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»Die große neue Begabung der deutschen Gegenwartsliteratur«_ Iris Radisch_
Die Macht der Liebe im Wechsel der Zeiten: Kathrin Schmidt erzählt eine staunenswerte und anrührende Familiengeschichte aus dem deutschen Alltag, in der sich außergewöhnliche Lebensläufe durch die Wendezeit schlängeln. In epischer Pracht, sprachlicher Fülle und mit erzählerischem Feingefühl betreibt Kathrin Schmidt das Geschäft der Erinnerung. Sie führt den Leser hinein in ein Ostberliner Viertel, das durch das Verschwinden eines Mädchens in Unruhe versetzt wird. Zwar taucht die kleine Janina nach wenigen Tagen…mehr

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Produktbeschreibung
»Die große neue Begabung der deutschen Gegenwartsliteratur«_ Iris Radisch_

Die Macht der Liebe im Wechsel der Zeiten: Kathrin Schmidt erzählt eine staunenswerte und anrührende Familiengeschichte aus dem deutschen Alltag, in der sich außergewöhnliche Lebensläufe durch die Wendezeit schlängeln. In epischer Pracht, sprachlicher Fülle und mit erzählerischem Feingefühl betreibt Kathrin Schmidt das Geschäft der Erinnerung. Sie führt den Leser hinein in ein Ostberliner Viertel, das durch das Verschwinden eines Mädchens in Unruhe versetzt wird. Zwar taucht die kleine Janina nach wenigen Tagen wieder auf, doch können es die Hauptfiguren nun nicht mehr lassen, sich mit ihrer Kindheit und dem Kindsein zu beschäftigen.Rechtsanwalt Marl lebt in einer homosexuellen Beziehung, wünscht sich ein eigenes Kind und erfährt ein Geheimnis aus der Vergangenheit seines Vaters. Die Lehrerin Lioba findet rätselhafte Briefe in ihrer Wohnung, seit sie eine neue Putzfrau beschäftigt, die auch in der Kanzlei von Marl arbeitet. Und eine Aussiedlerfamilie aus Kasachstan entdeckt ihre deutschen Wurzeln an unerwarteter Stelle.Bald wird klar, dass Frau Koenig, die leicht debile Putzfrau, und ihr Vater Schlüsselfiguren bei der Entwirrung des feinmaschigen Beziehungsgeflechts sein müssen.

Kathrin Schmidt erzählt in einer bildhaften Sprache mit tief tönendem, einnehmendem Klang, und sie legt zahlreiche Handlungsfäden aus, die sie kunstvoll und beinahe unmerklich zusammenführt.
Autorenporträt
Schmidt, KathrinKathrin Schmidt, geboren 1958 in Gotha, arbeitete als Diplompsychologin, Redakteurin und Sozialwissenschaftlerin. Sie erhielt für ihre literarischen Arbeiten zahlreiche Preise, darunter den Leonce-und-Lena-Preis 1993. Ihr 1998 erschienener Roman »Die Gunnar-Lennefsen-Expedition« wurde mit dem Förderpreis des Heimito-von-Doderer-Preises und dem Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1998 ausgezeichnet. Für ihren Roman »Du stirbst nicht« erhielt sie 2009 den Preis der SWR-Bestenliste und den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien ihr Gedichtband »waschplatz der kühlen dinge« (2018).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.03.2003

