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Die Bolschewiki inspirierte der Glaube - eine Art weltliche Religion - an die Möglichkeit einer radikalen Umgestaltung der rückständigen bäuerlichen Gesellschaft. Von Anfang an erklärten sie der Orthodoxie den unversöhnlichen Krieg, installierten ein System von kommunistischen Riten und betrieben eine effektive Propaganda der Errungenschaften des neuen Regimes. Zentrum des sowjetischen Kultus wurde das Leninmausoleum: dort liegt bis zum heutigen Tag der einbalsamierte Leichnam des toten Parteiführers. In den dreißiger Jahren kommt es zu seiner Vergöttlichung, wird im Recht die…mehr

Produktbeschreibung
Die Bolschewiki inspirierte der Glaube - eine Art weltliche Religion - an die Möglichkeit einer radikalen Umgestaltung der rückständigen bäuerlichen Gesellschaft. Von Anfang an erklärten sie der Orthodoxie den unversöhnlichen Krieg, installierten ein System von kommunistischen Riten und betrieben eine effektive Propaganda der Errungenschaften des neuen Regimes. Zentrum des sowjetischen Kultus wurde das Leninmausoleum: dort liegt bis zum heutigen Tag der einbalsamierte Leichnam des toten Parteiführers. In den dreißiger Jahren kommt es zu seiner Vergöttlichung, wird im Recht die "Schuldvermutung" eingeführt, in der Kunst ein einheitlicher Stil (der Sozialistische Realismus) verordnet und der Sowjetpatriotismus eingepflanzt.Keine weltliche Religion des 20. Jahrhunderts kann sich in ihrer Anziehungskraft für die Intellektuellen mit der kommunistischen (Raymond Aron nannte sie das "Opium für die Intellektuellen") vergleichen. Die Gründe dieser Verzauberung zu klären ist die wichtigsteAufgabe des Buches. Was am ursprünglichen revolutionären Glauben und seiner Kultur erschien Walter Benjamin, André Gide, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht und vielen anderen als ungewöhnlich wertvoll und sogar einzigartig? Mikhail Ryklin zeichnet die Konturen des kommnistischens Glaubens, die Funktionsweise des Kommunismus als Religion nach.
Autorenporträt
Ryklin, MichailMichail Ryklin, 1948 geboren, arbeitet am Institut für Philosopie an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. 2007 erschien der Essay Mit dem Recht des Stärkeren (es 2474), für den er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2007 ausgezeichnet wurde.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.09.2008

Der Kopf in der Schachtel
Michael Ryklin versteht den Kommunismus als Religion
Da gibt es diese Schachtel in „Barton Fink”, einer „rabenschwarzen Komödie” von Joel und Ethan Coen, wie Filmkritiker das gerne nennen. Diese Schachtel wird dem Titelhelden, dem Drehbuchautor Barton Fink, von einem jener einfachen Menschen anvertraut, für die Finks Herz schlägt. Doch der „einfache Mensch” ist nichts als ein Wunschbild. Der Versicherungsvertreter entpuppt sich als Serienkiller, dem Fink die eigenen Eltern ausgeliefert hat. Und in der Schachtel, die Fink ständig mit sich herumschleppt, ist der Kopf einer Toten. Der einfache Mensch hat die Vorliebe, seine Opfer zu enthaupten.
„Barton Fink” gilt als schonungslose Abrechnung mit Hollywood. Michail Ryklin liest den Film politisch, als „gnadenlose Satire” auf die Revolutionsphantasien der westlichen Intellektuellen. Wie Barton Fink irrten sie als „Touristen mit einer Schreibmaschine” durchs vergangene Jahrhundert, voller Träume von einer besseren Welt und ahnungslos, was in der wirklichen Welt vor sich geht. Das Zeitalter der Extreme, eine rabenschwarze Komödie.
Ryklin ist einer der interessantesten Denker im heutigen Russland, ein Philosoph und kluger politischer Beobachter. In seinem Essay „Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution” kommt er von Bertolt Brecht auf Barton Fink: „In den dreißiger Jahren lief außer Brecht noch der eine oder andere gebildete und talentierte Vertreter der linken Intelligenzija – symbolisch gesprochen – mit einer Schachtel herum, ohne zu ahnen, dass sich darin der Kopf seines Freundes befand, ermordet von jemandem, den er für einen einfachen Menschen hielt.”
So kluge Köpfe und so viel politische Blindheit. Von den Hungersnöten und Säuberungen und Schauprozessen und Straflagern wollte ein Teil der westlichen Intelligenz nichts wissen, für eine Weile wenigstens. Was auch immer geschehe, er werde „niemals etwas gegen die UdSSR schreiben”, mit dieser Formel brachte Brecht die Geschichte dieser Verblendung auf den Punkt.
Nach dem Ende des Kalten Krieges sind bereits die unterschiedlichsten Erklärungen ausprobiert worden, Konzepte wie „Tyrannophilie” und „Versuchungen der Unfreiheit”, ohne die Debatte zu erleuchten. Ryklin belebt nun einen der ältesten Erklärungsversuche der extremen Ideologien des 20. Jahrhunderts wieder – den Begriff der politischen Religion. Neu ist das nicht, doch Ryklin geht über Eric Voegelin, Raymond Aron oder Gerd Koenen hinaus, wenn er den sowjetischen Kommunismus nicht nur als Ersatzreligion deutet. Er will den Kommunismus als echten religiösen Glauben verstanden wissen, als Kirche mit Ritualen und Geboten, die einen „neuen Menschen” erschuf, der im Namen einer höheren Moral die schlimmsten Verbrechen beging.
