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Ronald Hayman geht in seiner Proust-Biographie einen neuen Weg. Er stellt die äußeren Bedingungen für jenen 'inneren Zustand' dar, in dem Proust die »Recherche« schreiben konnte. Hayman macht dazu als erster von dem in Deutschland nur wenig bekannten gesamten Briefwechsel Prousts Gebrauch.

Produktbeschreibung
Ronald Hayman geht in seiner Proust-Biographie einen neuen Weg. Er stellt die äußeren Bedingungen für jenen 'inneren Zustand' dar, in dem Proust die »Recherche« schreiben konnte. Hayman macht dazu als erster von dem in Deutschland nur wenig bekannten gesamten Briefwechsel Prousts Gebrauch.
Autorenporträt
Ronald Hayman arbeitete nach seinem Studium in Cambridge als Autor und Regisseur für Theater und Fernsehen. Er hat mehrere Biographien, unter anderem über Samuel Beckett und Jean-Paul Sartre verfasst.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.08.2000

Die Krankheit zum Werke
Auf der Suche nach einem nicht umsonst geopferten Leben: Ronald Haymans Proust-Biografie
Wenige Monate, bevor Marcel Proust am 18. November 1922 mit einundfünfzig Jahren starb, hatte er nach fünfzehnjähriger Arbeit an den sieben Romanen der „Recherche” das Wort „Ende” geschrieben. „Jetzt kann ich sterben”, sagte er zu seiner Haushälterin Céleste Albaret. Die Arbeit ging freilich weiter, noch am Morgen seines Todestags machte er sich korrigierend und ergänzend am Typoskript der „Gefangenen”, des fünften Romans, zu schaffen. Aber wenn es auch niemals eine endgültige Fassung des aus dreihunderttausend Wörtern bestehenden Opus geben wird, konnte sein Autor doch sagen: „Ich werde mein Leben nicht umsonst geopfert haben. ” „A la recherche du temps perdu”: Die verlorene Zeit war zur wiedergefundenen geworden.
Die radikale Unterordnung des Lebens unter das Werk kann für den Biografen zu zwei entgegengesetzten Konsequenzen führen. Im einen Fall steht das Werk im Mittelpunkt und wird die Darstellung der an sich uninteressant geltenden Vita auf Anhaltspunkte im Hinblick auf die künstlerische Produktion reduziert. Im anderen wird gerade der Mensch, der dieses außerordentliche Opfer gebracht hat, zum Gegenstand der lebensgeschichtlichen Recherche. Was Proust betrifft, haben wir in den Biografien von Jean-Yves Tadié (nur französisch, 1996) und von Ronald Hayman, die zehn Jahre nach der Londoner Originalausgabe jetzt in der überaus zuverlässigen Übersetzung von Max Looser vorliegt, Musterbeispiele für die eine wie die andere Möglichkeit.
Der Sog des Schwarzen Lochs
Tadié, der Herausgeber der neuen Pléiade-Edition der „Recherche”, bezieht alle biografischen Fakten auf den Schriftsteller, Hayman will Proust als Person aus den Dokumenten über ihn, vor allem aus seinen eigenen Äußerungen rekonstruieren. Dabei spielt das literarische Werk eine weniger wichtige Rolle als die Korrespondenz, deren einundzwanzig Bände mehr als zehntausend Seiten (in der französischen Ausgabe von Philip Kolb) umfassen. Tadié setzt die Kenntnis der „Recherche” voraus, wie das auch die zweibändige Biografie von George Painter (deutsch 1962 und 1968) tut, der es hauptsächlich auf den Nachweis von Parallelen zwischen Leben und Werk ankommt. Haymans Buch kann man lesen, ohne das Abenteuer einer Lektüre der „Recherche” hinter sich zu haben – man wird es aber vor sich haben! Denn die Geschichte dieses Lebens ist so angelegt, dass die ersten dreieinhalb Jahrzehnte als Vorbereitung auf das Hauptwerk erscheinen, das während der letzten fünfzehn Jahre wie ein riesiges Schwarzes Loch alle Lebensmaterie in sich hineinzieht – ein Sog, dem man sich als Leser nicht entziehen kann, gerade weil die „Recherche” selbst weitgehend ausgespart wird.
Es geht Hayman um die biografischen und zeitgeschichtlichen Voraussetzungen und Begleitumstände. Die Dreyfus-Affäre und der Erste Weltkrieg haben auf die Genese und Eigenart des Romans wesentlich eingewirkt. Zunächst war es der 1902 abgebrochene „Jean Santeuil”, der fast wie ein Tagebuch Prousts Eindrücke vom Antisemitismus der Aristokratie und die Erschütterung seines Glaubens an jene vermeintlich höhere Menschenklasse festhielt. In der „Recherche” schlägt sich diese Erfahrung in der Entwicklung der Hauptfiguren nieder, die sich im Vergleich zu dem, was sie zunächst zu sein scheinen, als etwas völlig anderes entpuppen.
Die Überzeugungskraft eines solchen Demaskierungsprozesses nimmt mit der Länge der erzählten Geschichte zu. Für diese sorgte der Krieg. Im Jahr 1913 war, nach dem das Manuskript mehrfach abgelehnt worden war, darunter auch von André Gide, dem Mitbegründer des der Nouvelle Revue Française angeschlossenen Verlags Gallimard, „Du côté de chez Swann” bei Grasset erschienen, wobei der Autor sämtliche Druckkosten übernahm. Aber erst 1919 konnte die Fortsetzung herauskommen, jetzt bei Gallimard – Gide war inzwischen zum glühenden Bewunderer geworden. Die Unterbrechung der Veröffentlichung durch den Krieg hatte weit reichende Folgen für den Gesamtaufbau; der Roman wurde dreimal so lang.
Viel bedeutsamer als diese äußeren Einflüsse waren natürlich diejenigen, die von Prousts persönlicher Lebensgeschichte ausgingen. Hayman verfolgt sie mit der nüchternen Genauigkeit eines Feldforschers, der die komplizierten klimatischen und geologischen Verhältnisse einer verzweigten Flusslandschaft untersucht. Alle ins Werk mündenden Strömungen haben ihren Ursprung in Prousts Beziehung zur Mutter. Die berühmte Episode des verweigerten Gutenachtkusses geht auf ein Kindheitserlebnis zurück – „eine Entbehrung, die weitaus bekannter geworden ist als manche Grausamkeit gegenüber Kindern in den Romanen von Dickens”.
Der Vierzehnjährige schrieb der gleichaltrigen Antoinette Faure, der Tochter des späteren Staatspräsidenten, ins Album (es handelt sich um den bekannten Fragebogen), seine Vorstellung vom Unglück sei: „Von Mama getrennt zu sein”. Spätestens damals hätten die Eltern alarmiert sein müssen; aber Freuds „Traumdeutung” war noch nicht erschienen, und Proust sollte ohnehin nie etwas von der Theorie des Ödipuskonflikts hören. Hätte er sich in Freuds Sprechzimmer begeben (eine Vorstellung vom größten Unglück für die Literatur), wäre er zum klassischen Fall geworden: Sowohl sein lebenslanges Asthma als auch seine Homosexualität wurzelten in seiner Mutterfixierung.
Die Mutter sollte lesbar bleiben
Durch Identifizierung mit der Mutter und die Verschiebung ihrer im Kindesalter erfahrenen Liebe auf Objekte, die dem eigenen Knabenbildnis glichen, wurde der unstillbare Hunger nach mütterlicher Zärtlichkeit „überwunden”. Und der Gewinn des Krankseins bestand darin, sich die Zuwendung der mütterlichen Sorge zu sichern, auf die der Gesunde und Willensstarke nicht angewiesen ist. Umgekehrt legte Madame Proust Wert auf einen Sohn, der im Unterschied zu Marcels langweilig normalem Bruder Robert auf ihren Schutz nicht verzichten konnte. „Traurig ist, Zuneigung und Gesundheit nicht gleichzeitig haben zu können”, schrieb ihr der Einunddreißigjährige, der noch immer im elterlichen Haus lebte. Da er tagsüber schlief, verkehrte er mit der Mutter vor allem schriftlich.
