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»Russlands Gegenwart ist nur noch mit den Mitteln der Satire zu beschreiben.« Vladimir Sorokin Russland im Jahr 2027. Das Land hat sich vom Westen abgeschottet, lebt allein vom Gas- und Ölexport, pflegt Handelskontakte nur noch mit China und wird vom »Gossudar«, einem absoluten Alleinherrscher regiert. Dieser übt seine Macht mithilfe der Opritschniki, der »Auserwählten«, aus: einer allmächtigen Leibgarde, die vor keiner Bestialität zurückschreckt.
Die Zeit der großen Wirren ist vorbei, die Restauration beendet. Nun hat die Monarchie wieder die Macht ergriffen. Das Land ist von der Großen
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Produktbeschreibung
»Russlands Gegenwart ist nur noch mit den Mitteln der Satire zu beschreiben.« Vladimir Sorokin Russland im Jahr 2027. Das Land hat sich vom Westen abgeschottet, lebt allein vom Gas- und Ölexport, pflegt Handelskontakte nur noch mit China und wird vom »Gossudar«, einem absoluten Alleinherrscher regiert. Dieser übt seine Macht mithilfe der Opritschniki, der »Auserwählten«, aus: einer allmächtigen Leibgarde, die vor keiner Bestialität zurückschreckt.

Die Zeit der großen Wirren ist vorbei, die Restauration beendet. Nun hat die Monarchie wieder die Macht ergriffen. Das Land ist von der Großen Russischen Mauer umgeben und - bei allem technologischen Fortschritt - in die dunkle Zeit Iwans des Schrecklichen zurückgefallen.

Die Opritschniki, die »Diener des Gossudar«, sind in roten Limousinen unterwegs, mit Hundeköpfen an den Stoßstangen und Besen am Kofferraum - Symbole dafür, dass jeglicher Widerstand ausgemerzt und von der russischen Erde gefegt wird. Zu dieser brutalen und korrupten Elite gehört auch Andrej. Seinen Arbeitstag beginnt er mit der Hinrichtung eines in Ungnade gefallenen Oligarchen, dann wohnt er der Auspeitschung von Intellektuellen bei, ist der liebestollen Gemahlin des Gossudar zu Diensten und beschließt den Tag mit einer dekadenten Orgie.

Der Tag des Opritschniks ist eine schmerzhafte Satire, eine negative Utopie im Sinne von Huxley, Orwell und Burgess. Das Erschreckende daran ist, dass sie der russischen Gegenwart beunruhigend nahekommt.

Der Tag des Opritschniks erscheint im Januar 2008 gleichzeitig in elf Sprachen.

»Das epochale Werk blickt ins Innere jenes schwarzen Knotens, der die Gesellschaft im Innersten zusammenhält, und es tut dies ebenso märchenhaft zeitlos wie hochaktuell.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
Autorenporträt
Sorokin, VladimirVladimir Sorokin, 1955 geboren, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Russlands. Er wurde bekannt mit Werken wie »Die Schlange«, »Marinas dreißigste Liebe«, »Der himmelblaue Speck«. Bei KiWi erschienen zuletzt die Romane »Der Schneesturm«, »Telluria« und die Literaturgroteske »Manaraga«. Sorokin ist einer der schärfsten Kritiker der politischen Eliten Russlands und sieht sich regelmäßig heftigen Anfeindungen regimetreuer Gruppen ausgesetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2008

Die Monstersklaven sind unter uns

Wladimir Sorokins dunkle Russland-Vision "Tag des Opritschnik" sollte abschreckend wirken. Stattdessen ist der Roman zum Kultbuch avanciert, den die russische Gegenwart schon eingeholt hat.

