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Ein ödipales Vergnügen - Faktors erotischer Entwicklungsroman über Widerstände, Schmutz und Schönheit
Georg wächst in der schönsten Wohngegend Prags in einem summenden Frauenhaushalt auf. Leider zur Zeit des politischen Terrors, der überirdischen Atomversuche und später des Reformversuchs von '68. Zwischen Tanten mit Kriegstraumata, dem tyrannischen Onkel ONKEL und der überstrahlend-schönen Mutter bleibt ihm nur die Flucht nach vorn.Das sozialistische Prag hat in den Jahren von Georgs Jugend seinen Glanz verloren. In einer Stadt voller gewalttätiger Müllmänner, 50-ccm-Motorradcowboys,…mehr

Produktbeschreibung
Ein ödipales Vergnügen - Faktors erotischer Entwicklungsroman über Widerstände, Schmutz und Schönheit

Georg wächst in der schönsten Wohngegend Prags in einem summenden Frauenhaushalt auf. Leider zur Zeit des politischen Terrors, der überirdischen Atomversuche und später des Reformversuchs von '68. Zwischen Tanten mit Kriegstraumata, dem tyrannischen Onkel ONKEL und der überstrahlend-schönen Mutter bleibt ihm nur die Flucht nach vorn.Das sozialistische Prag hat in den Jahren von Georgs Jugend seinen Glanz verloren. In einer Stadt voller gewalttätiger Müllmänner, 50-ccm-Motorradcowboys, sexbesessener Fremdgänger und vieler anderer unsozialistischer Elemente nutzt Georg alle sich bietenden Freiräume, um auszubrechen: Er experimentiert mit hochexplosiven Substanzen, verbringt die Nachmittage mit wilden Jugendcliquen und findet im Kreis der Familie schließlich auch eine Geliebte. In einer Gesellschaft, die von den Rändern her vergammelt und sich von innen auflöst, bekommt das Körperliche eine befreiend-subversive Bedeutung. Georg mobilisiert alle Kräfte, um neben der Mutter auch dem stickig-klebrigen Vaterhaushalt zu entkommen, in dem er seine verhassten Wochenenden verbringen muss. Als er nach der Okkupation des Landes den kulturellen Niedergang miterlebt und sich der Prager Dissidentenszene nähert, wird ein geschasster Intellektueller, der sich trotz seiner Blindheit wie ein Sehender in der Stadt bewegt, zu seinem Wunschvater.Georg macht sich seit seiner frühen Kindheit Sorgen um seine Vergangenheit, seiner hellen glücklichen Zukunft ist er sich aber völlig sicher. Die Frage, ob er wirklich glücklich werden wird, beantwortet sich bei einer zufälligen, aber nicht wirklich vermeidbaren Begegnung auf der Straße.Indem Jan Faktor Georg selbst erzählen lässt, macht er das Erzählen zu einem zweiten subversiven Akt - und führt damit den Entwicklungs- und den Gesellschaftsroman zusammen. So entstehen ein vor Witz strotzendes Psychogramm einer Familie und ein hellsichtiges Porträt einer Stadt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2010

Als ich lernte, die Bomben zu lieben

Totalitärer Alltag als gelebte Literatur: Mit "Georgs Sorgen um die Vergangenheit" hat Jan Faktor einen weisen und witzigen Roman über seine Prager Jugend und das erotische Erwachen in einem jüdischen Frauenhaushalt geschrieben.

Von Felicitas von Lovenberg

Wahrscheinlich sollte jeder Mann, bevor er unwiderruflich reif für Jüngere wird, sich einmal in eine ältere Frau verlieben - wobei dieses Wesen tunlichst nicht seine Mutter sein sollte. Von einer Mannwerdung inmitten geballter Weiblichkeit und gegen alle mütterliche Wahrscheinlichkeit erzählt Jan Faktor in dem übermütigsten Roman dieses Frühjahrs: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag". Der barock und zugleich etwas infantil klingende Titel ist die einzige Hürde, die Autor und Verlag vor das üppige Lesevergnügen gesetzt haben.