Zwischen ihrem Tod im Jahre 1905 und dem Beginn der Arbeit an der „Recherche” 1908 zieht Hayman eine einleuchtende Linie. 1907 hatte Proust im Figaro seinen Artikel „Une grand-mère” veröffentlicht, in dem er das geliebteste Wesen mit einem geistvollen und leidenschaftlichen Buch vergleicht. Soll der Tod die Macht haben, die Buchstaben dieses Buches in Schriftzeichen zu verwandeln, die plötzlich nichts mehr bedeuten? Hayman kommentiert: „Prousts Weigerung zu glauben, dass seine Mutter etwas Unlesbares geworden sei, wird sich als einer der Hauptgründe dafür erweisen, verlorene Zeit als rettbar zu schildern. ”
Damals freilich hätte niemand voraussagen können, dass der Ruskin-Übersetzer und Verfasser von „Les plaisirs et les jours” (1897) und von Zeitungsaufsätzen der Autor eines der größten Romane der Weltliteratur werden würde. Auch Proust selbst nicht. Noch 1911 lautete die Bilanz äußerst negativ: „Ich habe alle verloren, die ich liebte, meine Gesundheit ist endgültig ruiniert, und nun bin ich schon seit zehn Jahren bettlägerig, stehe einmal im Monat für ein paar Stunden auf, sehe niemanden mehr, nicht einmal meinen Bruder, öffne weder Fenster noch Vorhänge und esse nicht. ”
Hayman bleibt dem Spuren suchenden Leser kein Detail der extravaganten Umstände schuldig, unter denen das Riesenwerk hervorging. Nicht die Pelzmäntel, in die sich der ewig Verfrorene im überheizten Zimmer einwickelte, und die Pullover, die ihm von den Schultern rutschten und ebenso liegen blieben wie die Manuskriptblätter, die auf den Boden flatterten. Nicht die vom Rauch des Legras-Pulvers, mit dem Proust sein Asthma bekämpfte, matt gewordenen Messingstäbe des Bettes, in dem er in höchst unbequemer Lage Tausende von Seiten schrieb. Nicht die um den Preis von Demütigungen erworbenen Freundschaften mit Herzögen und Prinzessinnen, die er ins Ritz einlud, und die Affären mit Dienstboten, die er über ihre Herrschaften aushorchte. Auch nicht die Rattenquälerei in dem von ihm finanzierten Männerbordell. Dabei verachtet er von seinen vielen Ichs neben dem jüdischen das sexuell pervertierte am meisten. „Insgesamt war Prousts Homosexualität für den Roman jedoch von Vorteil”, lautet eines von Haymans Resümees. Ihr illusionärer Chrakter, die Aussichtslosigkeit einer dauerhaften Erfüllung („Eine große Liebe ist eine immerwährende Angst”) kamen ihrer Darstellung als einer Subjekt und Objekt schließlich übersteigenden Passion zugute.
„Siehst du”, sagte Proust zu seinem Freund Maurice Duplay, „der Schriftsteller ist eine seltsame Biene, die ihren Honig unterschiedlos aus Blüten und aus Exkrementen gewinnt. Das einzige, was zählt, ist die Qualität des Honigs. ” Von ihr freilich kann nur die Lektüre der „Recherche” selbst überzeugen.
ALBERT VON SCHIRNDING
RONALD HAYMAN: Marcel Proust. Die Geschichte seines Lebens. Aus dem Englischen von Max Looser. Insel Verlag, Frankfurt/M. 2000. 840 Seiten, 78 Mark.
Marcel Proust (1871 – 1922)
Foto: SZ-Archiv
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000

Der kleine Prinz perdü und sein Chauffeur
Gartenrose im Knopfloch: Ronald Hayman auf den Spuren des ewigen Sohnes Marcel Proust / Von Joseph Hanimann

Etwas Entscheidendes fehlt dieser Biographie, die seit ihrer englischen Erstpublikation vor zehn Jahren bereits von zwei neuen biographischen Arbeiten Ghislain Diesbachs und Jean-Yves Tadiés überrundet wurde. Es fehlt das passend vorangestellte Motto. Zum Beispiel jene Stelle aus "Contre Sainte-Beuve", in der Proust klarstellt, ein Buch entstehe aus einem anderen Ich als dem, "das sich in unseren Gewohnheiten, in unserem Gesellschaftsleben, in unsere Lastern kundtut". Mag diese Aversion gegen das Literaturverständnis eines Sainte-Beuve auch Teil der Tarnstrategie sein, mit der Proust die Faktizität der zahlreich aus dem eigenen Leben ins Werk eingeflossenen Bestandteile zu neutralisieren suchte, so darf sie doch bei der Lektüre sowohl des Romanzyklus wie der Lebensgeschichte nicht vergessen werden. Jedenfalls bleibt Haymans Arbeit, die durch die zahlreich angeführten Briefstellen, Zeitdokumente, Zitate aus dem Frühroman "Jean Santeuil" und Bekundungen des Erzähler-Ichs in der "Recherche" auf das Alltagsleben Prousts abzielt, der englischen Biographietradition verpflichtet, weitab vom Prinzip der Werkimmanenz. Was auch bedeutet, daß die kulturgeschichtlichen Zahnräder und psychologischen Präzisionsfedern hier vorzüglich ineinandergreifen.

Neue Erkenntnisse gab es nach der fast unüberschaubar gewordenen Proust-Forschung, nach Tadiés minutiöser neuer Werkedition bei Gallimard vor elf Jahren und nach Philip Kolbs auf einundzwanzig Bände angewachsener Proust-Korrespondenz ohnehin nicht zu erwarten. Haymans Buch bietet aber Ein- und Umstiegsmöglichkeiten für Proust-Leser unterschiedlichen Kompetenzgrades: Den Anfänger befördert es vom Leben zum Werk, den Kenner setzt es manchmal in der unerwarteten Kehrschleife ab, wo die Realität die Literatur noch übertrifft.

Anfang Juli 1896 etwa lernt der fünfundzwanzigjährige Proust im Haus der Princesse de Wagram die wunderschöne Gräfin Greffulhe kennen, eine Cousine des literarischen Dandys Robert de Montesquiou, die acht Jahre älter ist als er. Aus Angst vor Verlegenheit möchte der junge Autor ihr nicht vorgestellt werden, schwärmt aber in einem Brief an den Freund Montesquiou von der "polynesischen Anmut" mit "malvenfarbenen Orchideen" in der Frisur. Die erotische Phantasie, in der Reminiszenzen an Prousts Mutter anklingen, führte zur Erzählung "Der Gleichgültige". Eine adelige Dame, die mit Hilfe von Orchideen ihrem Haar einen "polynesischen Reiz" verleiht, verliebt sich da in einen geistig wie physisch belanglosen Mann aus der Mittelschicht um so mehr, als dieser ihr gegenüber gleichgültig bleibt. Dasselbe Motiv taucht später in einer anderen Geschichte wieder auf, die als "Melancholische Sommertage in Trouville" ins Romanfragment "Jean Santeuil" einging. Aus dieser Identifizierung mit dem weiblichen Sehnen nach einem so reizlosen wie lieblosen Mann entspringt ein wichtiges literarisches Motiv des homosexuell sich gerade determinierenden Autors Proust. Hayman präsentiert diesen Prozeß der geschlechtsverkehrenden Transposition in Form einer biographischen Metaerzählung aus Proust-Zitaten und reichlichen Zeitzeugnissen über die wahre Gräfin Greffulhe.

