Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 5,00 €
  • Gebundenes Buch

1 Kundenbewertung

1998 erschien eine kurze Meldung in verschiedenen deutschen Tageszeitungen: 'Jeder zweite Mord bleibt unentdeckt'. Für Sabine Rückert war sie Anlass, sich auf Recherche zu begeben, und die führte sie in die Leichenkeller der Republik und in die Abgründe der staatlichen Todesermittlung.

Produktbeschreibung
1998 erschien eine kurze Meldung in verschiedenen deutschen Tageszeitungen: 'Jeder zweite Mord bleibt unentdeckt'. Für Sabine Rückert war sie Anlass, sich auf Recherche zu begeben, und die führte sie in die Leichenkeller der Republik und in die Abgründe der staatlichen Todesermittlung.
Autorenporträt
Rückert, Sabine§Sabine Rückert ist Gerichts- und Kriminalreporterin der "Zeit". Im Jahr 2000 erschien bei Hoffmann und Campe ihr aufsehenerregendes - und inzwischen verfilmtes - Sachbuch "Tote haben keine Lobby. Die Dunkelziffer der vertuschten Morde".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Genug des Mordens, sage ich
Sabine Rückert wagt sich in den dunklen Gang der Kriminalstatistik / Von Milos Vec

Vor einigen Jahren provozierte der Rechtshistoriker Armin Wolf seine mediävistischen Kollegen mit einem Indiz und einer These: Die Grabinsignie in der Marienkirche in Owen unter Teck zeigt einen Adlerkopf mit einer Krone, und die These war, daß sich hinter dem Symbol ein bisher unbekannter ermordeter deutscher König verberge. Nach Wolfs Ansicht wurde der hier beerdigte Konrad von Teck in der Nacht zum 2. Mai 1292 ermordet, nachdem er tagsüber zum König gewählt worden war. Die Rezensenten fragten kritisch, wie und ob denn ein derart schweres Verbrechen so lange verborgen bleiben konnte. Dabei mag sie intuitiv auch die moderne Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts geleitet haben, die uns bei Tötungsdelikten eine besänftigende Aufklärungsrate von fünfundneunzig Prozent einflüstert. In ihrem spannenden Buch schreckt uns Sabine Rückert damit auf, daß jährlich mindestens einige hundert Tötungsdelikte unentdeckt bleiben.

Dunkelfelder und Dunkelziffern gibt es bei allen Straftatbeständen. Was dem Laien bei zunehmender Schwere der Tat bloß alarmierend erscheint, hat für den Wissenschaftler seinen heuristischen Reiz. Wenn man Dunkelfelder erforscht, erfährt man einiges über die Funktionsweise der betreffenden Gesellschaft und den zugehörigen Staat. Sabine Rückert hat das aufklärerische Potential, das in ihrer Frage steckt, zielstrebig, aber auch einseitig ausgeschöpft. Am Ende ist der Leser reich an Erkenntnissen über strukturelle Defizite im Zusammenspiel zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft, Ärzten, Bestattungsunternehmern und anderen Institutionen. Die Mißstände, die sie benennt, sind skandalös. Nur das permanente Versagen des Apparates hat Täter unbehelligt gelassen, auf die man mit wenig Aufwand hätte aufmerksam werden müssen.

Besonders sichtbar werden die strukturellen Lücken bei den von Sabine Rückert nacherzählten Mordserien, weniger bei den Einzel- und Affekttaten. Selbst dreiste Muster der Tatbegehung ließen über Jahre und oft Jahrzehnte niemanden stutzig werden, und wenn doch, wurden die Zweifel in fragwürdiger Weise abgetötet. Als die selbständige Altenpflegerin Marianne N. im Mai 1991 festgenommen wurde, brachten die Ermittlungen der Kriminalpolizei nach und nach den Verdacht auf siebzehn vollbrachte und achtzehn versuchte Tötungen zutage. Das Muster war einfach: Die Pflegerin erschlich sich das Vertrauen ihrer betagten Opfer, isolierte sie von ihrer Umwelt und ermordete sie schließlich mit Truxal, einem lähmend wirkendem Gift.

