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Nasrin Alavi fängt die unglaublich lebendige Untergrund-Szene der iranischen Blogger ein und schildert ein junges, modernes Land, das kurz davor zu stehen scheint, die Mullah-Herrschaft abzuschütteln - sofern kein militärischer Angriff von außen erfolgt.

Produktbeschreibung
Nasrin Alavi fängt die unglaublich lebendige Untergrund-Szene der iranischen Blogger ein und schildert ein junges, modernes Land, das kurz davor zu stehen scheint, die Mullah-Herrschaft abzuschütteln - sofern kein militärischer Angriff von außen erfolgt.
Autorenporträt
Nasreen Alavi ist im Iran aufgewachsen, hat in London studiert und an britischen und nordamerikanischen Universitäten gelehrt. Sie gab ihre Manager-Karriere in London auf, um in Teheran für eine nichtstaatliche Initiative zu arbeiten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2006

Heute wurde Saddam, der mir die Kindheit nahm, verhaftet
Zwischen religiöser Tradition und westlicher Kultur: Nasrin Alavi zeigt ein Mosaik des iranischen Alltags anhand der jungen Weblog-Szene

Die Lage ist brenzlig. Der Präsident Irans, Mahmud Ahmadineschad, schockiert die Welt. In Deutschland, 3500 Kilometer von Teheran entfernt, ist es schwer, sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen: Was denken die Iraner über ihren Präsidenten? Hat sich das Leben seit seiner Machtergreifung verändert?

Nun ist ein fulminantes Buch erschienen, das auf ungewöhnliche Weise Antworten gibt. Es wendet sich ab von den Fernsehbildern, die nur einen Bruchteil dessen zeigen können, was wirklich vor Ort geschieht. Das Buch "Wir sind der Iran" von Nasrin Alavi läßt den Leser die intimen Gespräche einer islamischen Nation belauschen, auf die derzeit die Welt blickt. Ihr Zugangsschlüssel: die iranische Weblog-Szene.

Weblogs sind Internet-Tagebücher, die in Chatforen veröffentlicht werden. Während in Europa noch über Nutzen und Absurdität der Blogs diskutiert wird, sind sie in Iran die einzige Möglichkeit, in einer vermeintlichen Anonymität die Stimme zu erheben. Im September 2001 stellte Hossein Derakhshan, ein junger iranischer Journalist, der kurz zuvor nach Kanada gezogen war, eines der ersten Weblogs in seiner Muttersprache Farsi ins Netz. Heute steht Farsi an vierter Stelle der verwendeten Sprachen, in denen Internet-Tagebücher geschrieben werden. Überdurchschnittlich viele Iraner erreichen diese Blogs, da mehr als siebzig Prozent der Einwohner jünger sind als dreißig und sie mit dem Internet vertraut sind.

Wenn man den Zitaten aus den Blogs Vertrauen schenkt - denn es ist nur begrenzt möglich, sie zu überprüfen -, bekommt der Leser ergreifende Einblicke: "15. Dezember 2003. Es geschah überraschend und plötzlich. Ich erinnere mich noch an jenen Tag, als ich elf Jahre alt war und man mir sagte, der Krieg sei vorbei. Ich begriff nicht, daß Kriege irgendwann enden können. Ich wußte nicht, daß es auf der Welt Orte gibt, an denen die Menschen nicht mit ihrem Nachbarland kämpfen. In meinem kindlichen Gemüt dachte ich, das Leben sei überall so, wie ich es von hier kannte. Heute wurde Saddam, der mir die Kindheit, die Freiheit und den Frieden nahm und Unzählige ihrer Menschenwürde beraubte, in der Nähe seines Heimatortes verhaftet. Er sah aus wie ein Landstreicher. Und ich bin immer noch fassungslos", schreibt Sanaz5674, nur eine von Tausenden Eintragungen, die den Atem stocken, aber die Neugierde auf dieses Land wachsen lassen.