Von Kerstin Holm

MOSKAU, im Dezember

Als Wladimir Sorokin vor drei Jahren seinen antiutopischen Zukunftsroman "Tag des Opritschnik" veröffentlichte, hoffte er insgeheim, die literarische Vision könnte auf die russische Wirklichkeit wirken wie ein Abwehrzauber. In dem Buch extrapoliert Sorokin die Zukunft des immer autoritärer werdenden Russland im Jahr 2027 als christlich orthodoxer Terrorstaat. Mit dem Segen des Herrschers und der Kirche hält ein brutaler Geheimorden eine materiell wie geistig verarmte Bevölkerung permanent in Angst und Schrecken. Öl- und Gaslieferungen nach Europa und China sind der letzte verbliebene Kontakt zur Außenwelt. Ihre Auslandspässe haben die Menschen feierlich verbrannt. Die Intellektuellen sind emigriert oder wurden umgebracht. Die übrigen Gebildeten haben die vaterländische Kultur eigenhändig von "überflüssigem" Schrifttum gesäubert.

Der "Opritschnik" wurde auch deshalb zum Kultbuch, weil darin die Seelenökonomie der Terrorordensbrüder an einem Seniormitglied exemplarisch vorgeführt wird. Der Leser begleitet Sorokins Helden, in dem sich Züge Petersburger Geheimdienstler und Moskauer Strafverfolger zu einem monströsen Archetyp bündeln, durch einen Arbeitstag, an dem er einen Oligarchen liquidiert, Zollgeschäfte seiner Kompagnons gegen konkurrierende Kreml-Protegés verteidigt und nebenbei von einer Ballerina, die sich für eine Verhaftete einsetzt, Geld und Rauschgift erpresst. Man erlebt, wie sich der staatliche Häscher mit dem altrussischen Kampfschrei "Goida!" in Mordlaune versetzt, wie er nach blutigen Einsätzen im Gottesdienst zur Ruhe kommt und wie ein innerer Huldigungsmonolog an Herrscher und Rechtgläubigkeit alle persönlichen Gewissensregungen ertränkt.

Mit seinem "Opritschnik", der schon im Titel auf Solschenizyns "Tag des Iwan Denissowitsch" antwortet, zeichnet Sorokin ein exemplarisches Psychogramm der Putin-Epoche. Angesichts der neu aufblühenden Sowjetnostalgie ist der Kontrast des Solschenizyn-Klassikers, worin Generationen von Sowjetbürgern sich wiedererkannten, zur bösen Blume des russischen Kapitalismus umso eindrucksvoller. Solschenizyns Held war ein sowjetischer GULag-Häftling, der Zwangsarbeit, Unterernährung, Kälte und Krankheit durchsteht und dabei Funken menschlichen Anstands und minimale Freiräume bewahrt. Sorokins Ich-Figur steht auf der Seite der Unterdrücker. Er ist der Monstersklave, der im Namen der höheren staatlichen Sache das Humane in sich ausmerzt wie schon der Tschekist im russischen Bürgerkrieg. Die Opritschnina, die die privilegierte Sphäre des Herrscherinteresses bezeichnet, wurde von Zar Iwan dem Schrecklichen als christlich gerechtfertigtes Okkupationssystem erfunden. Das Wort leitet sich ab von "opritsch", zu Deutsch "ausgenommen", und steht für die Sondervollmachten, dank derer die Staatsstützen die Zivilbevölkerung, die bei Sorokin wie im sechzehnten Jahrhundert wie-der "Semschtschina" (etwa: Landwesen) heißt, malträtieren dürfen.

Der "Opritschnik" wurde zur Lieblingslektüre sowohl liberaler als auch patriotischer Intellektueller. Die Menschenrechtskämpferin Valeria Nowodworskaja und die Partylöwin Xenia Sobtschak zeigten sich gleichermaßen begeistert. Der Geschäftsmann Boris Beresowski, der vor Putin ins Londoner Exil geflüchtet war wie einst Fürst Kurbski vor Iwan dem Schrecklichen nach Litauen, empfahl in seinem jährlichen Internet-Sendschreiben an den Kremlherrn, Putin, den er nach alter Freundschaft als "Wolodja" anspricht, solle den "Opritschnik" unbedingt lesen. Im Umkreis des Präsidenten lobt man Sorokins Buch als "äußerst treffend". Die Beamten ließen dem Schriftsteller ausrichten, der "Goida"-Ruf, mit dem man sich auf das Zerschmettern von Feinden einstimmt, sei ihnen unvergesslich. Vollends unheimlich war für Sorokin das Kompliment der Jugendorganisation der neuimperialen Eurasier, die den "Opritschnik" als prophetisches Werk begrüßten, das vorführt, was Russlands inneren Feinden blüht.