Obwohl den Angehörigen der Tod der älteren Damen und Herren oft seltsam vorkam, obwohl bei den Verstorbenen Wertsachen fehlten und die Bankkonten abgeräumt waren und obwohl die erheblich vorbestrafte Marianne N. immer in der Nähe war, ermittelte die Polizei nicht. Dabei machte die Altenpflegerin grobe Fehler. Sie bahrte ihr angeblich friedlich eingeschlafenes Opfer Eduard Kirch auf der Couch seiner verstorbenen Frau auf, die der Witwer zu Lebzeiten eisern gemieden hatte. Der Schwiegertochter fiel das auf. In einem anderen Fall schob sie einer Abstinenzlerin eine geleerte Flasche Rum unter, was die Nachbarin beim besten Willen nicht akzeptieren konnte. Es waren mitnichten perfekte Morde.

Doch die eingeschalteten Beamten erklärten den alarmierten Verwandten, es sei sinnlos, Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. Meist kam es jedoch noch nicht einmal so weit. Die Ärzte bescheinigten "natürlichen Tod" und die Sache war vom Tisch. Es gab keine Obduktion. Auch nicht im Fall der Mörderin Maria V., die ihre fünf Partner nacheinander mit stark gezuckertem, dunkelblauem Waldbeerenkompott (plus E 605) vergiftete. Es ist Rückerts dramaturgische Leistung, die Fälle mit eigenen Analysen zu einem fesselnden Panorama des Verbrechens zu montieren. Daß die Miniaturen manchmal etwas reißerisch sind (die heutige "Zeit"-Journalistin hat bei der "Bild-Zeitung" zu schreiben begonnen), fügt ihrem rechtspolitischen Anliegen keinen Schaden zu. Auch die aus "Aktenzeichen XY" bekannte Metaphysik des Unheils ("Wer konnte damals ahnen, daß sie sich mit dem fremden Kind den Tod ins Haus holten?" oder "Diese Dummheiten wird sie später mit dem Leben bezahlen") darf man schmunzelnd überlesen.

Die nacherzählten Fälle verdeutlichen, daß die Entstehung von Dunkelziffern bei Tötungsdelikten einem bestimmten Muster folgt. Sterben ältere Menschen, Säuglinge, Drogenabhängige oder Krankenhauspatienten, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß man ihnen automatisch einen natürlichen Tod attestiert. Sabine Rückert berichtet von Großstädten, in denen jahrelang kein einziger "Drogentoter" obduziert wurde. Bei Säuglingen nimmt man ebenso leichtfertig den "plötzlichen Kindstod" an, ohne nach anderen Indizien Ausschau zu halten. In München lag die Mordrate an Kindern jahrelang sehr niedrig: Alle zehn Jahre wurde der Statistik nach ein Kleinkind zu Tode mißhandelt. Jedenfalls zwischen 1911 und 1975. Als man die Obduktionshäufigkeit bei Kinderleichen deutlich erhöhte, konnte man alle drei Monate ein Verbrechen aufdecken.

Neben dem Mißstand viel zu geringer Obduktionsraten in Deutschland identifiziert das Buch weitere Schwachstellen bei der Erkennung von Tötungsdelikten: Wie soll man etwa fatale Behandlungsfehler des Arztes noch ermitteln können, wenn dieser selbst später den Totenschein ausstellen darf? Wie sollen an den Tatort gerufene Ärzte einen unnatürlichen Tod feststellen können, wenn sie oft die Leiche nicht einmal anfassen, geschweige denn entkleiden? Der nur durch Zufall an den Tag gekommene Fall einer Leiche mit elf Messerstichen im Leib, bei der ein "natürlicher" Tod attestiert wurde, mag ein besonders drastisches, aber keineswegs abwegiges Beispiel sein. Und erst recht mag man sich fragen, wie Hausärzte, die dafür nicht geschult sind, Giftmorde oder Tötungen durch inszeniertes Ertrinken in der Badewanne erkennen sollen? Der Leser ahnt schnell, daß im Dichterwort doch viel Wahrheit steckt: "Ja Bürger, lach nur getrost / und bleib in deinem Bette - / ich morde derweil frisch und froh / mit andern um die Wette."

