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Der Plan schien perfekt: Präsident Sarkozy wollte seine südlichen Nachbarn für eine Mittelmeerunion gewinnen, um ein Gegengewicht zur deutschen Dominanz in Europa zu etablieren. Angela Merkel wusste das zu verhindern. Für Wolf Lepenies ist dies keine zeitgeschichtliche Fußnote. Der französische Traum von der Macht am Mittelmeer führt in die unbewussten Regionen der europäischen Geschichte. Die Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich greift Ideen und Stereotypen auf, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen und heute wieder politischen Diskussionsstoff liefern. Man muss sie kennen, wenn…mehr

Produktbeschreibung
Der Plan schien perfekt: Präsident Sarkozy wollte seine südlichen Nachbarn für eine Mittelmeerunion gewinnen, um ein Gegengewicht zur deutschen Dominanz in Europa zu etablieren. Angela Merkel wusste das zu verhindern. Für Wolf Lepenies ist dies keine zeitgeschichtliche Fußnote. Der französische Traum von der Macht am Mittelmeer führt in die unbewussten Regionen der europäischen Geschichte. Die Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich greift Ideen und Stereotypen auf, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen und heute wieder politischen Diskussionsstoff liefern. Man muss sie kennen, wenn man verstehen will, wie sich in Europa Koalitionen und Frontlinien bilden.
Autorenporträt
Wolf Lepenies, geboren 1941, Soziologe und Historiker, von 1986 bis 2001 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin, war mehrere Jahre Mitglied des Institute for Advanced Study in Princeton (USA) und 1991/92 Inhaber der Chaire Européenne am Collège de France (Paris). Lepenies ist Ehrendoktor der Sorbonne und der Universität Bukarest und Offizier der Französischen Ehrenlegion. Er erhielt u.a. den Alexander-von-Humboldt-Preis, den Karl-Vossler-Preis, den Breitbach-Preis und den Theodor-Heuss-Preis. 2006 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2016 den Kythera-Preis.Zuletzt erschienen im Carl Hanser Verlag: Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne (1997), Kultur und Politik. Deutsche Geschichten (2006), Auguste Comte. Die Macht der Zeichen (2010) und Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa (2016).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2016

Gegen Berlin helfen nur die Lateiner

Träume einer kleinen Grande Nation: Wolf Lepenies sondiert französische Ideen von einem Europa, in dem Paris wieder zu politischer Größe käme.

Von Günther Nonnenmacher

Im März 2013, als die Verstimmung über die Austeritätspolitik, die Deutschland den hochverschuldeten südlichen Eurostaaten angeblich aufzwang, einen Höhepunkt erreichte (in Wirklichkeit handelte es sich um den Versuch einer Wiederannäherung an die Stabilitätskriterien, die für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion 1990 vertraglich vereinbart worden waren), veröffentlichte der italienische Philosoph Giorgio Agamben in der Tageszeitung "La Repubblica" einen Aufsatz mit dem Titel "Wenn ein lateinisches Imperium im Herzen Europas Gestalt annehmen würde".

Agamben griff dabei auf einen Entwurf zurück, den der französische Philosoph und spätere Beamte im Wirtschaftsministerium Alexandre Kojève, der vor allem als Hegel-Interpret durch die europäische Geistesgeschichte spukt, in Umlauf gebracht hatte. Das war eine Art Morgenthau-Plan à la française, von dem nicht klar ist, ob er je den Weg in politische Entscheidungsgremien gefunden hat. Zumal er, wie der Soziologe und Historiker Wolf Lepenies, langjähriger Rektor des Wissenschaftskollegs in Berlin, nach einem ausführlichen Referat des Inhalts schreibt, voller weltpolitischer Spekulationen und Illusionen steckte.

Agambens Aufruf, ein südliches Gegengewicht zum Norden Europas, insbesondere zu Deutschland, aufzubauen, wurde von der französischen Zeitung "Libération" unter dem Titel "Das Imperium möge zurückschlagen!" veröffentlicht. Das war ein knappes Jahr nach dem Amtsantritt François Hollandes, der im Wahlkampf versprochen hatte, er werde den von seinem Vorgänger Sarkozy unterschriebenen europäischen Stabilitätspakt neu verhandeln, um eine Aufweichung von "Frau Merkels Sparpolitik" zu erreichen. Das deutsch-französische Verhältnis geriet in eine schwere Krise, zumal die Sozialistische Partei, die sich anders als ihr Präsident von diplomatischen Zwängen unbehindert fühlte, unverhohlen mit einer Kraftprobe im Verhältnis zu Deutschland drohte.

