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"Der Ehrliche ist der Dumme" stellte Ulrich Wickert 1994 fest und traf damit den Nerv der Nation. Sieben Jahre später knüpft er nun an die Thesen seines Bestsellers an und stellt die Grundsatzfrage: Wann haben Werte in unserer heutigen Gesellschaft einen Wert?

Produktbeschreibung
"Der Ehrliche ist der Dumme" stellte Ulrich Wickert 1994 fest und traf damit den Nerv der Nation. Sieben Jahre später knüpft er nun an die Thesen seines Bestsellers an und stellt die Grundsatzfrage: Wann haben Werte in unserer heutigen Gesellschaft einen Wert?
Autorenporträt
Ulrich Wickert, geboren 1942 in Tokio, studierte in Deutschland Jura und in den USA Politische Wissenschaften. Von 1977 bis 1991 war er ARD-Korrespondent in Washington, New York und Paris, von 1991 bis 2006 moderierte er die "Tagesthemen". 2005 wurde Wickert in Frankreich zum "Offizier der Ehrenlegion" und 2006 zum Sekretär der Académie de Berlin ernannt. Er lebt in Hamburg und Südfrankreich, wo er neben Kriminalromanen auch politische Sachbücher schreibt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2001

Benehmt euch, Leute!
Ulrich Wickert vermißt schlicht und einfach die guten Manieren

In geschäftigem, die Sorge auf keiner Seite verhehlendem Plauderton erzählt Ulrich Wickert von den moralischen Katastrophen der Bundesrepublik. Sein neues Buch "Zeit zu handeln. Den Werten einen Wert geben" bescheinigt unserer Gesellschaft eine tiefe Wertekrise. Dank langer Jahre im Ausland vergleicht Wickert die ethische Lage der Nation mit der öffentlichen Moral anderer westlicher Gesellschaften. Die Bundesrepublik schneidet schlecht ab. Deutsche Eltern erziehen nicht mehr, unsere Schulen verrotten, die Politiker betreiben bloß die Machtspielereien zur Wiederwahl, und viele Zeitgenossen wollen im Wohlfahrtsstaat nur absahnen. Der Jugend fehlen Leitbilder, die Kirchen versagen bei der Wertebildung, soziales Engagement läßt nach. Ehrenamtlich dem Gemeinwohl Dienende müssen sich von narzißtischen Hedonisten gar als altmodisch, dumm verhöhnen lassen. Wickert spricht alle Themen klassischer Kulturkritik an. Die Revolution der Begierden habe alte Werte wie Pflichtbewußtsein, Dienstbereitschaft und Autorität zerstört, ohne neue Verbindlichkeiten zu begründen. Der dramatische Verfall des Gemeinsinns müsse endlich gestoppt werden. Wickert ruft auf zur Umkehr und will neue Bürgertugenden lehren.

Mit welchen sprachlichen Mitteln wird die Krise diagnostiziert? Lauschen wir einmal rein ins Buch: "Die Verwirrung nimmt überall zu." Wo man hinhört, es herrscht eine "Banalisierung des öffentlichen Gesprächs". Das ist um so schlimmer, weil sich ein bestimmtes Gesetz der Lebenserfahrung einfach nicht verleugnen läßt: "Widersprüche, die man nicht so einfach klären kann, nehmen zu." Und mit anzusehen, worin die Eskalation der Widersprüche schließlich mündet, ist auch nicht eben ermutigend: "Eine unterschätzte Gefahr für die deutsche Gesellschaft liegt in der Art und Weise, wie grob die Menschen miteinander umgehen." Es ist also weniger die Strategie des Alarmismus, die Wickert fährt, um den Werten wieder einen Wert zu geben. Vielmehr geht es ihm um das geduldige, ja monotone Absingen des Allgemeinplatzes, daß aus einem kleinen Sittenverfall am Anfang ein großer am Ende werden kann - jedenfalls dann, wenn man sich nicht hinreichend klar macht, daß es eher heute als morgen, eher jetzt als gleich eine allerhöchste "Zeit zu handeln" gibt.

Wickerts Themenspektrum ist weit gespannt. In zehn Kapiteln beschreibt er die Gentechnologie, die Unterhaltungsindustrie, die politische Moral, das Bildungssystem, den Rechtsradikalismus, Durkheims Anomie-Konzept und die Suche der Deutschen nach nationaler Identität. Wickert kommentiert die Krise der alten Volksparteien, kritisiert die Lufthansa-Piloten, die die Gesellschaft erpressen, und nimmt uns mit auf den verrückten Hürdenlauf durch zahllose Behörden, den ein Deutscher und eine Französin vor ihrer standesamtlichen Trauung absolvieren müssen. Auch erzählt er von Schülerinnen in Designer-Klamotten und Jungen mit Gel in den Haaren. Wirtschaftskriminalität, Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit und Sozialmißbrauch führt er auf die hemmunglose Habgier zurück, die die Mehrheit der Deutschen ergriffen habe. In scharfen Formulierungen geißelt er den Größenwahn deutscher Manager, die im Globalisierungsfieber weltweit Firmen aufkaufen und einst gesunde Unternehmen in die Krise treiben. Der Daimler-Chrysler-Deal habe nur einem Zweck gedient: Die Herren aus der Stuttgarter Chefetage wollten mit nordamerikanischen Managern gleichziehen und ihre Gehälter verdoppeln. Auch das Verhalten der großen Geldinstitute, die dubiose Unternehmen der New Economy wider alle ökonomische Vernunft viel zu schnell an die Börse brachten, führt Wickert auf den blanken Egoismus von Bankern zurück, die Kleinanlegern das Geld aus der Tasche ziehen, um anschließend über peanuts zu schwadronieren.

