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In seinen neuen Gedichten betreibt Tom Schulz poetische Gedächtnisbildung. Er steigt hinab in die "Keller, wo die Geweihe hängen", steigt bis hinauf in die Kronen der Kirschbäume und setzt in jeder Schicht Erinnerungsmarken. Dabei beansprucht er das Phantomgedächtnis der Überlieferung, überblendet die eigene Erinnerung an die Kindheit in der DDR mit Szenen des brennenden Dresden und der Gegenwart der Pegida-Aufmärsche. Wohin uns diese Gedichte auch führen, nach Litauen, nach Mexiko oder zu den Kühen vorm Atomkraftwerk - Tom Schulz zeigt, dass das Stolpern, das Innehalten Bedingung ist für eine…mehr

Produktbeschreibung
In seinen neuen Gedichten betreibt Tom Schulz poetische Gedächtnisbildung. Er steigt hinab in die "Keller, wo die Geweihe hängen", steigt bis hinauf in die Kronen der Kirschbäume und setzt in jeder Schicht Erinnerungsmarken. Dabei beansprucht er das Phantomgedächtnis der Überlieferung, überblendet die eigene Erinnerung an die Kindheit in der DDR mit Szenen des brennenden Dresden und der Gegenwart der Pegida-Aufmärsche. Wohin uns diese Gedichte auch führen, nach Litauen, nach Mexiko oder zu den Kühen vorm Atomkraftwerk - Tom Schulz zeigt, dass das Stolpern, das Innehalten Bedingung ist für eine empathische Wahrnehmung der Welt, Bedingung für ihre Verbesserung.
Autorenporträt
Tom Schulz, geboren 1970 in der Oberlausitz, lebt als freier Autor, Herausgeber und Dozent für Kreatives Schreiben in Berlin. Für seine Gedichte erhielt er zahlreiche Preise und Stipendien, u. a. den Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur 2010, den Kunstpreis Literatur der Lotto-Stiftung Brandenburg 2013 und den Alfred-Gruber-Preis 2014. Zuletzt erschien bei Hanser Berlin sein Gedichtband "Die Verlegung der Stolpersteine" (2017).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2017

LITERATUR
Im Oden-Wald
In seinem neuen Gedichtband „Die Verlegung der Stolpersteine“
sucht Tom Schulz den allzu kurzen Weg zum Bedeutsamen
VON BURKHARD MÜLLER
Stolpersteine, jene in die Bürgersteige eingelassenen goldfarbenen Quadrate mit den Namen von verschleppten und ermordeten Juden, sind inzwischen gewohnte Bestandteile des Stadtbilds. Sie haben ihren Zweck erfüllt, ja in gewisser Weise haben sie ihn bereits hinter sich. Denn man stolpert nicht mehr über sie. Wenn ein Autor für seinen Gedichtband den Titel „Die Verlegung der Stolpersteine“ wählt, so zeichnet sich ab, dass er in der Art, wie er an das Alte erinnern will, wenig Neues zu bieten haben wird.
„Buchenweimar“ kann ein solches Gedicht dann zum Beispiel heißen. Es trägt dem bekannten Umstand Rechnung, dass Buchenwald und Weimar, Konzentrationslager und Klassik, eng beieinanderliegen. In „Menschenfabrik“ erfährt man: „Die Fremden sind Polen/ und Russen, Zigeuner. Wer weiß. Auch Frauen mit kahlen Köpfen. / Was geht es den Hund an? Am Sonntag singt man uns. Wir, mit den / Psalmen aus dem schwarzen Testament.“ Und das Ganze geschieht (so schließt das Gedicht): „Im Namen von IG Farben. Im Namen von Bayer Monowitz.“
Das Ärgerliche an solcher Poesie liegt in der Geste des einsamen, düsteren Rufers in der Wüste, wo doch alles, was er zu sagen hat, längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Tom Schulz ist in diesem Buch ein Prophet des Mainstreams. Er treibt mit der Geschichte etwas, das man vielleicht als Normalbewältigung bezeichnen könnte. Nicht „Ich“ sagt er, sondern „Wir“, ein diffuses Pronomen, das seine sämtlichen Mitbürger einerseits in Pflicht und Schuld nimmt, andererseits jedoch, weil es nirgends genauer wird, daraus auch wieder entlässt. Der Habitus nimmt starke Anleihen bei Paul Celan auf, dessen dunkle Chiffren sich bis heute einer verdächtigen Popularität erfreuen.