Sabine Rückert hat bei ihren kritischen Analysen einen scharfen Blick auf die sozialen Beziehungen der Amtsträger untereinander. Kennen die Polizisten die Gerichtsmediziner nicht persönlich, weil das Institut zu weit entfernt liegt, scheuen sie sich, eine Obduktion einzuleiten. Kennt der Arzt andererseits die Angehörigen des Verstorbenen oder sind sie und die Nachbarschaft gar geschätzte Patienten, wird er sehr ungern "ungeklärte Todesursache" ankreuzen. In der Anonymität der Großstadt fällt ihm das schon leichter. Die Polizei wiederum übt bisweilen Druck auf die Ärzte aus, damit sie selbst keine Ermittlungen einleiten muß. Es braucht schon sehr viel Rückgrat, um trotz Anschreien, Belehrungen und zur Schau gestellter Verachtung des "Herrn Doktor" durch manche ermittlungsfaule Beamte darauf zu beharren, daß nicht klar ist, woran der Tote gestorben ist.

Nimmt man seriöse Untersuchungen zum Maßstab, dann ist bei Tötungsdelikten eine Dunkelziffer von fünfzig Prozent anzunehmen, oder anders gesagt: Jedes Jahr bleiben 1400 Tötungen unerkannt. Der Titel des Buches führt allerdings in die Irre. Denn ein aktives "Vertuschen" liegt in der Regel gerade nicht vor. Die unheimliche Brisanz liegt gerade in der Struktur des Apparates, die wenig geeignet ist, Tötungen überhaupt zu erkennen. Zu weit geht Rückert auch, wenn sie von einem "System des Nichtwissenwollens" spricht und dem Staat gerne ein Interesse hieran unterschieben würde. Es ist in Wahrheit viel banaler: Die Netze zum Herausfischen der Tötungsdelikte aus dem Meer der Todesfälle sind zu grobmaschig.

Weil Rückert eine heimliche Schülerin Max Webers ist, setzt sie zur Behebung der Mißstände auf den rationalen Anstaltsstaat. Sie will bloß neue Institutionen und neue Verfahren zur Aufdeckung und Verfolgung einführen. Das Verbotene bleibt verboten, aber es fehlt an der Umsetzung des Rechts. Man muß die Normen der Strafprozeßordnung in die Wirklichkeit transferieren. Wo brisante Interessenkonflikte entstehen können, muß man sie obrigkeitlich durch Umverteilung und Umleitung entschärfen. Der Apparat soll Wissen akkumulieren und seinen Blick auf strukturelle Krisenherde bündeln können, etwa über hauptamtliche Amtsärzte und polizeiliche Dienststellen, die sich nur mit ungeklärten Todesfällen befassen. Rückerts rechtsvergleichende Ausführungen über die Verhältnisse in Finnland, Österreich, aber auch der DDR zeigen, wie man es anders machen kann.

Zugleich nährt die Autorin beim Leser den Zweifel daran, daß es dem Staat ernst um den Willen zur Aufklärung ist. Aus der Anhäufung von düsteren Fallgeschichten entsteht die unheimliche Suggestion, wonach der gegenwärtige Zustand des Nicht-Wissens seinen rationalen Kern haben könnte. Das ist bei allen Dunkelfeldstudien eine politische Schlüsselstelle: Das Nicht-Entdecktwerden des Täters kann auch darauf verweisen, daß die juristische Norm keine soziale Geltung besitzt. Niemand zeigt Taten an, und viele schauen weg.

Um diese Vermutung zu erhärten, bringt die Autorin eine berühmte Studie aus den sechziger Jahren in Ansatz. Heinrich Popitz' Schrift "Über die Präventivwirkung des Nichtwissens" erzählte seinerzeit glänzend von den sozialen Kosten einer flächendeckenden Aufklärung von Straftaten. Wenn alle begangenen Verbrechen ans Licht gelangten, wäre ein Zusammenleben nicht mehr möglich. Wir brauchen, so Popitz, das Dunkelfeld und die Fiktion der Aufdeckung. Doch Rückerts Empörungsjournalismus kehrt Popitz' Stoßrichtung um.

Denn Popitz vermittelte 1968 eine ganz zeittypische Gelassenheit und betonte die Vorteile geringer Verfolgungsintensität. Hier bahnten sich die strafrechtskritischen und abolitionistischen siebziger Jahre an. Bei Rückert hingegen mündet die Analyse der Kluft zwischen Normtext und Normdurchsetzung in Forderungen nach mehr Strafverfolgung und mehr Staat. Mit einem staatsanwaltlichen Verfolgerblick sieht sie die Rettung des bedrohten Rechtsstaates im Aus- und Umbau des Apparats. Diese Schlußfolgerung liegt nicht nur an Rückerts schwerkriminellem Referenzgebiet, sondern ist in dem selbstbewußt-ängstlichen Ruf nach mehr "innerer Sicherheit" ganz zeittypisch.

