühlige und genaue Beobachterin familiärer Bindungen. Mit beeindruckender Sprache und in intensiven Bildern erzählt sie von Trauer und Sehnsucht, von Wut und Liebe, aber auch von der Möglichkeit, zu verstehen und zu verzeihen - und umspannt, fast nebenbei, die Geschichte dreier Generationen, geprägt von den Spätfolgen des Krieges.
Autorenporträt
Köhler, HarrietHarriet Köhler, geboren 1977, hat Kunstgeschichte studiert und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Sie lebt und arbeitet in München.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2010

Nur im Auto schweigt die Welt

In ihrem zweiten Roman erkundet Harriet Köhler erneut familiäre Abgründe. Wortmächtig belauscht sie die Stille zwischen den Generationen.

Von Sandra Kegel

Walther Augustin war in Neuanfängen geübt. Als er aus russischer Kriegsgefangenschaft zu seiner Familie ins Vogtland heimkehrte, erkannte er seine alte Umgebung kaum wieder. Als er mit seiner Frau aus der DDR nach Westdeutschland floh, wusste er nichts über die neue Welt. Doch mit Grethes Tod nach sechzig gemeinsamen Jahren ist er am Ende. "Es würde nichts mehr kommen", schreibt Harriet Köhler in dem für sie typischen rauhen, lakonischen Ton. Walther ist fünfundachtzig, und der Himmel, "auf den letztlich ja doch alle hoffen", ist ihm bestenfalls ein Versprechen, das schon auf Erden gebrochen wurde. Auch nach einem halben Menschenleben wird er die Erinnerungen an den Krieg nicht los, die Stunden und Tage in den Panzerlöchern verfolgen ihn noch immer bis in den Schlaf. Er ist nicht der Einzige, der darunter leidet.

Wie in ihrem Debüt "Ostersonntag" (2007) erkundet Harriet Köhler auch in ihrem zweiten Roman die Abgründe innerhalb einer Familie - ein Thema, zu dem einer Autorin Anfang Dreißig vermutlich ohne allzu große Mühe viel einfallen kann. Diesmal geht es um drei Männer aus drei Generationen einer Familie. Und man staunt, wie sich Harriet Köhler in diese Männer, gleich welchen Alters, hineinempfindet. Zugleich nutzt sie die Figuren als Projektionsfläche, um alles unterzubringen, was die Geschichte Deutschlands im zwanzigsten Jahrhundert ausmacht: vom Zweiten Weltkrieg über die Teilung bis zur Wiedervereinigung. Die 1977 geborene Autorin, die Journalismus und Kunstgeschichte studiert hat und heute in Frankfurt am Main lebt, hat ihrem Buch ein Zitat von Peter Kurzeck vorangestellt: "Die Gegenwart, das ist doch nicht einfach bloß jetzt!"

Die Geschichte beginnt mit dem Sterben von Grethe, der Ehefrau, Mutter und Oma, im Krankenhaus. Aus Sorge, der Vater Walther komme allein nicht mehr zurecht, nistet sich kurzerhand sein Sohn Jürgen bei ihm ein, ein achtundsechzigjähriger Ingenieur, der selbst gerade Rentner wurde und keine rechte Vorstellung davon hat, wie es nun weitergehen soll. Über den ungebetenen Besuch ist der Vater nicht gerade erfreut, und während sich die beiden bald im Stellungskrieg befinden, bei dem während kleiner Scharmützel immer mehr alte Wunden aufgerissen werden, kommt Jürgens Sohn Nicki nach Ebersbach. Um der Großmutter Lebewohl zu sagen, ist es zu spät; für ein Gespräch mit den beiden Männern hingegen ist es zu früh. So wird viel geschwiegen zwischen den dreien. Und für Nicki, der am liebsten gleich wieder abreisen würde, hat Harriet Köhler die Stille sogar zu seinem Beruf gemacht. Als Klangdesigner bei einem Münchner Autokonzern entwickelt er Hilfsmittel, durch die es im Fahrerraum leiser wird und durch die man sich während der Fahrt wie in einer Kathedrale fühlt, "abgeschirmt, wie umarmt von einer großen Stille".