Seither hat sich die russische Wirklichkeit nach dem Szenario des "Opritschnik" entwickelt, bekommt Sorokin von Freunden und Bekannten zu hören. Die Petersburger Klanchefs, die auch äußerlich für Opritschniki durchgehen könnten, haben die Rohstoffkonzerne fest in der Hand. Wer sich gegen Beamtenwillkür wehrt, lebt gefährlich. Vor wenigen Tagen wurde in Chimki bei Moskau der Journalist Michail Beketow, der gegen illegale Finanzgeschäfte und Abholzungspläne der Regierung protestiert hatte, von Unbekannten fast zu Tode geprügelt. Der Strafprozess der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja, die von der Obrigkeit gedeckte Bluttaten in Tschetschenien und der russischen Armee angeprangert hatte, findet ohne den mutmaßlichen Mörder statt, weil der wegen einer gezielten Indiskretion der Ermittler fliehen konnte. Und der tschetschenische Präsident Kadyrow, der Frau Politkowskaja mehrfach bedrohte, wurde nicht einmal als Zeuge befragt. Unterdessen wollte die Russische Orthodoxe Kirche, deren Priester eifrig Atom-U-Boote und Raketen segnen, angesichts der Wirtschaftskrise schon rechtgläubige Volksmilizen organisieren, die Volksproteste von Krisenopfern niederschlagen sollten.

Der Stoff ließ den Schriftsteller schon damals auch literarisch nicht los. Nach der Innensicht eines Systemträgers wollte er, sagt Sorokin, auch die übrigen Bewohner eines solchen Imperiums kennenlernen. So entstand der Folgeband "Zuckerkreml" (Sacharnyj kreml), der, in fünfzehn Erzählungen, Hofnarren, Henker, Zwangsarbeiter, Bettler und Dissidenten auf ihrem Lebensweg ein Stück begleitet. Das Buch, das 2010 bei Kiepenheuer & Witsch auf Deutsch erscheinen soll, entführt seine Leser in ein neues Mittelalter der Informationstechnologie und der Massenarmut. Weil alle Brennstoffe ins Ausland verkauft werden, heizen auch wohlsituierte Moskauer mit Holzscheiten, und die Aufzüge der Wohnhäuser stehen am Wochenende still. Dafür leuchtet in der "guten" Wohnzimmerecke die interaktive 3-D-Ikone des Herrschers. Und am Weihnachtstag erscheint den auf dem Roten Platz versammelten Kindern im Winterhimmel sein lächelndes Antlitz.

Sorokins "Zuckerkreml" zufolge führt die Wirtschaftskrise in Russland in ein Zimbabwe-Szenario. Von bürgerlichen Berufen und Besitztümern ist hier in zwanzig Jahren kaum noch etwas übrig. Von den regierungseigenen Wohnhäusern unterscheiden sich die öffentlichen dadurch, dass in ihren Treppenhäusern Müll herumliegt. Viele Privatdomizile, deren Bewohner kein Schutzgeld zahlen wollten, wurden von den Opritschniki niedergebrannt. Und neuerdings brennen auch die Datschen fern von Moskau samt Gesinde, weil der Staat dann vom Besitzer Kompensationszahlungen für umgekommenes Steuervolk verlangen kann.

Die Opritschnina-Begeisterung ist heute, zu Sorokins Entsetzen, in Moskau salonfähig. Der vom Kreml protegierte Senior-Eurasier Alexander Dugin schlug vor, da im russischen Staat die Korruption systemisch, also untherapierbar sei, die "patriotische" von der unpatriotischen Korruption zu unterscheiden. Erstere sei das geringere Übel. Das Schmiergeld, das die Kommissare eintreiben, so Dugin, bleibe wenigstens im Land. In Wahrheit enttarne der Staat illegale Geschäfte bei Privatleuten, deckt sie aber in den Ministerien, verrät Dugin, der als russischer Machiavelli beim Namen nennt, was die meisten tun und doch leugnen.