Deswegen ersetzt die Autorin den leicht ironisierenden Ton von Popitz durch demonstrative Empörung. Popitz' provokative Frage, ob wir denn tatsächlich das Wissen um sämtliche begangene Straftaten ertragen könnten, nimmt sie für bare Münze. Der scharfe Blick von Popitz auf unsere Gesellschaft ist bei ihr der blinde Fleck. Kaum je thematisiert sie das beredte Schweigen der Zeugen und Mitwisser der Morde, nicht ein einziges Mal kritisiert sie jene, die nicht zur Polizei oder Staatsanwaltschaft gehen. Diese Staatszentriertheit macht ihre durchdachte Skandalisierung etwas eindimensional und versperrt den Blick für andere Möglichkeiten der Abhilfe und Erklärungsmuster der Nichtanzeige. Warum das Schweigen der Bürger auch eine Schlüsselstelle ist, sieht man übrigens bereits schon beim Mord an Konrad von Teck 1292. Denn nicht nur die Täter hatten kein Interesse, die Tat publik zu machen, auch die Partei des Opfers beschwieg das Verbrechen. Sie brauchte die Täter bei der nächsten Königswahl einfach wieder.

Sabine Rückert: "Tote haben keine Lobby". Die Dunkelziffer der vertuschten Morde. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2000. 303 S., geb., 39,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
Unfassbar und erschreckend
Erschütternd liest sich die Recherche von Sabine Rückert.
Erschüttert ist der Leser vor allem darüber, wie einfach es in Zeiten der Genforschung und modernen Forensik ist, einen Mord zu vertuschen.
Erschreckend ist auch, wie leicht es sich die Behörden machen und aus welchen fadenscheinigen Gründen notwendige Obduktionen nicht durchgeführt werden.
Nach der Lektüre dieses Buches gerät man in Versuchung, jeden Todesfall in der Nachbarschaft nach eventuellen Ungereimtheiten zu durchleuchten.
Hervorragendes Sachbuch, das nachdenklich macht
Auch wenn sich die Fallbeispiele in ihrer Art zum Ende das Buches zu wiederholen scheinen, liegt hier ein ungemein interessantes und fassungslos machendes Buch vor, das den Leser sehr nachdenklich zurücklässt.
Für Liebhaber der Forensik und guter Sachbücher eine durchaus empfehlenswerte Lektüre.
(Petra Voss, www.krimi-forum.de)

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In einer sehr spannend zu lesenden Rezension zeigt sich Rolf-Bernhard Essig geradezu hingerissen von diesem Band, der für ihn "ohne Zweifel zu den besten politischen Sachbüchern der letzten Zeit" gehört. Ihm gefällt nicht nur die präzise Recherche der Autorin, ihr Eintreten für die Würde der Toten sowie ihre eigenen Verbesserungsvorschläge, um den Missständen bei der Todesermittlung abzuhelfen. Besonders aufschlussreich und geradezu schockierend findet er die Fakten, die Rückert zusammengetragen hat. So erfährt der Leser beispielsweise, dass von 350 von Gerichtsmedizinern untersuchten "natürlichen" Todesfällen sage und schreibe 97 ganz und gar nicht natürlich waren. Besonders lobenswert findet Essig, dass die Autorin sehr klar und deutlich aufzeigt, dass diese Fehlerquote keineswegs Zufall ist, sondern Methode dahinter steckt. Denn Obduktionen sind teuer und mit viel Arbeitsaufwand verbunden, vor dem selbst die Staatsanwälte bisweilen zurückschrecken. Und so scheint Essigs Verdacht, dass ein Volk wie die Finnen, das statistisch gesehen wesentlich mehr Morde zu verzeichnen habt, möglicherweise keineswegs krimineller ist, sondern lediglich eine "wesentlich höhere Obduktionsquote" vorweisen kann. Rückerts Untersuchungen und Fallstudien, von denen er mehrere aufzählt, können einen "das Gruseln lehren", so der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr