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Produktdetails
  • insel taschenbuch 2662
  • Verlag: Insel Verlag
  • 2000.
  • Seitenzahl: 108
  • Deutsch
  • Abmessung: 9mm x 108mm x 176mm
  • Gewicht: 105g
  • ISBN-13: 9783458343622
  • ISBN-10: 3458343628
  • Artikelnr.: 08555060
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.11.2000

Lesetipp zum Wochenende
Eigene Prägungen
Nur drei sind wirklich kriminell –
die „Charaktere” des Theophrast
Er war der erste literarische Karikaturist Europas, und seine Schöpfungen sind noch immer frisch wie am ersten Tag. Das liegt nicht nur an ihrer Qualität, sondern auch an der Unveränderlichkeit menschlicher Wesensart im Wechsel der Zeiten – am Charakter. Theophrast, ein Freund und Schüler von Aristoteles, verwandte als Erster dieses Zauberwort der Menschenkennerkunst. Er übertrug es aus der Münzproduktion, wo die Prägestöcke Charakteres hießen, und nannte fortan alles, was die Menschen und ihr Verhalten prägte, Charakteres ethikoi.
Zu dieser Zeit entdeckten die Griechen das Individuelle, Persönliche, Typische. Theophrast, von Haus aus Botaniker, spießte es auf und brachte es in eine lockere Ordnung. Dreißig Charaktere stachen ihm im Athen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts besonders ins Auge. Sie sind alle unangenehm und lästig, aber nicht monströs – die Forschung hat herausgefunden, dass höchstens drei der dargestellten Handlungen nach damals geltendem Recht Straftaten gewesen wären. In der Mehrzahl bewohnen Durchschnittstypen dieses Bestiarium: etwa der Verlogene, der Schmeichler, der Ungehobelte, der Oligarchische, der Rüpel, der Schwafler, der Knickrige, der Gewinnsüchtige, der Schurkenverteidiger.
Alle Texte, keiner länger als drei Seiten, sind gleichartig aufgebaut. Unter Ziffer 1 erfolgt die Definition, etwa so: „Die Jugendsucht erscheint wohl als Liebe zu Anstrengungen, die einem bestimmten Alter nicht mehr angemessen sind, der Jugendsüchtige aber ist einer, der . . .” Dann folgen bis zu zwanzig weitere Ziffern mit einzelnen Eigenschaften, jeweils beginnend mit einem Relativsatz. Der Jugendsüchtige also wäre einer, „der im Alter von sechzig Jahren Verse auswendig lernt und sich an sie während seines Vortrags beim Gelage nicht mehr erinnert”. Danach geht es weiter im Text mit erzählenden Sätze. Im „Meckerer” etwa: „Zeus grollt er nicht, weil es regnet, sondern weil es zu spät regnet. ” Und im „Grantigen”: „Wenn er auf der Straße stolpert, verflucht er den Stein. ”
Komödien im Taschenformat
Von der Antike bis heute sind die „Charaktere” eine eigene Gattung geblieben: Lesekomödien im Taschenformat, Handorakel zum Erkennen des fremden und des eigenen Selbst. Der Nachwelt galten sie als „goldenes Büchlein”. Imitatoren fanden sie vor allem unter Humanisten und Aufklärern. Elias Canetti ist mit seinem „Ohrenzeugen” bisher der Letzte in Theophrasts Linie. Bei ihm kommen endlich auch jene zu Ehren, die der Begründer noch schonte, die Frauen.
Theophrasts Helden sind Männer mittleren und fortgeschrittenen Alters. Von ihnen ändert sich keiner mehr. Bessere Prägungen wurden in ihrer Jugend versäumt. Man trifft sie an allen Orten: im Theater, in der Volksversammlung, auf dem Markt, im Bad, bei Festen und Riten. Wenige Autoren haben aus der Antike so viel Alltägliches überliefert wie Theophrast. Was er wahrnahm, spielte sich bereits in einer posttragischen, psychologisch durchschaubar gewordenen Welt ab. Spätestens in der Demokratie wurden die Menschen öffentliche Wesen. Die sozialen Distanzen der Adelswelt verschwanden. Im kleinen Raum der Polis rückte man sich näher, auch körperlich. Begierden, Abscheu, Aggressionen wurden erregt. Man musste lernen, einander auszuhalten, auch riechend – so wie im „Garstigen”, dessen Held seine mangelnde Sauberkeit als „Erbkrankheit” deklariert. Doch Theophrast begegnet allen mit teils grimmigem Humor. Sein Lachen entspringt der letztmöglichen Distanz, die den Menschen in einer sich verdichtenden Gesellschaft geblieben ist – der Ironie.
KURT OESTERLE
THEOPHRAST: Charaktere. Dreißig Charakterskizzen. Neu übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Kurt Steinmann. Insel Verlag, Frankfurt 2000. 111 Seiten. 14,90 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Für "lx" hat das Renaissance-Verdikt über dieses Buch noch Gültigkeit: Was einst als "Goldenes Büchlein der Antike" gehandelt wurde, erscheint dem Rezensenten noch immer als anthropologisches Vademekum, auch wenn die Beweggründe menschlichen Handelns andere geworden sind, wie er ganz richtig vermutet. Außer für das "informative Vorwort" der Neuübersetzung kann sich "lx" vor allem für die Nüchternheit der Theophrastschen Charakterskizzen erwärmen. Der in Überschriften wie "Der Schwafler" oder "Der Knickrige" enthaltene Fingerzeig auf eine verborgene Komik dagegen lässt ihn eher kalt.

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