In Sorokins "Zuckerkreml" ist die körperliche Züchtigung tägliches Brot. Die Mutter schlägt ihr Kind, der Aufseher peitscht den Zwangsarbeiter, der Gatte schlägt die Gattin oder bringt sie, wenn er dies selbst nicht vermag, zum Verprügeln auf die Polizeistation. Dafür entschädigt die nationale Leckerei, eine Kremlreplik aus reinem Zucker. Der süße Fetisch, an dem sich schon Iwan der Schreckliche delektierte, wird in Sorokins Zukunft fabrikmäßig hergestellt.

Die Bitterkeit und Übersüße des authentisch russischen Lebensgefühls kann man seit einiger Zeit kulinarisch studieren. Im September wurde im Moskauer Kaufmannsviertel, wo Iwan der Schreckliche die erste Wodkakneipe für seine gefürchteten Sondergarden installierte, das Restaurant "Opritschnik" eröffnet, das auf seine bitteren Schnäpse ebenso stolz ist wie auf die Desserts und Teemischungen, die mit einer Extraportion Zucker oder Honig genossen werden. Gern kehren Geheimdienstler und Militärs hier ein und trinken aufs Vaterland. Iwan der Schreckliche sah in den Opritschniki apokalyptische Reiter, die die Welt säubern, erklärt die Restaurantbesitzerin Jelena Jaworskaja. In jener Epoche, da in England siebzigtausend Armutsnomaden aufgehängt wurden, töteten die russischen Opritschniki nur etwa sieben- bis neuntausend Menschen, sagt Frau Jaworskaja - und niemanden aus dem einfachen Volk.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.02.2008