Dieser Konflikt ist heute entschärft, auch wenn der Dissens weiter schwelt. Hollande hat wie alle seine Vorgänger bald verstanden, dass Frankreich Europa-Politik nicht gegen, sondern mit Deutschland machen muss, nicht zuletzt deshalb, weil eine "Koalition des Südens" gegen den "Norden" brüchig und schwach wäre.

"Die Macht am Mittelmeer" beginnt mit dieser Episode als einer von vielen Illustrationen der "französischen Träume von einem anderen Europa", wie sein Untertitel lautet, der das Thema besser umreißt. Zu diesen Träumen gehörte auch die "Mittelmeerunion", die Hollandes Vorgänger Sarkozy 2007 gründen wollte, um die Übermacht zu kontern, die sich aus seiner Sicht nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Ost-Erweiterung der EU zu Ungunsten des Südens herausgebildet hatte.

Weil das nicht viel mehr war als eine vage Idee, die ohne diplomatische Vorbereitung oder politische Absprachen mit den Partnern im Süden oder den anderen EU-Mitgliedern lanciert wurde, scheiterte Sarkozys Plan nicht nur am Veto Angela Merkels (die damit nicht alleine stand), sondern wäre schon wegen seiner inneren Widersprüche nicht zu verwirklichen gewesen. Es sollten nämlich nicht nur die arabischen Staaten (von denen einige in dieser Union eine Form von Neo-Kolonialismus witterten) einbezogen werden, sondern auch Israel. Da der israelische-palästinensische Friedensprozess kurz danach zusammenbrach, wären weitere Verhandlungen blockiert worden; und spätestens mit dem "Arabischen Frühling" wurden die Karten im Nahen Osten ohnehin neu gemischt.

Lepenies zeigt, dass und warum auch andere, ältere französische Träume vom Mittelmeer nicht viel mehr als Schimären waren, Kopfgeburten, die nicht einmal die Chance hatten, politische Konzepte zu werden. Dazu gehört vor allem die alte, auch von Kojève nur zeitgenössisch aufgeputzte Vision von einer "lateinischen Union". Sie sollte natürlich unter französischer Führung stehen, mit Italien, Spanien und Portugal als Juniorpartnern, dazu noch die Maghrebstaaten oder womöglich die ganze arabische Welt, und - warum nicht? - die Länder "Lateinafrikas" und das ganze "Lateinamerika". Polemisch gesagt: Frankreich sollte zum Anführer des Südens in einem nahezu globalen Nord-Süd-Konflikt werden - nicht viel mehr als eine Literatenspinnerei.

Das Problem fängt schon damit an, dass sich die Franzosen Illusionen über die Sympathien machen, die sie bei ihren südlichen Nachbarn genießen, von weiter entfernten lateinischen Bruder- und Schwestervölkern zu schweigen.

Das hat historische wie systematische Gründe, auf die Lepenies in seinen Aufsätzen immer wieder kommt. Zu Italien etwa war das Verhältnis Frankreichs meist herablassend oder taktisch bestimmt: Die Italien-Politik Napoleons III. ist dafür ein sprechendes Beispiel. Spanien, einst ein Weltreich, verbot sein Stolz, sich Frankreich unterzuordnen, im kollektiven Gedächtnis geblieben sind auch die Grausamkeiten der französischen Besatzer im Unabhängigkeitskrieg zwischen 1807 und 1814. Portugal ist zwar ein lateinisches Land, gehört aber nicht zur Mittelmeerwelt, weil sein Blick immer auf den Atlantik hinausging. Und Frankreichs Beziehungen zum Maghreb, besonders zu Algerien, sind immer noch aus der Kolonialzeit schwer belastet.

Das Buch versammelt Aufsätze, die offensichtlich zu unterschiedlichen Anlässen geschrieben wurden, was einige Überschneidungen und Redundanzen erklärt. Einige Artikel sind nur längere Miszellen - etwa über "De Gaulle und die Latinität" (trotz "Vive le Québec libre" ein Unverhältnis; die französischen Einflussgebiete in Afrika sollten im Grunde nur Frankreichs Anspruch auf den Großmacht-Status stützen) oder Mitterrands "Sozialismus des Südens" (eine taktisches Bündnis gegen die übermächtige deutsche Sozialdemokratie) und "Sarkozy als Leser Fernand Braudels" (wobei Lepenies natürlich weiß, dass nicht der Präsident selbst, sondern sein Berater und Redenschreiber Henri Guaino der Leser war). Ein kurzes Stück über Hannah Arendts Idee einer "Mittelmeerunion als Lösung des Nahostkonflikts" will nicht so recht in den Gesamtzusammenhang passen.