Tanz um eine leere Mitte
Kathrin Schmidts Roman „Koenigs Kinder”
Kehlkopf-Schlitzer flickt sein Opfer! Der Rechtsanwalt Marl findet an einer Tankstelle im Osten Berlins ein ausgesetztes Mädchen, dem die Kehle durchgeschnitten und wieder zusammengenäht wurde. Was gewöhnlich Stoff für Boulevardschlagzeilen ist, benutzt Kathrin Schmidt als Anlass zu einem großen Tableau komplexer, überkreuz konstruierter Psychostudien. Eine derart gewalttätige Romaneröffnung wirkt wie eine literarische Wette: einen besonders gewagten Stoff besonders einfühlsam zu gestalten. Kathrin Schmidt gewinnt diese Wette mit Bravour.
Eine Tankstelle ist ein passender Fundort für die „kleine Janina”, wie das Opfer schnell von den Medien genannt wird: Das Mädchen wird zum emotionalen Katalysator für vier ganz unterschiedliche Familien, die auf den ersten Blick und den ersten hundert Seiten keine tiefer gehenden Bindungen zueinander haben. Das Schicksal des verletzten Mädchens führt ihnen allen die eigenen Kindheitsverletzungen und ihr gestörtes Verhältnis zu Kindern vor Augen. So leidet die homosexuelle Beziehung zwischen dem Anwalt Marl und seinem Lebensgefährten Frieling an Marls obsessivem Kinderwunsch. Marl versteht sich bald als Anwalt des misshandelten Kindes, und sein Adoptionsbegehr droht, sich in eine immer verfänglichere Liebe zu dem Mädchen zu verwandeln.
Die Lehrerin Lioba Zeplin hat ihren Mann und ihre Tochter verlassen, weil sie unfähig zu Mutterliebe war; – von sexuellem Begehren ganz zu schweigen. Regelmäßig erblüht Lioba in psychosomatischem Nesselfieber und vereinsamt still rauchend auf dem heimischen Balkon und kalt transpirierend vor ihrer lernunfähigen Klasse, wobei der wackelige Pisa-Turm der Ostberliner Schulbildung in immer bedrohlichere Schieflage gerät. Die kasachischen Aussiedler Edward, Walja und Waljas Großmutter Ida fremdeln im Berliner Speckgürtel und erleben die Fremdenfeindlichkeit hautnah. Walja kompensiert ihre Fremdheit mit einer Puppe, die sie „Janina” tauft.
Neurosen in allen Farben
Zwischen diesen drei Familien oder Rumpffamilien zirkuliert die geistig leicht zurückgebliebene Frau Koenig. Sie arbeitet als Putzfrau in Marls Anwaltskanzlei, im Aussiedlerheim und bei der Lehrerin. Unter der liebevollen, aber sehr nachdrücklichen Führung ihres Vaters führt Frau Koenig die drei Personengruppen immer enger zusammen. Jedes Mitglied der unterschiedlichen Familienmodelle laboriert an einer zerfransenden Psyche. Bei dem einen starrt der Vaterkomplex schon vor dem Frühstück aus dem Rasierspiegel, bei dem anderen spült die Nacht mehr Traumata als Träume übers Kopfkissen. Angesichts solcher psychischen Nahkampfzonen liest sich der Titel des Romans zunächst ironisch. Die Figuren sind eher ein Haufen beziehungsgestörter Halbwaisen und Stiefkinder als eine Dynastie von Königskindern.
Mit ungeheuerer Detailfülle breitet die Diplompsychologin Schmidt ein gutes Dutzend Biographien vor dem Leser aus. In schnell wechselnder Perspektive fügt sie die biographischen Short Cuts zu einem großen Puzzle, bis sie schließlich eine große Familie bilden. Ihre hochorganisierte Prosa ist eine Art psychologische Fuge. Leitmotive und Parallelträume verschränken die unterschiedlichen Sehnsüchte der Figuren. Neben dem formalen Reichtum beeindruckt die Fülle an fein schattierten Empfindungen und Gefühlsregungen, an Komplexen in originellsten Ausformungen und Neurosen in allen Spektralfarben. Schmidt staffiert jede Figur mit einem rhizomartig verästelten Innenleben aus. Sie zergliedert jedes Gefühl in all seine Regungsatome. Schmidt schreibt in Zungen. Sie orchestriert ein polyphones Wahrnehmungsorchester.
Es gelingt der Autorin, ihre verschachtelte Erkundung der unterschiedlichsten Psychen so spannend wie ein Thriller zu gestalten. Mit wachsender Neugier beobachtet der Leser, wie diese so unterschiedlichen Biographien sorgfältig zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ein Resümee des verschachtelten Figurenstammbaums nähme dem Roman einen Großteil seiner Spannung. Im Laufe des Textes dreht Kathrin Schmidt die Erzählstränge immer enger ineinander, bis sie den Roman zu einem straffen gordischen Knoten geschürzt hat. Die Familien, die anfangs noch so weit voneinander entfernt schienen, sind durch die deutsche Geschichte erstaunlich eng miteinander verwoben. Die Zeitgeschichte wird hier zum launischsten aller Dramaturgen.
Zersiedelte Psychen
Das präzise Vokabular der psychologischen Analyse verbindet sich in diesem Roman mit einem bild- und metaphernreichen Stil zu einem sehr originellen Tonfall. Es ist verblüffend, wie es Kathrin Schmidt gelingt, mit diesem analytischen Text nicht in den klappernden Sprachduktus der spröden Seeelenklempnerei zu fallen. Die ausufernden Schilderungen all der seelischen Irrungen und Wirrungen bleiben farbig und schillernd und kippen niemals in den Jargon der Analyse. Obwohl es einzig um mal mehr, mal weniger intensiv vibrierende Gefühlsregungen geht, wird der Text nirgends sentimental. In ausschweifenden Erinnerungspassagen gewinnen alle Personen eine plastische Biographie. Unter Schmidts Prosamikroskop wird noch die kleinste Geste, die diskreteste Übersprungshandlung sichtbar.
Bei aller mikroskopischen Konzentration auf komplexe Innenwelten entsteht nebenher auch ein äußerst intensives Bild der deutschen Suburbia. Man kann die triste Topographie des Romans auch als Abbild zersiedelter Psychen lesen. Eindringlich schildert die Autorin die schäbige Vorstadtwelt der Industriebrachen, Eurasia-Imbissbuden, Tankstellen-Shops und Stadtring-Center. Die eng miteinander verstrickten Biographien haben alle im Osten ihre Ursprünge. Mit der Aussiedlerfamilie reichen die Wurzeln gar bis in die kasachische Steppe. Der Kern aller Neurosen liegt in den Wirren der deutschen Geschichte. So ist dieser auf den ersten Blick so intimistisch anmutende Roman auch ein sehr politischer Text.
Im Grunde kreist Kathrin Schmidts Roman auf jeder Seite um eine stumme, sehr kapriziöse und oftmals leider auch sehr abwesende Hauptperson, die in einem Refrain immer wieder beschworen wird: „die Liebe, die Hur”. Dieser Refrain steht jedes Mal in Kursivbuchstaben, als wehte das Schicksal gerade in diesen Passagen leicht von links durch die Textzeilen und beugte sanft die Buchstaben. Dieser windigen Liebe, der Hur mit all ihren unberechenbaren Bocksprüngen, ihrem monatelangen Winterschlaf und ihren plötzlichen Frontalattacken verdanken wir diese sehr poetische und originelle Familienaufstellung im Speckgürtel.
STEPHAN MAUS
KATHRIN SCHMIDT: Koenigs Kinder. Roman. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2002. 344 Seiten, 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002

Drei in einem Bett sind noch kein Paar
Hemmungslos: Kathrin Schmidt tankt Weisheit in einer wodkafeuchten Nacht / Von Jörg Magenau

So könnte ein Kriminalroman beginnen: Im Gebüsch neben einer Tankstelle steht ein Kind mit nassen Strümpfen und weint. Seine Kehle ist durchschnitten und wieder zusammengenäht worden, als habe jemand einen Mord im Vollzug der Tat zurücknehmen wollen. Kathrin Schmidt läßt diesem mysteriösen Auftakt keine Tätersuche folgen. Das Rätsel des Kindes, das wie ein Menetekel am Wegesrand steht, bleibt ungelöst. Auch in den Boulevardzeitungen spielt die "kleine Janina", wie sie dort heißt, nach ein paar Wochen keine Rolle mehr. Doch das zum Schweigen gebrachte Opfer markiert das symbolische Zentrum eines Romans, der surreale, magische Elemente mit einem detailverliebten, überbordenden Realismus mischt.

Drei Geschichten kommen damit in Gang, die zunächst nur dadurch verbunden sind, daß sie alle in der Ost-Berliner Plattenbausiedlung spielen, in der auch das Kind gefunden wurde. Alle Geschichten drehen sich um verlorene, zermarterte Kindheit, um Sehnsucht und Verstummen, um Vergangenheit und Zukunft oder ganz schlicht um die Frage, "was ein Kind ist". Die Leser bekommen die Rolle von Detektiven zugewiesen, die Indizien zusammentragen müssen, um allmählich zu entdecken, wie die Autorin die Geschichten verknüpft und ihre Figuren in schicksalhaften Zusammenhang bringt. Die Vergangenheit muß erforscht werden, um zu erfahren, wieviel Zukunft möglich ist. Denn die Antwort auf die Frage, was ein Kind sei, ist im Grenzbereich zwischen Vergangenheit und Zukunft zu suchen.