Wickert verfügt über reiches Insiderwissen aus der deutschen Fernsehindustrie. Seine Urteile über die Privaten fallen vernichtend aus. Banal, obszön, dumm und widerlich sei ein Großteil des Unterhaltungsangebots, das die neuen Schreihälse ins Wohnzimmer liefern. Die soap operas lebten davon, die Schamgrenzen abzusenken und den letzten Rest an Privatheit zu zerstören. Mit den Printmedien geht Wickert ebenfalls hart ins Gericht. Auch hier habe der Konkurrenzkampf zum Infotainment geführt, das dem (eher langweiligen) Sexualleben des Boris Becker größeres gesellschaftliches Gewicht zuerkenne als dem Verfall unseres Bildungswesens.

Wer prominent ist, begegnet den Reichen und Mächtigen auch privat. Wickert erzählt vom sekundären Antisemitismus deutscher Wirtschaftsbosse, der Mediengeilheit vieler Politiker und dummer Intoleranz in Chefetagen. Wenn nur ein Drittel dieser Geschichten stimmt, muß man sich in der Tat Sorgen um die kulturelle Kompetenz deutscher Funktionseliten machen. Vielen Leuten fehlen schlicht die guten Manieren, teilt der Bildungsbürger aus einer Diplomatenfamilie uns mit. Damit macht er auch bei Nichtdiplomaten Punkte. Wer unter den Gebildeten des Landes teilt nicht die melancholische Wehmut, daß die Rücksichtslosen, Rohen, Barbarischen inzwischen den Ton angeben? Wer litte nicht unter unsinniger Bürokratie und etatistischer Überreglementierung vieler Lebensbereiche? Wen ekelt die Geldgier der vom New-Economy-Rausch Ergriffenen denn nicht an? Wickert will zugleich liberal und wertkonservativ, universalistisch und patriotisch, fortschrittsfreundlich und traditionsbewußt sein. So kämpft er für eine offene Gesellschaft der Toleranten.

Wir brauchen neue zivile Tugenden, lautet Wickerts zentrale Botschaft. Dazu zählen Höflichkeit, Besonnenheit, Gelassenheit, Klugheit und Gemeinsinn. Aber wie, um alles in der Welt, lassen sie sich ins Werk setzen? Wickert ergeht es wie vielen anderen Moralreformern der Moderne. Er ist laut in der Diagnose und leise in der Therapie. In einem sozialen Pflichtjahr sollen Mädchen und Jungen einen Sinn für die Gemeinschaft entdecken. Auch empfiehlt Wickert Schuluniformen, damit Jugendliche wieder Selbstbeherrschung und Mäßigung der Wünsche lernen. Ob das hilft?

Die Frage, ob es anderen hilft, was man schreibt, kann freilich nicht der einzige Maßstab sein, an dem ein Werk der Literatur zu messen ist. Letztlich schreibt man ja immer für sich selbst. So ist es, darf man annehmen, auch bei Wickert. "Es geht darum", so sagte er einmal zu den Hintergründen seines schriftstellerischen Elans, "daß ich neben meinem Beruf, der mir vieles vorschreibt, noch andere Sachen machen möchte. Ich vertiefe mich zum Beispiel gern in Themen." In diesem Sinne freut er sich stets auf den Urlaub: "Ich sitze dann da mit meinen Bleistiften, Karteikarten und Büchern und genieße das." Bleibt jetzt also nur noch die Frage, ob sich Wickert künftig nicht nur in seine Themen, sondern weiterhin auch in die Tagesthemen wird vertiefen können.

FRIEDRICH WILHELM GRAF.

Ulrich Wickert: "Zeit zu handeln". Den Werten einen Wert geben. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2001. 256 S., geb., 39,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Nicht so ganz ernst scheint der Rezensent Friedrich Wilhelm Graf das neue Buch des Tugendwächters Ulrich Wickert zu nehmen. In einem "Plauderton" würde der Autor Gemeinplatz nach Gemeinplatz abhandeln und damit das gesamte Repertoire der klassischen Kulturkritik abspulen, so liest man in der Rezension. Neue zivile Tugenden werden nach Meinung Wickerts in diesem Land gebraucht, denn der Bildungsbürger aus einer Diplomatenfamilie attestiert den Führungseliten einen eklatanten Mangel an guten Manieren. Doch leider, so befindet Graf, bleibt Wickert bei der Diagnose stehen und bietet kaum Aussichten für eine mögliche Therapie der widrigen Umstände. Wickert streife Themen wie die Unterhaltungsindustrie, die politische Moral oder Gentechnologie und trete dabei stets für eine offene Gesellschaft der Toleranten ein. Graf scheint das dem ironischen Ton seiner Kritik nach allzu gut gemeint zu finden.

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