"Wenn ich in Gedanken durch die vielen Räume unserer Prager Wohnung streife, überkommt mich das Gefühl, dass es dort vor Lustemissionen pausenlos geflimmert haben muss. Egal, wohin ich ging, traf ich eine Frau, die mich anlächelte und von mir begeistert war." Eine Jugend, die derart eingebettet in weibliche Reize ihren Lauf nimmt, darf natürlich möglichst nie zu Ende gehen. Hauptschauplatz des Romans und damit von Georgs in den Sechzigern begonnener und ein halbes Jahrhundert später mit diesem Roman womöglich abgeschlossener Éducation sentimentale ist eine Etagenwohnung im Zentrum von Prag. Diese Wohnung, die einem weitverzweigten, durch Schränke und andere klobige Möbelstücke zugestellten Tunnelsystem ähnelt, ist zugleich eine der heimlichen Heldinnen des Romans. In dieser Schrankburg mit ihren vielfältigen, je nach Koalitionslage der Bewohnerinnen eingerichteten Kochnischen, Schlaf- und Waschgelegenheiten wächst Georg auf. So zusammengewürfelt wie das Mobiliar, das aus ererbten oder gestrandeten, nicht zusammenpassenden, letztlich aber geliebten Stücken besteht ("Manche davon waren mir zeitweise näher als meine Mutter"), ist auch die Wohngemeinschaft.

Zum "herrschenden Teil des Clans" gehören Georgs Mutter Anna, Urtante Bombe und "Hauptgroßmutter" Lizzy, mit der Georg noch in der Pubertät das Zimmer teilt; drum herum gruppieren sich drei bis sechs weitere Tanten beziehungsweise Großmütter. Georg gibt den trocken-lakonischen Chronisten der schicksalsgebeutelten Wahlverwandtschafts-WG: "Dummerweise fehlte in der Wohnung auch so etwas wie mein Vater." Dieser lebt einige Straßen weiter mit einer anderen Frau. Ein erwachsenes männliches Wesen gibt es aber in diesem Frauenkosmos doch: Onkel "Onkel", erst zum Kommunismus, dann zum Staatssicherheitsbeamten konvertierter Pfarrer, Bastler und Ingenieur von höheren Graden, wenn schon nicht Weihen, und Mann von Tante Eva.

Eine Ausnahme ist Onkel "Onkel" nicht nur wegen seines Geschlechts, sondern auch, weil er Tscheche und "Nichtjude par excellence" ist. Denn der Frauenüberschuss erklärt sich aus der Geschichte, wie Georg uns gleich zu Beginn gänzlich unsentimental wissen lässt: "Aus den KZs kamen nach dem Krieg nicht die Herren, sondern eher die Damen zurück." Doch gleich, ob sie in Lagern wie Theresienstadt, Auschwitz und Groß-Rosen gewesen waren oder den Krieg untergetaucht in Budapest, in der Puszta oder in England überlebt haben - gesprochen wird über diese Erfahrungen nicht. Gekrönt von Georgs strahlend schöner Mutter, bildet die WG mit ihrem großbürgerlichen geistigen Milieu bei gleichzeitig hoher Neurosendichte einen "Schutzklumpen", der sich mit der Dauer des Provisoriums gegen die Zeitläufte behauptet. Drum herum liegt wie ein weiterer Puffer der tschechoslowakische Sozialismus von sowjetischen Gnaden; da kann man nicht einfach ausziehen, studieren und ein neues Leben beginnen. Georgs Problem liegt in der Frage, wie und ob er bei dieser historischen wie persönlichen Ausgangslage je erwachsen werden soll.

Mit seinem Ich-Erzähler Georg ist Jan Faktor, 1951 in Prag geboren, mindestens dem Namen nach zu einem früheren Alter Ego zurückgekehrt, mit dem er sich schon in den achtziger Jahren in der Kunst der Selbstbesudelung übte. "Georgs Sorgen um die Zukunft" hieß 1982 ein erster, sprachspielerisch-kritischer Text; "Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens" ergaben dann 1989 einen Band mit experimentellen Texten und Gedichten Faktors. Von der Untergrund-Literaturszene Prenzlauer Berg, in der er sich zu DDR-Zeiten als "Schalksnarr" einen Namen gemacht hatte, sagte er sich ebenso los wie von der Leserfeindlichkeit der dort gepflegten Literatur. 2006 veröffentlichte Faktor dann mit "Schornstein" seinen ersten Roman, eine zum "Kassenkampf" aufrufende Satire aus dem kranken Gesundheitswesen. Manche Ursache und gewisse Symptome des seltenen Leidens seines vornamenlosen Helden Schornstein, der mit dem Georg seines neuen Romans nicht nur den Familiennamen gemein hat, lassen sich nun bis in die Prager Kindheit zurückverfolgen.

