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Die Literaturgeschichte bietet massenweise Horrorgeschichten von Scheintoten, die im Grab erwachen, eingezwängt in einen dumpfen, kalten Sarg. Aber waren das nicht reine Fantasieprodukte? Keineswegs. Lebendig Begrabene bevölkern nicht nur die Schauermärchen vergangener Jahrhunderte, sondern auch zahllose Berichte in der medizinischen Fachpresse, in denen von grausigen Funden die Rede ist, von Leichen mit abgenagten Händen und Armen, von Skeletten, die in ihren Särgen in schrecklich verzerrten Stellungen vorgefunden wurden. Auch das Thema der ungewollten Wiedererweckung durch Grabräuber zieht…mehr

Produktbeschreibung
Die Literaturgeschichte bietet massenweise Horrorgeschichten von Scheintoten, die im Grab erwachen, eingezwängt in einen dumpfen, kalten Sarg. Aber waren das nicht reine Fantasieprodukte? Keineswegs. Lebendig Begrabene bevölkern nicht nur die Schauermärchen vergangener Jahrhunderte, sondern auch zahllose Berichte in der medizinischen Fachpresse, in denen von grausigen Funden die Rede ist, von Leichen mit abgenagten Händen und Armen, von Skeletten, die in ihren Särgen in schrecklich verzerrten Stellungen vorgefunden wurden. Auch das Thema der ungewollten Wiedererweckung durch Grabräuber zieht sich durch forensische Protokolle.
Noch im 19. Jahrhundert hieß es, jeder Zehnte werde bei lebendigem Leibe verscharrt. Kein Wunder, dass die Angst vor diesem Schicksal immens war und - besonders auch im deutschsprachigen Bereich - zu allerlei Vorkehrungen führte, um ihm zu entgehen. So wurden diverse Todestestmethoden entwickelt, 'Sicherheitssärge' mit Glockenzug und Luftschläuchen patentiert, Leichenhäuser gebaut, in denen die Aufgebahrten tagelang dem natürlichen Verfall überlassen wurden.
Autorenporträt
Jan Bondeson, Doktor der Medizin, lehrt als Professor am University of Wales College of Medicine. Er ist Autor zahlreicher Lehr- und populärwissenschaftlicher Bücher.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2002

Zur Sicherheit einen Picknickkorb mitgeben
Jan Bondeson weiß, daß die Angst, lebendig begraben zu werden, die Menschen nie losgelassen hat

"Ein Leichenhaus, ein Leichenhaus, ruft er aus vollem Halse aus. Wir wollen nicht auf bloßen Schein beseitigt und begraben sein!" Seit ihrer Jugend ängstigte die Dichterin Friederike Kempner (1836 bis 1904) die Vorstellung, daß viele Menschen lediglich scheintot sein könnten, wenn sie beerdigt werden. Mit der Befürchtung, eines Tages im Sarg aufzuwachen und unter der Erde auf gräßliche Weise zugrunde zu gehen, stand die "schlesische Nachtigall" keineswegs allein. Alte Schauermärchen von lebendig Begrabenen wurden von Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an zunehmend als Beschreibung realer sozialmedizinischer Mißstände aufgefaßt. Dies mobilisierte philanthropische Kräfte wie die "Leichenhausbewegung", in deren Dienst auch Frau Kempner ihre Feder stellte. Sie propagierte den Bau öffentlicher Aufbahrungshallen und eine mehrtägige Liegepflicht für alle Leichen, während deren sich der Erwachende einfach per Glockenzug bemerkbar machen konnte.

Welche historischen, soziologischen und theologischen Faktoren bedingten das Aufwallen dieser Angst? Waren die zahlreichen Experimente und Schriften zeitgenössischer Mediziner zu Scheintod und vorzeitigem Begräbnis Auslöser oder Folge dieser düsteren Kollektivobsession? Jan Bondeson interessiert in seinem Buch "Lebendig begraben" nicht die Dynamik der Diskurse hinter dem Phänomen, sondern die Frage, welches reale Risiko, im Grab zu erwachen, den Einschätzungen der Zeitgenossen gegenüberstand. Damit fehlt der Arbeit leider eine wichtige Dimension. Es gelingt dem Medizinprofessor aus Wales aber auf jeden Fall, unterhaltsam die Geschichte eines vergessenen "Schreckgespensts des Alltagslebens" aufzurollen, das zwischen 1750 und 1890 nacheinander in allen europäischen Kulturnationen den Kopf erhob.

Bondeson hat eine Vielzahl alter und neuerer "Fälle" lebender Leichen untersucht und festgestellt, daß nicht wenige lediglich Abwandlungen überlieferter Legenden sind. Auch für grausige Details wie "Totenseufzer" oder "Sarggeburt" werden verblüffende physiologische Erklärungen geliefert. Trotzdem betrachtet der Autor die Phobie einer vergangenen Epoche nicht mit der Arroganz des Aufgeklärten, sondern zeigt deren Wechselwirkung mit der modernen Angst auf, bewußtlos Ärzten und medizinischem Gerät ausgeliefert zu sein. Sicherheitssärge des neunzehnten Jahrhunderts mit Picknickkorb, Signalrakete oder Schleudersitz amüsieren uns, doch die Beschreibung folterähnlicher Methoden, die Ärzte früher unter allgemeiner Zustimmung zur Absicherung der Todesdiagnose anwandten, löst Beklemmung aus: Da wurden Stachelbürsten an empfindlichen Körperteilen gerieben, Zangen, Nadeln, Feuer oder Tabakklistiere eingesetzt. Man kann für die so traktierten Patienten nur hoffen, daß sie wirklich bereits tot waren.

Auch die Literaten nahmen sich des Themas an. Bondeson widmet ihnen ein eigenes Kapitel, das allerdings nur beschreibend-anekdotenhaften Charakter besitzt. Manche Dichter waren selbst Opfer der Angstepidemie: Der Däne Hans Christian Andersen plazierte auf Auslandsreisen angeblich Nacht für Nacht eine Karte mit der Aufschrift "Ich bin nur scheintot" gut sichtbar in seinem Hotelzimmer. Um dem lebendig Begrabenen als Motiv in der Literatur gerecht zu werden, müßte man unabhängig von biographischen Bezügen den ästhetischen Kontext seiner Verwendung bei Edgar Allan Poe und anderen Romantikern eingehend analysieren.

Wie groß war nun die Gefahr, im Sarg zu erwachen? Die Mediziner des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts waren darüber unterschiedlicher Ansicht. Die einen warteten mit schwindelerregenden "Forschungsergebnissen" auf, für die sie allerdings keine Belege boten. Jeder dritte Sarg beherberge auf dem Weg zum Friedhof einen Lebenden, erklärte ein preußischer Militärarzt, während ein schwedischer Mediziner immerhin von zehn Prozent sprach. Andere Kollegen flüchteten sich angesichts des Mißtrauens der Bevölkerung gegen ihren Berufsstand in Sarkasmus. 1849 schrieb der britische Arzt Robert Ferguson, vor allem in Frankreich seien die Frauen so panisch, daß "sie sich kaum mehr trauten, schlafen zu gehen, um nicht unter einer sechs Fuß dicken Erdschicht in einem Sarg aufzuwachen". Jan Bondeson gibt keine generelle Entwarnung: Obwohl alle sensationellen Geschichten von Wiederauferstehungen bestenfalls als unbelegt gelten können und in den "Totenherbergen" der Leichenhausbewegung nachweislich niemals Alarm ausgelöst wurde, sind ärztliche Irrtümer vor allem in Seuchen- oder Kriegszeiten sicher vorgekommen.

Heute ist es schon auf Grund der Bestattungspraktiken nahezu ausgeschlossen, daß der schlimmste Albtraum des Taphophobikers wahr wird. Wer jedoch ganz sicher gehen will, sollte nie in winterlichen Parks nach übermäßigem Drogen- oder Alkoholkonsum einschlafen. Entsprechende Schlagzeilen wie "Ein schlimmer Fehler" beziehen sich fast immer auf im letzten Moment gerettete Patienten, die mit kaum tastbarem Puls in der Notaufnahme landeten.

ANNETTE ZERPNER

Jan Bondeson: "Lebendig begraben". Geschichte einer Urangst. Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2002. 367 S., Abb., geb., 21,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Annette Zerpner hat mit Spannung diese Geschichte von der Angst, lebendig begraben zu werden, gelesen, und ihr Urteil fällt zwiespältig aus. Sie vermisst in der Beschreibung des Phänomens, das in sämtlichen Kulturnationen zwischen 1750 und 1890 umging, die Darstellung des Diskurses über den Scheintod, und sie findet, dass der Autor damit eine "wichtige Dimension" außer Acht gelassen hat. Andererseits hat der walisische Autor und Medizinhistoriker ihrer Meinung nach ohne "Arroganz des Aufklärers", dafür aber durchaus "unterhaltsam" über eine fast vergessene Angst geschrieben. Die Beschreibungen, wie die Ärzte der Zeit zu prüfen versuchten, ob jemand wirklich gestorben war, löst bei der Rezensentin "Beklemmungen" aus und lässt sie hoffen, dass die Patienten zu dem Zeitpunkt tatsächlich schon tot waren. Bedauerlich findet Zerpner, dass Bondeson, wenn er das Thema in der Literatur untersucht, lediglich "beschreibend-anekdotenhaft" vorgeht. Als literarisches Motiv hätte der Scheintod beziehungsweise die Angst davor bestimmt Interessantes zutage gefördert, so die Rezensentin etwas enttäuscht.

© Perlentaucher Medien GmbH