Die Erörterungen über ein "rendezvous manqué" zwischen Gottfried Benn und Paul Valéry am geplanten "Centre Universitaire Méditerranéen" in Nizza werfen vor allem ein Schlaglicht auf Benns Opportunismus im "Dritten Reich". Längere gelehrte Abhandlungen beschäftigen sich mit den Ideen der Saint-Simonisten oder Maurrasianer, wobei das längliche Referieren entlegener Texte heute oft unbekannter Autoren nützlich sein mag, um die - teilweise religiöse - Verstiegenheit und Widersprüchlichkeit der Ideen zu illustrieren, aber auch ermüdend ist.

Interessant ist der Artikel über "Die Latinität zur Zeit der europäischen Diktaturen", der zeigt, wie wenig Mussolini, Franco und Salazar oder Pétain, trotz ideologischer Affinitäten, von lateinischer Solidarität als Richtschnur ihrer Politik hielten. Praktisch relevante Bündnisse und Konstellationen der internationalen Politik oder auch das Heraushalten aus den Konflikten größerer Mächte waren ihnen wichtiger.

Dass Frankreich in sich selbst einen Nord-Süd-Konflikt austrägt, zeigt der Aufsatz über die "Affäre des XV. Korps", einer Einheit an der lothringischen Front im Ersten Weltkrieg, die angeblich hauptsächlich aus südfranzösischen Soldaten bestand. Dieses Korps wurde zum Sündenbock für die verfehlte Strategie des französischen Generalstabs gemacht, und im Fortgang der Affäre feierten dann sämtliche Vorurteile über den faulen, feigen oder verweichlichten, jedenfalls unpatriotischen und unheroischen Menschenschlag des Südens fröhliche Urständ.

An diesem wie anderen Beispielen führt Lepenies vor Augen, dass es neben der "lateinischen" Orientierung eben auch noch eine andere, eine "germanische" gab, derzufolge alles Unglück für Frankreich daher komme, dass es wegen seiner den Süden verklärenden Schwärmereien den Anschluss an die vom Norden geprägte Moderne in Militär, Wissenschaft, Technik und Industrie verpasst habe.

Was für Deutschland historisch wie politisch die Herausforderung seiner Mittellage ist, so zeigt sich an den vielen Facetten, die Lepenies seinem Thema abgewinnt, ist für Frankreich seine Lage als Brücke zwischen Norden und Süden. Das sind geopolitische Konstanten, mit denen ein Land leben, mit denen seine Politik rechnen muss. Wer sie im Falle Frankreichs zugunsten des Südens oder der Latinität ignorieren wollte, schafft damit nur neue Konfliktfelder. Sarkozy hat die Sache, trotz seiner Idee einer Mittelmeerunion, in wirtschaftlicher Hinsicht einmal mit einer Fußball-Metapher auf den Punkt gebracht: Frankreich müsse sich entscheiden, ob es in der Champions League spielen wolle, also auf dem Niveau Deutschlands, oder ob es Meister in der "Liga Süd" bleiben wolle.

Für Deutschland stellen sich Fragen dieser Art auf politischem Gebiet. Weil beide Länder in Europa so gut wie unentrinnbar aneinander gebunden sind, wird es als Gegenreaktion immer Sehnsüchte nach einer"anderen Politik" geben. Wohin das im Falle Frankreichs intellektuell führt und warum es politisch nicht funktioniert, zeigt Wolf Lepenies an einer Fülle von Beispielen.

Wolf Lepenies: "Die Macht am Mittelmeer". Französische Träume von einem anderen Europa.

Carl Hanser Verlag, München 2016. 352 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2016