So ist es auch nicht verwunderlich, daß der selbstbewußte Biograph sich mit dem diskreten Herausmeißeln einzelner Charakterzüge seiner Figur aus dem umfangreichen Material nicht begnügt. Das besonders herausgearbeitete Motiv der Willensschwäche Marcel Prousts etwa wird klar als jener"irreparable psychische Schaden" dargestellt, den die Eltern wohlmeinend dem Sohn zufügt hätten: der strenge Adrien Proust durch seine ständigen Ermahnungen und die hochsensible Mutter Jeanne, die seit der entbehrungsreichen Schwangerschaft während den Tagen der Pariser Commune Schuldgefühle gegenüber dem schwächlichen Erstgeborenen hegte, durch ihre zärtliche Nachgiebigkeit. Die einzige Stärke, mit welcher der junge Mann sich durchsetzen und die Zuwendung seiner Umgebung gewinnen konnte, war das Schwachsein, das Vorzeigen seiner Asthmaanfälle und die lustvolle finanzielle Abhängigkeit. Der für überzogene Blumengeschenke und Trinkgelder bekannte Proust listete bei seinen Reisen der Mutter brieflich oft Busfahrgeld und andere Kleinigkeiten auf - "ich wollte einfach, daß Du weißt, was ich ausgebe", schrieb er im Herbst 1899 aus Venedig.

Gleichzeitig war ihm die Abhängigkeit aber auch peinlich, zumal die Eltern seinen mondänen Müßiggang in den Salons mißbilligten und abends um sieben die Pferde ausspannen ließen. Vom Vorstadthaus des Onkels in Auteuil mußte er für die Abendeinladungen oft, Krawatte und Frackschöße unter dem Mantel notdürftig verbergend, den Omnibus in die Stadt nehmen und sich mit einer im Garten abgeschnittenen Rose als Knopflochblume begnügen. Dieser geradezu ritualisierte Status materieller Unselbständigkeit prägte das gesamte Wirkungsfeld des schon schriftstellernden, reichlich lesenden und Ruskin übersetzenden dreißigjährigen Bürgersohns. In der elterlichen Wohnung hatte er kein eigenes Arbeitszimmer, schrieb bald im Eßzimmer, bald im Rauchzimmer, meistens aber im Bett und war so jahrelang noch den Launen der Eltern ausgesetzt - ein Krankheitsmuster, das in seiner "häuslichen Ohnmacht", wie Hayman anmerkt, dem Kafkas nahekam.

Es spiegelt aber auch die später als Motiv über die ganze "Recherche" sich ausbreitende Frustration, durch die Nichtzugehörigkeit zum Adel den Müßiggang nicht als selbstverständlich erleben zu können, ihn gleichsam kunstschöpferisch erarbeiten zu müssen. Prousts Faszination für den Adel geht Hayman zufolge sogar so weit, daß der Umgang mit Fürsten und Herzögen ihm helfen sollte, sein eigenes Halbjudentum abzustreifen und damit den gesellschaftlichen Erfolg des brillianten Literaturjournalisten Charles Haas - Vorbild für die Romanfigur Swann - zu wiederholen. Mochte der Schriftsteller auch die frühe Sensibilisierung für Theater, Musik und Literatur ausschließlich der Kunstliebe seiner jüdischen Mutter und Großmutter verdanken, so empfand er laut Hayman keinerlei besonderen Stolz auf diese Herkunft. Wohl war er während der Dreyfus-Affäre unmißverständlich für die Rehabilitierung des jüdischen Hauptmanns und saß beim dreiwöchigen Prozeß gegen Zola täglich im Gerichtssaal. Das Judentum kommt aber weder in den Romanen noch in den Briefen als Thema vor, und der Biograph Hayman läßt sich zu Mutmaßungen verleiten über die Anziehungskraft blondhaariger junger Adeliger für den dunkelhäutigen, eher orientalisch aussehenden Proust: ein Motiv, das sich in der "Recherche" in der Figur des blonden, hellhäutigen Marquis Robert de Saint-Loup niedergeschlagen haben soll. Solche beiläufig eingestreuten und auch nicht weiter ausgeführten Hypothesen gehören zu den entbehrlichsten Stellen dieser Biographie. Dies um so mehr, als sie sich manchmal mit Banalität kreuzen wie in jener Spekulation über die Autofahrt: Wäre das Automobil zu Prousts Zeiten eine Selbstverständlichkeit gewesen, schreibt Hayman, hätten die Kirchtürme, Belfriede und alten Gärten zwischen Méséglise und Guermantes sich womöglich nie zu einem neuen Bewußtseinsraum aus schneller Bewegungszeit geordnet.