Marl und Frieling sind ein schwules Paar, das in einer konventionellen, aber zärtlichen Beziehung zusammenlebt. Marl ist Rechtsanwalt, Frieling kümmert sich um den Haushalt. Marl war es, der die "kleine Janina" gefunden hat. Dieses Erlebnis wirft ihn aus der Bahn. Sein plötzlich aufflackernder Kinderwunsch droht die Partnerschaft zu zerstören, bis Marl begreift, daß er sich nicht nach dem gemarterten Kind, sondern nach der eigenen, abhanden gekommen Kindheit sehnt. Er erfährt, daß sein Vater, den er als ängstlichen, schweigsamen Duckmäuser kennt, in der stalinistischen Frühzeit der DDR ins Zuchthaus geraten war und dort einen Mithäftling liebenlernte. Nach seiner Haftentlassung beschloß er, nie wieder aufzufallen, flüchtete sich in eine Tarnehe und ein langweiliges Leben und verleugnete den Liebhaber.

Auch die Lehrerin Lioba Zeplin wird mit der Vergangenheit konfrontiert. Ihre etwas debile Putzfrau versteckt mysteriöse Briefe mit Geschichten unter der Fußmatte oder hinterm Heizkörper, die kaum verschlüsselt von Liobas Kindheit handeln. Lioba entdeckt in diesen Texten, daß ihr Vater ein notorischer Denunziant mit Blockwartmentalität war. Daß auch sie selbst sich in harmloser Plaudersucht gegenüber Mitarbeitern des MfS durchaus mitteilungsfreudig gab, erscheint danach weniger harmlos, ist aber nicht der Grund ihrer Verzweiflung. Lioba erlöst sich schließlich aus der Tristesse ihres Daseins mit einem eleganten Sprung vom Balkon. Schmerzfrei und ohne Bedauern scheidet sie aus dem Leben.

Unmerklich weitet sich der Erzählraum von der nachbarschaftlichen Enge und Anonymität der Vorortödnis zum Geschichtspanorama, das bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreicht. Ida Bergner, vormals Sinaida Semjonowna Partkowa, hat es gelernt, ihr Schicksal zu akzeptieren. Als Spätaussiedlerin lebt sie im Wartestand der Bürokratie. Sie wohnt zusammen mit ihrer flatterhaften Enkelin Walja und deren Mann, der in Ermangelung anderer sinnvoller Beschäftigung endlos an seinem Auto herumrepariert. Im Ehebett des jungen Paares thront wie ein Albtraum eine mechanische Gliederpuppe - Surrogat unerfüllter Wünsche. Ida kam einst als Mitglied der Roten Armee nach Deutschland. Im Verlauf einer wodkafeuchten Nacht und einer grotesken Wette wurde sie geschwängert und kehrte mit einer Tochter in die Heimat zurück. Die Tochter ist längst tot, entschlafen neben dem zischenden Gasherd ihrer kasachischen Küche. Doch nun, mit fünfzigjähriger Verspätung, trifft Ida den Vater ihrer Tochter wieder, von dem sie bis dahin noch nicht einmal den Namen wußte.

Was ist ein Kind? Die naheliegende Antwort, es sei ein Resultat der Liebe, wird bei Kathrin Schmidt nachhaltig demontiert. "Die Liebe, die Hur" poltert als Schicksalsgöttin durchs Geschehen und hat ihren Spaß daran, die Menschen an der Nase herumzuführen. Sie läßt sich bevorzugt dort nieder, wo, wie bei Marl und Frieling, Fortpflanzung ausgeschlossen ist, während Kinder in trostlosen Familien und in Lieblosigkeit aufwachsen müssen. Traditionelle Familienstrukturen gibt es in diesem Roman nur noch als Problem. Verwandtschaft und Zusammenhalt sind nicht durch die Biologie gegeben, sondern müssen aufgefunden und angenommen werden. Das ist um so auffallender, als Kathrin Schmidt ihre Figuren in greller Körperlichkeit zeichnet und das Triebhafte, Lustbetonte in den Vordergrund stellt. Mit Freude wird gegessen und zugegriffen, wo es etwas zu genießen gibt. Sex und Sinnlichkeit sind die Schlüssel zum Leben und zum Erzählen. Saft- und kraftvolle Frauen, Sinnbilder archaischer Weiblichkeit, erfreuen sich einer Sexualität von geradezu vegetativer Üppigkeit. Die Männer wirken daneben - mit Ausnahme des schwulen Paares - eher schwächlich und ducken sich wie Marls graugesichtiger Vater weg aus der Geschichte und aus der immer auch riskanten Sinnlichkeit.