Beschreibungen ganz persönlicher Ängste, Konflikte, Traumata, Hoffnungen und ihre politische Reflexion zeigen ein feines und sensibles Bild des iranischen Alltags und seiner Menschen: "Meine Mutter wusch sich alles Make-up vom Gesicht, zog dicke, schwarze Strumpfhosen an und verhüllte sich von Kopf bis Fuß, bevor sie das Haus verließ", schreibt eine junge Frau. Das ist der Alltag vieler Frauen, obwohl mehr als die Hälfte der Studenten, die in Iran einen Abschluß machen, Frauen sind. Das zeigt, daß Iranerinnen eine größere Freiheit genießen als Frauen anderer islamischer Länder. Trotzdem sind sie Menschen zweiter Klasse: "Nooshi und ihre Küken" ist ein beliebter Blog einer Frau, die von ihrem Mann getrennt lebt. Sie wartet auf das endgültige Urteil und fürchtet um das Sorgerecht für ihre Kinder: "Jetzt kann ich nur noch darauf warten, daß er mir die Kinder wegnimmt", schreibt Nooshi.joojehash.

Nasrin Alavi verwebt diese Mosaiksteine mit Hilfe eines Begleittexts, der auch für den gänzlich Unwissenden die Situation in Iran verstehbar und erfahrbar werden läßt. Die Autorin nimmt sich viel Zeit, das Schicksal ihres Heimatlandes vollständig zu beschreiben, und führt vor, wie die Iraner es geschafft haben, trotz der Herrschaft eines ideologischen Regimes und trotz der Jahre des Elends, des Krieges und der internationalen Sanktionen ihre Kinder zu der bestausgebildeten Bevölkerung des Nahen Ostens zu erziehen.

Die meisten Iraner führen ein Doppelleben, und Zerrissenheit ist ihr Schicksal: hin und her gerissen zwischen Religion und westlicher Lebenskultur, Anpassung und revolutionären Gedanken. Eines wird besonders deutlich: Diese Nation hat genug Krieg erlebt und ist jeglichen Kampf müde geworden. Die Einwohner, besonders Teherans, stecken in einem Dilemma, denn sie wollen, daß sich ihr Leben ändert, doch sie vertrauen nach dem Scheitern der Revolution von 1979 diesen Anstrengungen nicht mehr. Die einzige Möglichkeit für viele ist die Anpassung im Alltag und die ersehnte Freiheit in den eigenen vier Wänden, von Vorhängen vor der Außenwelt notdürftig geschützt: "Glaubt mir, wenn wir schon wieder eine Revolution und plötzliche Veränderung wählen, dann wird der Wind unsere Spuren verwehen", schreibt Daftaresepid.

Trotzdem hat Iran in den letzten fünfzig Jahren gewaltige und positive Umwälzungen erlebt, und die Anhänger der Demokratie können sicher sein, daß achtzig Prozent der Bevölkerung für Reformen sind, behauptet Nasrin Alavi und proklamiert den Aufstand gegen die Mullahs - zumindest im Web.

Was denken die Menschen in Iran? Nach der Lektüre hat man das Gefühl, beim Tee, auf der Straße, in der Kneipe, in Wohnungen Gesprächen gelauscht zu haben. Das Buch muß enden, doch die Weblog-Szene im Internet begleitet die Entwicklungen in Iran weiter - vielleicht gewährt uns Alavi schon bald wieder einen Einblick in die Gedanken- und Erlebniswelt Irans.

SWANTJE KARICH

Nasrin Alavi: "Wir sind der Iran". Aufstand gegen die Mullahs - die junge persische Weblogszene. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 386 S., Abb., br., 9,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.12.2005