Die Gabe, autobiographisch angereicherte Realität mit komödiantischer Übertreibungslust und unter wirkungsvoller Herabsetzung seiner selbst in eine Groteske zu verwandeln, zeigte sich schon in "Schornstein", und auch jetzt ist Jan Faktors Literatur Psychoanalyse mit anderen Mitteln. Seine abenteuerlichen Erfahrungen als Lastenträger in den slowakischen Bergen hat er hier noch einfließen lassen, doch vor seiner 1978 erfolgten Übersiedlung nach Ost-Berlin enden "Georgs Sorgen um die Vergangenheit".

Dieses Buch einen Entwicklungs- oder Bildungsroman zu nennen wäre so wahr wie langweilig. Der Roman, der von seinem ersten, portnoyhaft entschiedenen Satz an ("Die ersten Sorgen um meinen Penis machte ich mir schon vor etwa fünfzig Jahren im Kindergarten - damals nur aus rein hygienischen Gründen") einen Ton höherer Fabulierkunst und grundloser Heiterkeit anschlägt, liest sich vielmehr wie ein Cocktail aus Philip Roth, Milan Kundera und Torbergs "Tante Jolesch", garniert mit nicht nur einer Kirsche Bohumil Hrabal. Es geht um die Möglichkeit, Alltag in Literatur zu verwandeln, eine, wie wir lernen, von Hrabal eingeführte tschechische Spezialität, die Faktor hier gekonnt und betont lässig mit dem jüdischen Thema der Identitätssuche verknüpft.

Heraus kommt ein Epos von alteuropäischen Ausmaßen, dessen sprudelnde Anekdotenfülle eine fröhliche Enthemmtheit begleitet. Der "vorbildhaft verdorbene" Henry Miller wird zwar des Öfteren beschworen, schrieb aber niemals auch nur annähernd so witzig über "Nippel-, Hügel- und Spaltenphilie", wie es Jan Faktor hier tut. Denn wie schon in "Schornstein" verfolgt der Autor erneut eine lustvolle Poetik der Indezenz, die sich aus dem geradezu wissenschaftlichen Interesse am Ekligen ebenso speist wie aus dem Bedürfnis, stimmige Ausdrucksformen für die "inneren Qualspiele" der Seele zu finden. Georg, dieser schambetonte und gewiefte Chronist seiner "privaten Gefühlsachterbahn", die zumal angesichts der familiären "Affinität zum Unglück" das hehre Ziel verfolgt, "an der Seite einer reizenden Frau nur noch glücklich zu werden", kokettiert mit seiner Unzuverlässigkeit, lässt hier ein schwungvolles "Man wird mir das glauben müssen", dort ein "Das ist einigermaßen ernst gemeint" fallen.

Ganz wie das Leben folgen auch "Georgs Sorgen um die Vergangenheit" keiner als solche erkennbaren Handlung; es ist vielmehr die anhaltende Energie eines durchtrainierten Beobachters, der den Leser, der um Seite vierhundert herum möglicherweise findet, er habe nun genug geleistet, noch über weitere 236 Seiten auf Trab hält. Am Ende, etwas außer Atem, vermisst man höchstens eines: nämlich die Schilderung, wie und wann genau der verzweifelte Glückssucher Georg, der sein Leben als "permanente Geschichte des Verliebtseins" begreift, sich in die deutsche Sprache verguckt hat. Zwar sprechen Großmutter und Mutter - neben sechs weiteren Sprachen - auch Deutsch, doch bleibt diese spezielle Bindung Georgs, der Schriftsteller werden will, rätselhaft. Dafür gibt es immer wieder kleine Exkurse ins niedlichkeitsvernarrte Tschechische, und einmal, an signifikanter Stelle, auch ins Jiddische.

Was zunächst als Familienaufstellung und dann als sexuelle Reifeprüfung mit Hilfe der gut zwanzig Jahre älteren mütterlichen Freundin und landschaftlichen Extremkünstlerin Dana daherkommt, weitet sich im Laufe des Romans zum politischen Panorama der Tschechoslowakei und insbesondere Prags, wo es bei aller beiläufigen Brutalität, ohne die der Totalitarismus nicht auskommt, bis 1968 fast heimelig zugeht: "Die Jahre bis zum Einmarsch waren voller unschuldiger Naivität und Optimismus, man leckte sich an den neuen Freiheiten satt. Von den kommenden Abstürzen ahnte man noch nichts."