Leider zerfällt dieser Essay jedoch in zwei Teile, die sich nicht zusammenfügen. Am Anfang und am Ende des Buches nutzt Ryklin seinen Begriff der kommunistischen Religion für erhellende Beobachtungen zu den Nachwirkungen des sowjetischen Systems auf das heutige Russland. Der Glaube ist transformiert, Stalin wird zum Retter des orthodoxen Russlands stilisiert, und der neue Mensch stellt weiterhin eine höhere Moral über das Gesetz: „Russland ist eine Religion, Stalin ein Heiliger”, in den Worten eines Chefpropagandisten der nationalistisch-orthodox-kommunistischen Glaubenssynthese in Putins und Medwedjews Russland.
Ryklins Begriff des Glaubens meint in Wahrheit so etwas wie Volksfrömmigkeit. Wenn es um die russische Gesellschaft geht, gelangt er so zu erstaunlichen Einsichten. Bei den Intellektuellen kommt er damit nicht weit. Zwar sind die Skizzen zu Bertrand Russell und Walter Benjamin, Arthur Koestler und André Gide, Lion Feuchtwanger und eben Brecht, die im Zentrum des Buches stehen, meisterliche politisch-biographische Miniaturen. Doch der Untertitel des Essays steht in keinem direkten Verhältnis zu seinem Titel. Zu wenig differenziert ist der Glaubensbegriff, der den Intellektuellen übergestülpt wird. So wird der Zweifel nicht zugelassen – als wäre der nicht seit Abraham oder Thomas von Aquin ein Element des Glaubens, das immer wieder zu dessen Bekräftigung führt, und als wären Intellektuelle nicht immer wieder Meister darin gewesen, intellektuelle Zweifel der politischen Sache zu unterwerfen.
Ryklins Porträts sind am besten, wo er sein Konzept vergisst und einfach die Geschichte sprechen lässt. Im Fall Walter Benjamins etwa, dessen Leidenschaft für die Revolution nach einer Weile wieder abkühlte. Doch wie so viele andere Intellektuelle entschied er sich trotz seiner andauernden Zweifel in einer, wie Ryklin bemerkt, „konkreten historischen Situation” für Moskau: Denn „einen anderen Weg, sich intellektuell und politisch zu engagieren, als den Marxismus gab es für ihn in der damaligen ausweglosen Lage nicht”, und damit meint Ryklin die Situation eines linken Juden und den Aufstieg des Nationalsozialismus.
Ryklins kluge Reflexionen und eindringliche Schilderungen weisen auf einen Mangel der politisch-historischen Diskussion hin: Die Begeisterung der Intellektuellen für den Kommunismus wird immer wieder untersucht. An zweiter Stelle rangieren faschistische Intellektuelle. Doch wie war die Massenkonversion möglich, die aus braunen Denkern brave Bundesrepublikaner machte?
Gänzlich unerklärt bleiben all die Intellektuellen, von Samuel Huntington über Walt Rostow und Milton Friedman bis heute, die vorbildlich im demokratischen Lager standen, aber ohne mit der Wimper zu zucken für Flächenbombardements, Militärdiktaturen oder Elitenherrschaft Partei ergriffen. Waren auch sie von inneren Nöten getrieben und in auswegloser Lage wie Walter Benjamin? Dabei hatte kaum ein kommunistischer Intellektueller solche politische Durchschlagskraft wie diese Experten im Westen. Es gibt noch viele Köpfe in Schachteln und noch viele ungeschriebene Kapitel einer Geschichte intellektueller Verblendungen im Zeitalter der Extreme. Und es gab immer, auf allen Seiten, zu wenige unabhängige Intellektuelle, die jedem politischen System gegenüber kritisch blieben. TIM B. MÜLLER
MICHAIL RYKLIN: Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. Aus dem Russischen übersetzt von Dirk und Elena Uffelmann. Verlag der Weltreligion im Insel Verlag, Frankfurt am Main 2008. 192 Seiten, 17,80 Euro.
Brecht wollte nie etwas gegen die UdSSR schreiben
Waren die Experten im Westen auch in auswegloser Lage?
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Für Tim B. Müller steht außer Zweifel, dass es sich bei Michail Ryklin um einen der "interessantesten Denker Russlands" handelt. Dessen These, dass Kommunismus eine Religion ist, sei zwar nicht neu, der Autor verstehe dies allerdings anders als Eric Voegelin oder Gerd Koenen nicht als "Ersatzreligion", sondern als wirklichen Glauben, so der Rezensent gefesselt. Solange Ryklin diese Erkenntnis auf die Auswirkungen des Sowjetsystems auf das heutige Russland anwendet, findet der Rezensent seine Ausführungen sehr erhellend. Schwieriger erscheint es ihm, wenn der Autor seinen kommunistischen Religionsbegriff auf die Intellektuellen insgesamt ausweitet. Hier gelingen ihm zwar äußerst treffende politische Porträts von Walter Benjamin, Bertrand Russell oder Bertolt Brecht, wie der Rezensent anerkennend anmerkt. Sein "Glaubensbegriff" allerdings scheint Müller nicht recht treffsicher und insgesamt zu "undifferenziert.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Ryklins bedeutsamer und eindrucksvoller Essay unterzieht die Texte einiger Moskaupilger wie André Gide, Arthur Koestler, Lion Feuchtwanger und Walter Benjamin einer erneuten Lektüre, um die Tiefenwirkung des kommunistischen Glaubens zu ermitteln. .... Ryklin vermag im Detail nachzuzeichnen, wie das Opium gewirkt hat, obgleich die Jünger glaubten, sie hätten die Droge längst hinter sich.« Wolfgang Sofsky DIE WELT 20080503