Das dritte
Imperium
Wolf Lepenies über die Idee einer Union
am Mittelmeer unter Frankreichs Führung
VON CLAUS LEGGEWIE
Im Jahr 2013 wanderte ein Zeitungskommentar aus Italien über Frankreich in deutsche Feuilletons, in der sich Giorgio Agamben, hierzulande als Theoretiker von Ausnahmezuständen bekannt, in die Debatte um das richtige Rezept gegen die Schuldenkrise vor allem im Süden Europas einmischte. „Wenn ein Lateinisches Imperium sich im Herzen Europas formen würde“, war der Aufschrei gegen die Austeritätspolitik der deutschen Bundeskanzlerin überschrieben; die französische Übersetzung „Möge das Lateinische Imperium zur Gegenattacke übergehen!“, spitzte die Konfrontation noch zu.
  Agamben berief sich auf einen wenig bekannten Vorläufer, die Denkschrift des russisch-französischen Philosophen und Beamten Alexandre Kojève (1902–1968) aus dem August 1945 – eine geopolitische Spekulation, an wen Nachkriegsdeutschland wohl fallen würde: an das imperiale Russland oder das neoimperiale England/Amerika. Kojèves Sorge war damals weniger ein wiedererstarktes Deutschland als der Bedeutungsverlust Frankreichs, das er an die Spitze eines dritten „Imperiums“ rücken wollte: das Lateinische Reich als Rückgrat Europas. Eine Macht am Mittelmeer.
  Glasperlenspiele? Nicht wirklich. Niemand ist besser geeignet, das Pingpong von Ideen- und Realpolitik zu entschlüsseln, als der Soziologe und Historiker Wolf Lepenies. Der frühere Direktor des Wissenschaftskollegs zu Berlin hat seine enge Verbundenheit mit dem französischen Geistesleben in mehreren Büchern unter Beweis gestellt, und auch in diesem geht es letztlich um das deutsch-französische Verhältnis und die (durchaus ungeeigneten) Versuche der Pariser Seite, unter Charles de Gaulle, François Mitterrand und Nicolas Sarkozy aus Kojèves Wunschvorstellung ein realpolitisches Gegengewicht gegen das kalte, nördlich-protestantische Deutschland zu formen. Des Öfteren sollte Frankreich südliche und nördliche Mittelmeeranrainer zusammenführen und unter seiner Hegemonie zu Kerneuropa werden lassen. Die französische Geisteswelt liebt derlei Ideen.
  Lepenies führt auch weniger Eingeweihte mit treffenden Anekdoten und überraschenden Analogien durch das franko-lateinische Narrativ, das im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ja schon einmal ganz anders erzählt worden war. Er lässt die geistigen Vertreter der Pensée Midi Revue passieren, bekanntere wie Paul Valéry, Albert Camus und Fernand Braudel und längst vergessene Exponenten wie Paul Adam, Louis Bertrand, Leon Daudet, Henri Massis und, welch passender Name: Frédéric Mistral.
  Das Buch ist eine wahre Fundgrube. Ein schöner Exkurs ist Hannah Arendts Gedankenspielen von 1942/3 gewidmet, die den späteren Kern allen Scheiterns mediterraner Einheit antizipierten: das Zerwürfnis zwischen Juden und Arabern in Palästina. Als Bedingung der Möglichkeit einer jüdisch-arabischen Föderation malte sie sich eine Mittelmeerunion aus. Wenig bekannt sein dürfte auch das Wirken der Saint-Simonisten, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine techno-koloniale, zum Teil arabophile Friedensutopie für beide Seiten des Mittelmeeres schufen. Lepenies handelt auch die Klimatheorien von Montesquieu ab, die in dem Satz kulminieren: „Der Mensch des Nordens lebt, um zu arbeiten und zu produzieren, der Mensch des Midi würde nur so viel arbeiten, wie es zum Lebensunterhalt notwendig ist.“
  Klimadeterminismus ist nun ebenso wenig geeignet wie die oft bemühte Kulinarik von Wein und Oliven, um eine kulturelle Identität und Einheit zu fixieren, außer eben durch Konfrontation mit dem Anderen: dem Westen (Amerika), dem Norden (Germania) und dem Osten (Eurasia). Nicht nur Agamben hat versucht, den Mythos des Südens zu reanimieren, an dem sich die Toskana-Fraktion gegen Schäuble und für Varoufakis aufrichten konnte. Lepenies schürft erheblich tiefer und zeigt, warum das Midi-Phantom ein kulturelles Faszinosum werden konnte, aber geopolitisch nicht funktionierte. Im 20. Jahrhundert war es eine Verlierer-Idee ohne politische Substanz, jeweils in Phasen des Niedergangs der einstigen Weltmacht Frankreich ausgedacht und ohne reales Gewicht im Ringen um die Positionierung der Nation nach 1918, 1933, 1945, 1980 und 1990.