Die potentiell eiserne Wirkung eines Vorhangs ahnt Georg in der heimischen Schrankburg, wo allenthalben bunte, geblümte Stofflappen die Türen ersetzen, nur dank der "Spiegel"-Lektüre der Mutter etwas. Aber Intellektualität allein, so begreift Georg, macht den Zerfall nicht erträglicher. Die einzige echte Heldenfigur, die keine an Schweijk erinnernde Züge trägt, ist der blinde Philosoph Klaudius, der sich so hellsichtig durchs Leben wie durch die Stadt bewegt.

Doch natürlich leistet Georg, der immer wieder verkündet, an einer glücklichen Zukunft keine Zweifel zu haben, obwohl fast alles dagegen spricht, auch Trauerarbeit - und das nicht erst, als er in dem Versuch, mit seiner Mutter ins Reine zu kommen, mit dieser in den siebziger Jahren eine Reise auf den Spuren ihrer traumatischen Vergangenheit nach Polen, ins ehemalige Konzentrationslager Groß-Rosen, unternimmt. Es ist die allgegenwärtige Wehmut, von der die weise Komik dieses Coming-of-Age-Romans kündet, eine Empfindsamkeit, die nicht ausgestellt wird, aber durchschimmert und die Groteske vor dem Leerlauf rettet.

Jan Faktor: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 636 S., geb., 24,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.03.2010