Schmidts barocke, überbordende Erzählweise wurde bereits in ihrem Debütroman "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition" gerühmt. Vergleichbar ist ihr magischer Realismus allenfalls lateinamerikanischen Romanen der siebziger Jahre. Im Gebiet der deutschen Literatur sind Irmtraud Morgner und vielleicht der frühe, noch ungebändigte Günter Grass als Vorbilder erkennbar. Mit "Koenigs Kinder" hat Kathrin Schmidt einen ostdeutschen Schicksalsroman geschrieben, der das individuelle Leiden und Verstummen in einen undurchschaubaren zeitgeschichtlichen Zusammenhang bringt. Das Unternehmen gelingt, weil die Autorin darauf verzichtet, psychologische Erklärungen oder ideologische Rechtfertigungen zu liefern. Sie vertraut allein auf die Kraft ihres Erzählens und hat Erfolg damit.

Kathrin Schmidt behandelt ihre Figuren mit Zuneigung und Mitgefühl. Weil sie ihnen begrenzte Einsicht in ihr Verhängnis gewährt, bekommen sie so etwas wie Weisheit oder doch zumindest eine animalische Duldsamkeit. Zueinander finden sie aber nicht, die Koenigs-Kinder, ganz so, wie es der Titelanklang ans Volkslied suggeriert. Nur die Leser kennen schließlich alle Verwandtschaftsbeziehungen. Sie sind klüger als die Figuren, die wie Marionetten an ihren Schicksalsstricken hängen. Am Ende des Romans sitzt "die Liebe, die Hur" mit Stift und Papier vor ihrem Abakus und zieht einen Strich unter die Rechnung. Sie scheint ganz zufrieden zu sein, auch wenn sich erzähltes Leben nicht wirklich bilanzieren läßt. Mit dem Auftauchen der "kleinen Janina" hätten die Dinge ihre Kehrseite zurückbekommen, heißt es im Text. Richtiger wäre es, zu sagen, die Menschen hätten eine historische Tiefendimension erfahren. Zeitgeschichte und wilde Fabulierlust, Detailtreue und Phantasiebrausen schließen sich bei Kathrin Schmidt allerdings nicht aus. Geschichte erscheint als mythologische Macht, die die Menschen mitreißt wie ein breiter Fluß. Nur "die Liebe, die Hur" kann sich ihren Reim aufs Geschehen machen.

Kathrin Schmidt: "Koenigs Kinder". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 344 S., geb., 22,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Kathrin Schmidts Roman "Koenigs Kinder", ein "großes Tableau komplexer, überkreuz konstruierter Psychostudien", hat Rezensent Stephan Maus außerordentlich beeindruckt. Einfühlsam, aber nie sentimental findet Maus ihr Porträt dreier mehr oder weniger zerbrechender Familien im Speckgürtel Berlins. Mit ungeheuerer Detailfülle breite Schmidt ein gutes Dutzend Biografien vor dem Leser aus, die sie in schnell wechselnder Perspektive zu einem großen Puzzle füge, bis sie schließlich eine große Familie bildeten. Schmidts "hochorganisierte Prosa", erklärt er, "ist eine Art psychologische Fuge". Neben dem formalen Reichtum dieser Prosa hat Maus die Fülle "an fein schattierten Empfindungen und Gefühlsregungen, an Komplexen in originellsten Ausformungen und Neurosen" überzeugt. Dabei gelingt es Schmidt seines Erachtens, ihre Erkundung der unterschiedlichsten Psychen spannend wie einen Thriller zu gestalten. Er hebt hervor, dass die Autorin, bei aller "mikroskopischen Konzentration auf komplexe Innenwelten", zugleich ein auch ein "äußerst intensives Bild" der deutschen Suburbia zeichnet. Die Schilderung der Tristesse der schäbigen Vorstadtwelt der Industriebrachen, Eurasia-Imbissbuden, Tankstellen-Shops und Stadtring-Center findet Maus äußerst eindringlich. Schließlich weist er darauf hin, dass dieser Roman im Grunde ein eminent politischer Text ist: Schließlich liege der Kern aller Neurosen in den Wirren der deutschen Geschichte.

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»Kathrin Schmidt hat Mut und kann Außergewöhnliches außergewöhnlich erzählen. [...] Ein Glücksfall: ein Buch der wahren Erinnerung.« NZZ