Am gelungensten bleibt diese Biographie dort, wo sie Prousts OEuvre weiträumig aus dem Kontext hebt, wie man einen Schatz aus trübem Wasser hebt. Wenn in den informativen Einschüben der Wohnungskomfort und der Straßenverkehr im Paris der frühen Dritten Republik, die Zusammensetzung der Armee zur Zeit der Dreyfus-Affäre oder die Pariser Salonwelt der Jahrhundertwende dargestellt wird, so erklärt das literarisch zwar nichts, trifft aber das biographisch gesteckte Ziel. Und die langsame Mutation vom hypochondrisch kränkelnden Salongänger zum bettlägrigen Langstreckenläufer des Schreibstifts, der ab 1917 in trotzigem Selbstvertrauen die Worte "Krankheit", "Sterben" und "Tod" praktisch gleichsetzt, läßt hinter der scheinbaren Willensschwäche überzeugend die phänomenale Schaffenskraft aufscheinen. Die Perspektive bleibt dabei konsequent die des Lebensbegleiters, nicht des Werkdeuters, und diskret zeigt die Biographie in den letzten Kapiteln durch die Zitate ihren hypothetischen Standort an: den an der Seite von Prousts langjähriger Hausangestellten Céleste Albaret, die später so viele Alltagsdetails zu erzählen wußte. Dank der Titanenarbeit des Übersetzers geht nicht nur der Übergang zwischen englischer Vorlage und noch unübersetzten französischen Originalbriefen reibungslos vonstatten, sondern wurde auch der bibliographische Anhang und manche Quellenangabe im Text aktualisiert. Die Biographie wird damit zugleich zum lesefreundlichen Nachschlagewerk für Proust-Liebhaber und solche, die es werden wollen.

Ronald Hayman: "Marcel Proust - Die Geschichte seines Lebens". Aus dem Englischen übersetzt von Max Looser. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2000. 840 S., geb. 78,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Joseph Hanimann hat einiges auszusetzen an dieser Biografie, obwohl er schon im Vorfeld eingeräumt hat, dass neue Erkenntnisse nach der "unüberschaubar gewordenen Proust-Forschung" sowieso nicht zu erwarten gewesen seien. Auch liege die englische Erstpublikation zehn Jahre zurück und sei bereits von zwei neueren biografischen Arbeiten überrundet worden. Dennoch bietet das Buch nach Rezensentenmeinung "Ein- und Umstiegsmöglichkeiten für Proust-Leser unterschiedlichen Kompetenzgrades". Sein bibliografischer Anhang und Quellenangaben im Text mache es sogar zum "lesefreundlichen Nachschlagewerk für Proust-Liebhaber", was auch der "Titanenarbeit" des Übersetzers geschuldet sei. Aber Hanimann hat auch manch haarsträubendes Detail aus dem Buch zu bieten, zum Beispiel, dass der "dunkelhäutige, eher orientalisch aussehende Proust", dessen Mutter Jüdin war, von blonden, hellhäutigen Adeligen besonders angezogen wurde. Und dass der Umgang mit Fürsten und Herzögen ihm hätte helfen sollen, sein eigenes "Halbjudentum" abzustreifen. Da scheint doch ein bisschen viel veraltete Rassentheorie ins Hirn des englischen Biografen gesickert zu sein.

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