Mach dich klein und halt dich still!
Für den Leipziger Buchpreis 2010 nominiert: Jan Faktor erzählt auf beglückende Weise von seinem unglücklichen Leben in Prag
Der Frage „Was willst du einmal werden?” sieht sich jeder männliche Sprössling früher oder später ausgesetzt. Für den jungen Georg gibt es darauf nur eine wirklich befriedigende Antwort: Müllmann! Allein schon wie so einer die schweren verzinkten Rundtonnen auf ihre Ränder stellt und Rädern gleich rollen lässt, immer zwei auf einmal, eine im, die andere gegen den Uhrzeigersinn, ein wahrer Künstler seines Fachs! Und welchen dumpfen, drohenden Lärm er dabei in den gewölbten Hauseingängen machen muss und darf! „Glühende Wildheit auszustrahlen war für diese Leute Pflicht und Bestandteil ihres Berufskodex, kleine Kinder mit dreckigen Händen oder noch dreckigeren Handschuhen zu erschrecken war ihr Kulturprogramm. Aber üble Wut musste immer im Spiel sein. Der Lohn für die Beseitigung von jedermanns Dreck beinhaltete einfach das Recht auf Rache, das Recht auf das Rückschleudern von Absonderungen, die irgendwo übergequollen waren und in die geordnete Wirklichkeit nicht passten.”
In anderen Städten wäre dies der Traum eines Fünfjährigen gewesen. Im sozialistischen Prag aber bewirbt sich Georg noch als junger Mann auf den Posten und ist untröstlich, als er abgewiesen wird. Kaum eine Entschädigung stellt es dar, als er schließlich einen Job als Lastwagenfahrer findet, der für Baustellen Kloschüsseln ausfährt. Die sind zwar noch neu und sauber – aber immerhin. So sieht der groteske Humor des Jan Faktor aus, der sein Buch „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag” als „Roman” deklariert, obwohl es sich dabei eindeutig um höchstpersönliche Erinnerungen handelt, die über den gegenwärtig vorwaltenden autobiografischen Zug in der Literatur noch weit hinausgehen; kaum dass die Namen ein wenig verdeckt werden. Das präsentiert sich, wie schon der barock angehauchte Untertitel verheißt, auf eine schelmisch vergnügte Weise; aber es verrät doch auch viel über den jammervollen Zustand der Gesellschaft, um die es geht, die der Tschechoslowakei von den Fünfziger- bis zu den Siebzigerjahren.
Wer dort überleben wollte, vermied am besten jegliche ins Auge fallende, anspruchsvolle Aktivität. Denn wer sich hervortat, lief Gefahr, in den fast bruchlos den KZ’s der Nazis folgenden Lagern der Stalinzeit zu verschwinden. Der kurzen Zwischenerwärmung im Prager Frühling folgten nach 1968 die zwanzig bleiernen Jahre der „Normalisierung”, als praktisch alle Intellektuellen aus ihren Berufen und in die elendesten Jobs gedrängt wurden. Mach dich klein und halt dich still! Dieses Lebensmotto wurde den Tschechen von ihren beiden wirkungsmächtigsten literarischen Figuren ans Herz gelegt, Bohumil Hrabal und dem braven Soldaten Schwejk. Als deren Schüler und Nachfahre erweist sich, wenngleich nicht ohne es zu reflektieren, auch Jan Faktor. Beide lehren die schlaue Demut, die Mimikry an den Dreck. Doch wer sich so tarnt, wird selbst vom Dreck ununterscheidbar. Hier liegt das Tieftraurige dieses ungemein lustigen Buchs.
Der faszinierten Lust, mit der dieser Erzähler sich im Dreck wälzt, der Verharzung lang einwirkender Küchenfette, dem Versagen von Abflussrohren, der Wohnungs- und Wurstbegrünung durch Schimmelbildung muss hier nicht im Detail nachgegangen werden. Sie nimmt breiteste Partien dieses nicht eben schmalen Buchs in Anspruch und zeugt von einer Selbstbehauptung, die sich nur als Selbstauslöschung realisieren kann, also notwendig masochistische Züge trägt.
Georg wächst in einem Haushalt voller Frauen auf, die miteinander verschlungen sind wie ein Rattenkönig; dreizehn Namen zählt er auf, dann winkt er ab: es lohne sich ja doch nicht, sie zu unterscheiden. Seine Mutter besteht darauf, ihn bis zur Pubertät selbst zu baden, er muss mit seiner Großmutter im selben Zimmer schlafen. Im eigentlichen Sinn erwachsen wird er nie. Mit einer weitläufigen Verwandten, mehr als zwanzig Jahre älter, die als Künstlerin auf dem Lande lebt, macht er seine ersten und intensivsten sexuellen Erfahrungen, bei deren Schilderung Ekelgrenzen radikal missachtet werden.
Gerade das Ekligste, merkt der Erzähler an, liefere ja die fruchtbarste Grundsubstanz für so süße Dinge wie zum Beispiel Erdbeeren; und so solle man vor ihm immer den Respekt haben, dem man dem Nützlichen schulde. Aber darüber geht er und geht diese Gesellschaft weit hinaus: In ihrem Drang zur schützenden Destruktivität entdecken sie auch im Nützlichen das Ekelhafte. Wer einen „Service” anbietet, dem schlägt nicht nur deswegen höhnisches Gelächter entgegen, weil so etwas im Sozialismus, diesem Gegenteil einer Dienstleistungsgesellschaft, von vornherein als absurd erscheint, sondern weil man es sich tschechisch ausbuchstabiert: ser více – scheiß mehr!