Und weil mich doch der Kater frisst
Die russische Seele, das Sauerkraut und eine entfesselte Leibgarde: Vladimir Sorokin bedient seine Leser im Westen
Wenn Andrej Komjaga sich erhebt, mit schwerem Kopf und trägen Gliedern, steht sein Bursche Fedka bereit. Er reicht ihm einen Becher Kwass, ein Gläschen Wodka, einen halben Becher Sauerkrautbrühe, bereitet seinem Herrn das Bad, trocknet ihn ab. Eine Dienerin trägt das Frühstück auf, Quarkkeulchen, gedämpfte Rüben in Honig. Ein Barbier dreht ihm das Haarbüschel auf dem ansonsten kahlrasierten Schädel ein und sprüht ein wenig Goldpuder darüber. Schließlich wird Andrej Komjaga angekleidet: mit einer roten, nach russischer Art seitlich zu knöpfenden Stehkragenbluse, mit einer Jacke aus gold- und silberdurchwirktem Brokat mit Marderbesatz, mit Pumphosen aus Samt und roten Stiefeln, mit Kupfer beschlagen.
„Über die Brokatjacke zieht mir Fedka zu guter Letzt den wattierten Kaftan aus grobem schwarzen Tuch, dessen Schöße weit hinunterreichen.” Oh ja, Andrej Komjaga ist eine Russe, und er lebt in Russland – und was für ein Russland das ist: ein Russland wie Heidis Schweiz, wie Inga Lindströms Schweden, wie Ralph Maria Siegels Italien, nur eben ins Böse und Gewalttätige gekehrt, die ebenso nationalromantische wie ins Negative gewendete Überhöhung eines nie vorhanden gewesenen historischen Zustands.
Minister wie Spaghetti garen
Andrej Komjaga ist der Ich-Erzähler – und in gewissem Sinne auch der Held – des Romans „Der Tag des Opritschniks”, des jüngsten Buches des Moskauer Schriftstellers Vladimir Sorokin. Es spielt in einer nicht weit entfernten Zukunft, im Jahr 2027, aber die Welt ist sehr verändert: China ist die größte – und irgendwie auch einzige – Industrienation der Welt, Europa ist in Bedeutungslosigkeit versunken, seitdem Russland sein Territorium nach Westen hin mit einer großen Mauer versperrte und die Lieferung von Rohstoffen, vor allem von Erdöl und Gas periodisch einstellte. Von Amerika ist nicht einmal mehr die Rede. Russland aber ist zur Feudalordnung zurückgekehrt und wird vom „Gossudar”, vom „Fürsten” beherrscht, einem allmächtigen Despoten mit einer ebenso fetten wie gerissenen Gattin, einer Aristokratie, einer Wahrsagerin, einem korrupten Zoll - und einer persönlichen, von einem „Ältesten” angeführten Schutztruppe, in der Andrej Komjaga als höherer Offizier dient. „Opritschniks” heißen die Angehörigen dieser Garde, und in diesem Namen kehren die Schutztruppen Iwans des Schrecklichen wieder.
Einen Tag im Leben dieses Prätorianers schildert der Roman, in chronologischer Folge und im Ton eines zwar kaltschnäuzigen, aber intellektuell und sprachlich eher hilflosen Revolverhelden: „Die frischgebackene Witwe windet sich und strampelt auf ihrem Tisch, schreit und stöhnt. Ich reiße ihr die Klamotten vom Leib: erst das Kleid, dann das vertrackt gefältete Spitzenunterkleid. Pojarok und Siwolai knicken ihre weißen, glatten, wohlgepflegten Beine zur Seite, halten sie in der Schwebe.” Der Tag des Opritschniks ist lang. Er beginnt mit einem Überfall auf einen „Aristokraten”, seiner Ermordung, der Vergewaltigung seiner Frau und dem Niederbrennen seines Hofes.
Dann wird bestochen und Rauschgift konsumiert, im fernen Osten gibt es Privatzölle zu erheben, in Moskau die Liebschaften der Fürstin zu organisieren. Zwischendurch treten Minister auf, die wie Spaghetti gegart werden, sowie Schriftsteller, die, mit einer Feder im Hintern verziert, vom Fernsehturm gestoßen werden. Und als der Tag zu Ende geht, viele Stunden später, erfreuen sich die Bürger Moskaus an öffentlichen Auspeitschungen, während die Angehörigen der Garde, einer verschworenen Bruderschaft, sich in einer berauschten Polonaise gegenseitig penetrieren.
Ist das Satire? Ja, wird einem von allen Seiten versichert. Aber was soll daran satirisch sein, wenn Vladimir Sorokin das autoritäre Regime der russischen Gegenwart mit einigen übertriebenen Zügen ausstattet, die kleinen und großen Oligarchen in Adelskostüme steckt und ein bisschen technischen Schnickschnack hinzuerfindet: Mercedes-Limousinen, die mit Wasserstoff betrieben werden, Penisse mit Hyperglasfiberspitzen und Hoden mit eingebauter Beleuchtung, Verlautbarungsblasen, die Telefone und Videoverbindungen ersetzen? Nein, das ist nicht satirisch. Wenn man Vladimir Sorokin wohl wollte, mag man in diesem Buch den Gesang des Vogels auf dem Leim bei Wilhelm Busch erkennen: „Und weil mich doch der Kater frisst, / So will ich keine Zeit verlieren, / Will noch ein wenig quinquilieren / Und lustig pfeifen wie zuvor.” Unter dieser Voraussetzung wäre die wild in den Kohl schießende Phantasie Vladimir Sorokins ein verzweifelter, weil zum Untergang verdammter Versuch, den Geist wider seine Unmöglichkeit zu behaupten.