Für Celan blieb die Erfahrung der Shoa letztlich unsagbar; das passte gut in ein Nachkriegsdeutschland, das die Dinge im Einzelnen lieber ungesagt ließ. „Schwarze Sonne, das Gras / war aus Sand (…)“ beginnt der „Nullte Stolperstein“. Im „Vierten Stolperstein“ heißt es: „Wer schwärzte die Seiten / des Honigs, wer schlief im Schilf?“ Hier hat offenbar die schwarze Milch aus der „Todesfuge“ Pate gestanden. Was Celan, hart am Rand des Schweigens, so schwerfiel, das geht dem nachgeborenen Schulz glatt von der Hand. Ein Gedicht nennt er „Celan auf Esperanto“ und ahnt nicht einmal, wie recht er damit hat.
Die durchnummerierten, wenngleich etwas durcheinandergewürfelten Stolpersteine bilden den Kern des Bandes, um den sich allerlei anderes gruppiert. Seine Kindheit und Jugend in der DDR stimmt den Autor nostalgisch. In einem Langgedicht, das sehr des Zeilenbruchs bedarf, um als Gedicht erkennbar zu sein, gehen er, seine Großmutter und die beiden Cousinen „Rosenrot und Pechmarie“ auf Dresdens Prager Straße spazieren. Natürlich soll auch an die Zerstörung Dresdens 1945 gemahnt werden; aber das besorgt man am besten durch einen beiläufigen Zuruf: „Lieber Kurt Vonnegut, hier müssen Sie sprechen / vom Untergang“. Das hat Vonnegut, der als amerikanischer Kriegsgefangener Augenzeuge wurde, in seinem Roman „Slaughterhouse-Five“ ja auch ausführlich getan; so braucht es Schulz nicht mehr tun. Stattdessen erfolgt die Information: „Ich hatte mir den Schuh geschnürt / als sich ein Bändchen löste / mitten auf der Prager Straße“. Man denke! Mitten auf der Prager Straße! Es häufen sich die Belanglosigkeiten, die sich die Miene des Bedeutenden geben. Dass es sich beim Elbufer unterhalb von Hamburg um eine eher langweilige Urlaubsgegend handelt, dieses im Stofflichen begründete Problem wird die Dichtung nicht schon automatisch los, wenn acht Gedichte nacheinander anfangen: „Die Kühe kauen Gras“, kursiv, damit der Tiefsinn des Vorgangs dem Leser auch ja nicht entgehe.
Das lyrische Ich (oder besser das lyrische Wir, von dem Schulz einfach nicht lassen will), begibt sich auf Reisen, an die Memel zum Beispiel, litauisch Nemunas, nach Rhodos, wo man harzigen Wein in Flaschen kauft (aber nicht, ohne sich auf den Rätselmacher Heraklit zu beziehen), oder nach Kamtschatka, wo es ihm besonders die Bären angetan haben. „Was Bär in uns war, sagen wir nicht / kein Bär spricht mit uns“. Das machen die Bären zwar nie, aber kränkend ist es trotzdem, und so muss man sich selber helfen: „Dann sprichst du das Bärenwort aus: / Wir sind Ruder und Barke“, die letzte Zeile wieder kursiviert. Nichts geht über Bärenworte auf dem See. Wer das für einen schlechten Kalauer hält, sollte dabei sein, wenn Schulz den Dichter Klopstock in den „Oden-Wald“ begleitet. „Dass ich Klopstocks Hund war, ist nicht wahr.“ Hat ja auch keiner behauptet.
Klopstock, Vonnegut und Celan, diese Bezüge mögen noch angehen. Ein Kollege aber, der dem 1970 in Großröhrsdorf geborenen Tom Schulz gefährlich werden muss, weil er als sächsischer Landsmann und älterer Zeitgenosse weit näher an ihn heranrückt, ist Wolfgang Hilbig. „Jenseits von Edenkoben“ heißt der Zyklus, dem Schulz ihm widmet, weil Hilbig sich eine Zeit lang in diesem pfälzischen Ort aufgehalten hatte. (Übrigens bringt das Wortspiel nichts, weil Hilbig nicht jenseits von, sondern in Edenkoben war.) „Der Wingert war bereitet / für das Schweigen, müde Hände / gruben ihn um, den die Schwärze aufsog (…) was ihn beschrieb, waren Fruchtstempel // Genetische Finger von Ästen, tiefes Holz / er bog es zurecht (…)“.
Dieser grabende, holzbiegende Wurzelsepp soll Wolfgang Hilbig sein? Hilbig hat nie eine andere Schaufel angefasst als die Kohleschaufel des Heizers. Und seine Farbe war nicht, wie Schulz insistiert, das Schwarz, sondern das Braun der Braunkohle. Nicht gemütlich-symbolischer Dreck, sondern der toxische der alten Ost-Industrie. Schulz aber scheint der Ansicht zu sein, dass er mit seiner eigenen an der fremden Dichtung schon teilhat, wenn er bloß den Namen des Dichters aufruft, und dass Paul Celan oder Wolfgang Hilbig dann gehupft wie gesprungen sei.
Tom Schulz ist ein lehrreicher Fall. Er zeigt, wie leicht es bei der Lyrik ist, im Knappen den Anschein des Bedeutsamen zu erzeugen. Dass ein bestimmter Ton angeschlagen wird, dass die Zeile nicht bis an den rechten Rand geht und viel weißer Platz bleibt, soll reichen, damit sich glauben ließe, es stecke Tieferes dahinter: als ob einzelne aufgegabelte Wörter wie „Rotliegendes“ (ein Gestein) oder ein zufälliger Fund wie der, dass in Mexiko eine Endhaltestelle REVOLUCIÓN heißt, als solche schon poetischen Mehrwert schüfen; als ob Flaschenhälse bereits über sich hinauswüchsen, wenn man sie „Flaschen- / hälse“ schreibt. Gelehrte Anspielungen sollen den Wissenden erbauen und dem Unwissenden ein ehrwürdiges Rätsel bleiben: So buchstabiert Schulz „Blüthenstaub“ anstelle von Blütenstaub – aha, Novalis!
Bei all dem kann ein gutes Gedicht herauskommen, aber es muss nicht. Es ist keine zureichende, kaum eine notwendige Bedingung. Lyrik hat in der Literatur einen Ort wie in der bildenden Kunst das Aquarell. Natürlich gibt es ausgezeichnete Aquarelle. Aber vielfach genügt schon ein gewisser Schlenker aus dem Handgelenk, um nass in nass diesen Eindruck zu erwecken. Felix Krull war ein großer Aquarellist.
Manchmal steht Paul Celan Pate:
„Wer schwärzte die Seiten /
des Honigs, wer schlief im Schilf?“
Eine Endhaltestelle in
Mexiko heißt tatsächlich
„Revolución“ – na, und?
Tom Schulz: Die
Verlegung der
Stolpersteine.
Gedichte. Verlag Hanser Berlin, München 2017.
128 Seiten, 18 Euro.
Im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Sonnenfinsternis zum Symbol der totalitär verdunkelten Welt.
Foto: Mauritius images
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Burkhard Müller zerlegt Tom Schulz' neuen Gedichtband Stück für Stück in seine Einzelteile. Schon der Titel lässt ihn wenig Neues erwarten - und wenn Schulz in Gedichten wie "Buchenweimar" die Nähe von Konzentrationslager und Klassik hervorrufen will, ärgert sich der Kritiker vor allem über den Gestus eines Poeten, der sich wie ein einsamer "Rufer in der Wüste" gibt, um längst im Mainstream Verankertes zu verkünden. Auch Schulz' Spiel mit Verweisen auf Klopstock, Paul Celan oder Wolfgang Hilbig kann Müller nicht überzeugen: Kalauernde Erwähnungen fremder Dichtung reichen nicht, um daran teilzuhaben, schimpft er. Nicht zuletzt führt ihm Schulz geradezu beispielhaft vor, dass Verknappungen, Ellipsen und Anspielungen nicht per se Bedeutsamkeit erzeugen.

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