Ideale statt Ideologie
Ein Buch über die iranische Weblog-Szene
„Ist irgendjemandem aufgefallen, dass es in unseren öffentlichen Toiletten kaum noch Graffiti gibt, seit die Weblogs aufgetaucht sind? Erinnert ihr euch noch an die Toiletten in der Uni, die wir unsere ,Freiheitssäulen‘ nannten?” (20. Juli 2003, http://python.persianblog.com)
Tagebuch schreiben im Internet, so genannte Weblogs, ist seit 2001 eine wachsende Passion der Jugendlichen Irans geworden. Auch Journalisten, deren Zeitungen verboten wurden, stellen ihre Artikel ins Netz, ausgegrenzte Politiker äußern sich hier, auch Geistliche, die fürchten, dass die Regierung die Religion endgültig diskreditiert, und die sie wieder auf ihre eigentliche Aufgabe zurückführen möchten. Viele Weblogger veröffentlichen Gedichte und Geschichten und versuchen, gegen die erwünschte Gleichschaltung der Gesellschaft ihre Individualität auszustellen und zu erproben. Aber vor allem sind die Weblogs ein Medium der Studenten, die hier die laufenden Ereignisse kommentieren. Ein Medium der Verständigung, aber auch der Identitätsfindung. Und des Stolzes: „Heute will ich über die Hoffnung schreiben, ich will, dass wir glauben, dass es auf uns ankommt.”
Die Iranerin Nasrin Alavi, die an englischen und amerikanischen Universitäten studierte, hat daraus ein lesenswertes Buch gemacht. Sie hat aussagekräftige Weblogs gesammelt, thematisch gebündelt und erläutert. „Wir sind der Iran” bietet sowohl eine präzise emotionale Zustandsbeschreibung der iranischen Gesellschaft als auch Material zur politischen Analyse. Und gleichzeitig erinnert das Buch unwillkürlich an die zeitlich so fern gerückte Samisdat-Bewegung, die vor 1989 in den Dissidentenkreisen hinter dem Eisernen Vorhang ein reiches intellektuelles Leben förderte und die Hoffnung auf Veränderung wach hielt.
Islamisten und Harry Potter
Thematisch wird in den Weblogs alles diskutiert, was die Köpfe bewegt: die Situation der Frauen; die Scharmützel mit den Milizen; das Versagen der Behörden beim Erdbeben von Bam; neue Filme; der Beginn des iranischen Antiamerikanismus während des CIA-Putsches gegen den iranischen Ministerpräsidenten Mohamed Mossadegh 1954, der als Reaktion auf die Nationalisierung von Irans Ölindustrie gestürzt wurde; der neue Band von Harry Potter; die vergeblichen Versuche islamistischer Hardliner, die vorislamischen Traditionen, wie etwa, das Neujahrsfest verschwinden zu lassen; die neue Regierung. Und die Frage nach einer Intervention der USA. Die hier dokumentierten Weblogs lehnen diese mit Mehrheit ab: „Wir müssen die Veränderungen selbst in die Hand nehmen.” „Wenn man die Kommentare von jungen iranischen Bloggern als Anhaltspunkt nehmen darf”, schreibt die Autorin, „dann scheint es, als hätten Ideale die Ideologie ersetzt. Sie wollen Verantwortlichkeit, Pluralismus und Demokratie und haben die dogmatischen Ideologien der Vergangenheit über Bord geworfen.”
Bahnt sich also eine „Internet-Revolution” an, wie einige schreiben? Hatte nicht jede Freiheitsbewegung immer ihr ganz spezielles Medium? Der Buchdruck war die Voraussetzung der Reformation. Die Zeitung peitschte die französische Revolution voran. Die Flugschriften gehören zu den bürgerlichen Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts wie die Flugblätter zu den Revolutionen von 1917/8. Mit Tonkassetten setzte sich die Anti-Schah-Bewegung in der großenteils analphabetischen iranischen Bevölkerung durch. Das Satelliten-TV stärkt - durch das Vorbild der selbstbewussten Moderatorinnen und Reporterinnen eines Senders wie al-Dschasira - das Selbstbewusstsein muslimischer Frauen. Und als jüngstes Beispiel: die iranische Weblog-Szene. 64 000 Weblogs in Farsi waren einem Zensus zufolge 2004 registriert. Das Hin und Her zwischen Regierung und Internetszene, zwischen dem Blockieren und Filtern der Weblogs und ihrer Neueröffnung dauert an.
ELISABETH KIDERLEN
NASRIN ALAVI: Wir sind der Iran. Aufstand gegen die Mullahs - die junge persische Weblog-Szene. Übersetzt von Violeta Topalova und Karin Schuler. Kiwi Paperback, Köln 2005. 387 Seiten, 9,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Fulminant" findet Rezensentin Swantje Karich dieses Buch von Nasrin Alavi, das anhand der Weblog-Szene Einblicke in die Gedanken- und Erlebniswelt des Irans gibt. Die Schilderungen ganz persönlicher Ängste, Konflikte, Traumata, Hoffnungen und ihre politische Reflexion in den Internet-Tagbüchern junger Blogger offenbaren nach Karichs Ansicht "ein feines und sensibles Bild" des iranischen Alltags und seiner Menschen zwischen religiöser Tradition und westlicher Kultur. Lobend äußert sich Karichs insbesondere über den Begleittext der Autorin, der die Situation in Iran verstehbar und erfahrbar mache.

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