Ausbruchsversuche misslingen. Wie könnte Georg denn auch der kannibalischen Liebe einer Mutter entrinnen, die sonst niemanden hat auf der Welt außer ihm? Ganz gewiss kommt hier nicht der geschiedene Vater in Betracht, ein brutales, versoffenes Großmaul (vierzig Flaschen Bier am Tag sind kein Problem) und ehemaliger Mitarbeiter beim Geheimdienst. Warum diese Familie fast ausschließlich aus Frauen besteht, erfährt man eher beiläufig: weil sie Auschwitz und Theresienstadt im Schnitt besser überstanden hatten. Es empfiehlt sich unter den Zeitgenossen, diese Vorgeschichte nicht an die große Glocke zu hängen. Als Georg über einen Mitschüler wegen dessen typisch jüdischen Charakterzügen schimpft, hört er zu seiner maßlosen Verblüffung: Aber wir sind die Juden! Das wusste er nicht. Eine solche Familie von Überlebenswracks kann man nicht verlassen.
Und doch gelingt dem Erzähler zuletzt die Befreiung: indem er erzählt. Jan Faktor hat davon gesprochen, wie lang er dieses Buch mit sich herumtrug, und dass er erst jetzt, wo alle wesentlichen Figuren des Buchs tot sind, es so hat schreiben können, wie er es als nötig empfand. Erst jetzt ist die Flucht aus der erlebten Verschämtheit in die vollendete Schamlosigkeit ihrer nachträglichen Schilderung möglich. So erhält die glotzende Gier des Jünglings das Wort, bis hin zu dem Punkt, wo aus ihr die Verehrung zutage tritt, die er den Frauen – allen Frauen – entgegenbringt, fast wie ein Minnesänger, freilich ohne Sublimierungsleistung. Voll Andacht und blumiger Obszönität schwelgt er in den anatomischen Details. Sexuelle Freiheit war die einzige Freiheit, die der Sozialismus nicht beschnitt, sondern sogar noch aktiv beförderte: als Ventil und Ausgleich für alles, woran er es sonst fehlen ließ. Wenn jedoch im Sexualkundeunterricht die Rede davon war, ein „gut gepflegtes weibliches Organ” verströme einen Geruch wie Bananen , so rief das einen heftigen, aber unerfüllbaren Wunsch nach Verifizierung hervor – denn wo sollte man im Sozialismus die Bananen hernehmen?
In diesem Buch ist, seiner schalkhaften Miene zum Trotz, eine unglaubliche Menge Unglück auf höchst unordentliche Weise versammelt. Und doch wird es zum Sprungbrett in ein doppeltes Glück: das des deutschen Lesers, der auf abwechslungsreiche, immer originelle Weise Einblick in die jüngere Kultur-, Sozial- und Sittengeschichte jenes Auslands erhält, das die längste Grenze überhaupt mit dem deutschsprachigen Raum besitzt, indem es sich tief in diesen hineinstülpt, unseres innigsten Nachbarn; und das des Autors, der auf diese Weise den großen Vorzug des Unglücks gegenüber dem Glück, so unendlich mannigfaltiger in seinen Gestaltungen zu sein, zum Vorteil, ja zur Erlösung wendet. Dieses Buch ist gerade als Buch mehr als ein solches. Es ist ein ganzes Leben, das nur so, als geschriebenes, zu jener sinnhaften Form zusammentritt, die es vorher schmerzlich entbehrte. Gerade die „Sorgen um die Vergangenheit” kommen darin endlich zur Ruhe. BURKHARD MÜLLER
JAN FAKTOR: Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 637 Seiten, 24,95 Euro.
Am Ende gelingt dem Erzähler die Befreiung: indem er erzählt
Jan Faktor Foto: Imago/Christian Thiel
Georg wächst in einem Haushalt voller Frauen auf: Seine Mutter besteht noch bis zur Pubertät darauf, ihn selbst zu baden, er muss mit seiner Großmutter im selben Zimmer schlafen, und mit einer zwanzig Jahre älteren Verwandten macht er seine ersten und intensivsten sexuellen Erfahrungen. Im eigentlichen Sinn erwachsen wird der Held in Jan Faktors neuem Roman jedoch nie. Foto: Cinetext
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Insa Wilke stellt eine gesteigerte Fabulierlust männlicher Autoren vom "postsozialistischen Standpunkt" aus fest, wundert sich kurz über die "pikierte" Kritikerablehnung von Charlotte Roches "Feuchtgebiete" bei gleichzeitiger Bejubelung des vorliegenden Romans als "subversiven Coup gegen die eigene Geschmackspolitik" und wendet sich schließlich Jan Faktors Buch selbst zu. Trotz seiner keineswegs politisch korrekt denkenden Hauptfigur, einer "Lustigkeit", die nach kürzester Zeit Aggressionen schürt und dem hemmungslosen Herumwühlen in unappetitlichen Details gelingt es dem autobiografisch grundierten Roman, die Rezensentin zu begeistern, wie sie eingesteht. Denn mit seinem an Henry Miller und Grimmelshausen erinnerndem satirischen Roman fasst Faktor das beredte Schweigen über die Vergangenheit vor 1945, den "gesellschaftlichen Sumpf" und den tristen sozialistischen Alltag in Sprache und spiegelt damit auch ein Stück Gegenwart, wie Wilke lobt.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Kein Zweifel: [...] diese hochnotkomische Phänomenologie des sozialen Wohnens im Sozialismus, das eindringliche Porträt des Prags seiner Jugendjahre [...] ist Jan Faktors Opus magnum.« Felicitas von Lovenberg FAZ 20111031