Aber so ist es nicht. Viel zu verliebt ist Sorokin in seinen Expressionismus, viel zu viel Interesse gewinnt er dem Morden und Schänden ab, als dass man ihm die Satire abnehmen könnte. Aus diesen Schilderung spricht eine womöglich halb masochistische, aber dennoch: eine Einwilligung in die Gewalt, die in der russischen Gesellschaft herrscht und mit der sie beherrscht wird. Vladimir Sorokin hat ein paar ausgezeichnete Bücher geschrieben: „Der himmelblaue Speck” (2000) zum Beispiel oder den Roman „Eis” (2003). Aber dies war Werke, deren phantastischer Realismus nur zum Teil die erbärmliche Angst eines Kindes in dunklen Keller verbarg, Bücher, die schilderten, wie die Verwandlung der Sowjetunion in einen kapitalistischen Staat zuallererst nicht die Produktivkräfte, sondern einen russischen Wahn freisetzte, einen radikalen Ausverkauf der Ideen und der Heilsversprechen.
Doch dieses Buch ist anders – eben weil es nicht deliriert, eben weil es nichts mit den Dämonen zu tun haben will, die eine klassische russische Literatur beseelt haben (und die, allegorisch genug, in „Der Tag des Opritschniks” von der Wahrsagerin verbrannt werden), sondern weil diese knappe literarische Hochrechnung in die Zukunft nichts Neues verrät, sondern allenfalls schon bestehende Befürchtungen bestätigt.
In falschen Pluderhosen
Gewiss, man erfährt auch aus diesem Buch etwas über Russland – man kann es sogar politisch lesen und darin erkennen, dass Russland die Jahre des drohenden Bürgerkriegs überwunden hat und mit Wladimir Putin und dessen demokratisch drapierter Autokratie einen prekären inneren Frieden in einen von vornherein schwach vergesellschafteten Staat hat einkehren lassen. Aber das hatte man sich ohnehin schon gedacht, und der Leser kann sich darüber um so weniger beruhigen, als ihn beinahe schon von Anfang an der Verdacht beschleicht, dass dieses Buch bei weitem nicht so russisch ist, wie es tut. China, die Autokratie, die Rohstoffe – das sind westliche Vorbehalte gegen ein Russland, das in etwa so russisch sein muss wie die Pluderhosen von Yul Brynner in der amerikanischen Verfilmung der „Brüder Karamasow” von Richard Brooks (1957). Diese Schauergeschichte ist nicht nur deswegen so missraten, weil der Autor einen Pakt mit der Sensation der Gewalt geschlossen hat – sondern auch, weil er sich die Perspektive eines fernen Publikums zu eigen gemacht hat. THOMAS STEINFELD
VLADIMIR SOROKIN: Der Tag des Opritschniks. Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Andreas Tretner. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2008. 256 Seiten, 18,90 Euro.
Der Zorn des Zaren verschont die eigenen Kinder nicht: Ilja Repins Gemälde „Iwan der Scheckliche und sein Sohn” (1885). Foto: Archivo Iconografico/Corbis
Vladimir Sorokin Foto: dpa
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Schon mit seinen bisherigen, betont unpolitischen Romanen war Vladimir Sorokin dem offiziösen Russland ein Dorn im Auge, nun legt er einen Politroman vor, in dem er dezidiert mit Putins Russland in Gericht geht. Rezensentin Wiebke Porombka kann dem gar nicht genug Bedeutung beimesse, zumal viele russische Literaten derzeit den Schulterschluss mit der Unterhaltungsbranche suchen. In "Der Tag des Opritschniks" entwirft Sorokin das Szenario eines Großrusslands, dessen "bedingungsloser Nationalismus" von einem "totalitären Überwachungsregime" sichergestellt wird. In vorderster Linie agiert die Herrscher-Leibgarde der (von Iwan dem Schrecklichen übernommenen) Opritschniki, sie ergeht sich in Terror und Sexorgien. Doch bei aller Sympathie für Sorokin - für Porombka hält sich die Sprengkraft dieses Buches in Grenzen: Die politischen Aussagen findet sie eigentlich ziemlich beliebig und die technizistischen Visionen erscheinen ihr auch recht altmodisch. Und ganz schlimm für die Rezensentin: Sprachlich gehe diesem Roman das "Verstörende und Betörende" von Sorokins anderen Büchern gänzlich ab.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Eine bitterböse Satire [...]. Das ist nicht nur unterhaltend, es ist auch beklemmend. Und gelegentlich bleibt dem Leser dabei das Lachen im Halse stecken.« Cornelia Rabitz Deutsche Welle