Das Schweigen freilich hat Tradition in dieser Familie. Und von ebendieser Sprachlosigkeit und wie sie weitergetragen wird, erzählt dieser ebenso kluge wie dichte Familienroman - abwechselnd aus der Perspektive von Großvater, Vater und Sohn, die einander lieber ein Leben lang belügen, als die Probleme beim Namen zu nennen, und deren Geheimnisse die Kluften ständig vergrößern. Dabei tragen keineswegs nur die Männer ihre Traumata mit sich herum. Während Walther in Kriegsgefangenschaft die nackte Furcht ums Überleben noch lange nicht verloren hatte, wurde seine Frau daheim von russischen Soldaten vergewaltigt. Davon erfährt er bis zum Schluss nichts, auch nicht von seinem Sohn, der damals, gerade fünf Jahre alt, zitternd vor Angst im Kleiderschrank saß. Einziges Ventil für diesen Schmerz war Grethes grotesker Putzfimmel. Stundenlang würde sie zeitlebens putzend durch die Wohnung kriechen: Nie mehr sollte ihr Heim einen Makel haben. Im Dorf aber sagte man, weil ihre Fußböden und Fenster stets glänzten, ein Zauber liege auf Grethes Haus - ein Zauber allerdings, der verhindere, dass das Leben seine Spuren hinterlasse.

"Haltung war es, was man brauchte, wenn die Welt um einen herum schwankte und stürzte und in Trümmer zerbrach" - so wiederum rechtfertigt Walther vor sich selbst seine Überlebenstaktik, die anderen herzlos und kalt vorkommen konnte. Der Moment vor allem, als er im Krieg seine Haltung dann doch verlor, macht ihm bis ins Alter zu schaffen. Aber auch hier gibt es keine klärenden Worte, sondern nur Schreie Nacht für Nacht, unter denen Jürgen schon als Kind gelitten hat, während Grethe sich schlafend stellte. Man kann sogar an Erfahrungen zugrunde gehen, die man selbst nicht gemacht hat, zeigt Harriet Köhler - und verschweigt, was eigentlich damals geschehen ist.

Während die Eltern im Schweigen ihr Abkommen fanden, ging Jürgens Ehe mit einer lebenslustigen Französin früh in die Brüche. Vom Leben hat er nie etwas erwartet, sondern es als "eine Aufgabe, die es zu bewältigen galt", verstanden. Dazu, dass es dem eigenen Sohn einmal bessergehen solle, hat er vor allem durch finanzielle Sicherheit beitragen können. Immerhin, massive Ängste kennt Nicki ebenso wenig wie Selbstzweifel. Aber wenn seine Freundin das Gespräch sucht, flüchtet er sich in Nebensächlichkeiten. Auch die Liebe entzaubert er mit Verweisen auf Synapsen und Konstruktionsprinzipen. Am liebsten aber zieht er sich in die angestrebte Geräuschlosigkeit seiner Autos zurück, was ihm nicht nur die Freundin als Verschlossenheit und Kälte auslegt: "Die Tür zur Pathologie bist du", bricht es bei einem Streit einmal aus Ruth heraus. Sie ist Ärztin.

Und sie ist, von einem alten Nachbarn abgesehen, die einzige handelnde Figur des Romans neben den drei Männern. Vor deren Mauer des Schweigens wirkt sie ganz ohne auffälliges Temperament geradezu geschwätzig. Mal verständnislos, mal besorgt oder entsetzt schaut sie in das familiäre Innenleben. Ihre Analyse ist nicht ohne Wortwitz, wenn sie etwa Jürgen als Duracell-Häschen bezeichnet, das durch die Welt marschiert, als sei er immer noch an der Front.

In Wirklichkeit hatte er nicht einmal den Krieg richtig erlebt. Aber das befreit die Figuren dieses Buchs nicht von der Tragik ihres Jahrhunderts, die sich von den Vätern auf die Söhne vererbt. Nie wird das empfindsamer dargestellt als in Nickis Erzählen vom Haus der Großeltern im Vogtland. Es ist sein "Sehnsuchtsort", obwohl er selbst nie dort war. Aber es klingt, als habe er dort als Kind gespielt. Hier die Phantomschmerzen, dort die Phantomerinnerung. Entkommen kann man der Familie nicht.

Harriet Köhler: "Und dann diese Stille". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 320 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wie es im Familienkäfig zugeht, schweigend über Generationen, ein Gefühl davon bekommt Sandra Kegel beim Lesen von Harriet Köhlers "klugem, dichten" Roman. Typisch für diese Autorin findet Kegel den rauhen, lakonischen Ton, mit dem hier Abgründe (Krieg, Teilung, Wiedervereinigung) erkundet werden, die das 20. Jahrhundert aufriss. Bemerkenswert erscheinen ihr Köhlers Einfühlungsvermögen in die Perspektiven von Großvater, Vater und Sohn und ihre Verwendung als Projektionsflächen für Geschichte.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Ein grandioser Zweikampf unter Senioren [...]. [...] Da ist jede Bewegung spannend, blitzt jeder Dialogsatz, sind sämtliche Beteiligten so bedauerns- wie bewundernswert, so lächerlich wie heroisch.« Ursula März Die Zeit