  Französische Politiker sind Leser, aber auch Realpolitiker. De Gaulle hatte 1945 das während der deutschen Okkupation durch Kollaboration kompromittierte Land noch einmal den „Großen Drei“ angenähert, 1958 richteten sich seine Energien aber auf die deutsch-französische Aussöhnung und ein karolingisches Kleineuropa. François Mitterrands Idee vom Süden spiegelt eurokommunistische Hoffnungen der 1970er-Jahre, als eine Union de la Gauche hätte Widerstand formieren sollen gegen die in den anglo-amerikanischen Kapitalen, aber auch in Deutschland bereits tonangebenden neoliberalen Austeritätspolitiken. Doch war Frankreich mit Mitterrands spätem Triumph 1981 schon eine verspätete Nation und Willy Brandt, als Ko-Architekt der Ostpolitik für Visionen nicht unempfänglich, ließ Mitterrands Sozialismus des Südens kalt.
  Das vereinte Deutschland setzte 1990 konsequent auf die Kooperation mit Ostmitteleuropa und den Ausgleich mit dem postsowjetischen Russland. Im Berlin bildete sich nun trotz der deutschen Krisenanfälligkeit das europäische Gravitationszentrum (was nun auch schon wieder Geschichte sein dürfte). Der Rheinländer Lepenies ist nicht Preuße genug, um das einfach hinzunehmen; seine Abneigung gegen die Verkürzung von Sarkozys „Union des Mittelmeers“ zur maternalistischen „Union für das Mittelmeer“ durch Angela Merkel hat er schon 2008 zu Protokoll gegeben.
  Die Idee des Lateinischen Südens wurde, wie Lepenies ebenfalls ins Gedächtnis ruft, auf die Dritte Welt übertragen: Lateinafrika und Lateinamerika waren aber voller (neo-)kolonialer Tücken und die Lateiner in Algerien bildeten in den 1950er-Jahren den harten Kern einer brutalen, rassistischen Repression. Darin zeigten sich die Abgründe einer zivilisatorischen Mission, die schon in der Zwischenkriegszeit zu dubiosen faschistischen Allianzen gegen Hitler und Stalin geführt hatte. Für beide war das Mare nostrum höchstens ein Nebenschauplatz. Und das Buch zeigt nicht zuletzt, dass der Widerstreit zwischen Midi und Nord immer auch der Zündfunke eines innerfranzösischen Bürgerkriegs war. Politik mag nicht ohne zivilisatorische Grundlagen auskommen, und Nationen können sich als solche heute kaum noch sinnvoll behaupten. Aber eine zivilisationsbasierte Geopolitik, die von Spengler über Kojève bis Huntington mit seinem „Clash of civilizations“ reicht, bildet eine fragwürdige und exklusive Variante der Globalisierung, wie sich gerade in der grassierenden Wiederentdeckung monokultureller Muster zeigt.
  Ohnmacht am Mittelmeer? Es ist schade, dass Lepenies Ansätze zu einer zukunftsweisenden Mittelmeerpolitik nur andeutet, die es ja durchaus gibt. Da gerade der Nationalpopulismus Frankreich und Europa durchrüttelt und mit Marine & Marion Le Pen einen antiwestlichen (und prorussischen) Triumph erringen könnte, sind supranationale Kooperationen umso stärker gefragt. Agambens Anklage der germanischen Hegemonie blieb so steril wie der Vorstoß von Kojève; es reicht nicht, mit vagen zivilisationspolitischen Andeutungen Front gegen eine – in der Tat falsche! – Mittelmeer-Politik Merkels zu machen.
  Die Aufgabe besteht darin, für den Mittelmeerraum und die (immer noch bestehende) EU-Mittelmeerunion eine tragfähige Entwicklungsstrategie zu entwerfen und zu implementieren. Sie basiert auf Elementen, von denen die Propheten und Nostalgiker des Midi nur metaphorisch handelten – auf Sonne, Wind und Wasser, die als Energiequellen die auch den mediterranen Raum zerstörenden Öl- und Gasregime ablösen und – so viel konkrete Utopie darf sein – den Arabischen Frühling wie die Regeneration der südlichen EU-Staaten zu einem guten Ende bringen könnte. Das muss ein von Deutschland und Frankreich gemeinsam verfolgtes Ziel sein und könnte dem ermatteten Team einen zweiten Atem einhauchen.
Der Rezensent Leggewie ist Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen und Verfasser des Buches „Zukunft im Süden. Wie die Mittelmeerunion Europa wiederbeleben kann.“ Edition Körber, 2012
Willy Brandt ließ
Mitterrands Sozialismus
des Südens kalt
  
  
Wolf Lepenies:
Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume
von einem anderen
Europa. Hanser Verlag München 2016. 349 Seiten,
24,90 Euro. E-Book
18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für die Idee einer Mittelmeerunion hat Günther Nonnenmacher nur Spott übrig, egal ob in Form einer europäischen Koalition des Südens, einer Union der Latinität oder eines europäisch-afrikanischen Zusammenschluss. Frankreich als Führungsmacht des Südens? Das ist für den FAZ-Herausgeber allenfalls "Literatenspinnerei". Wolf Lepenies locker um das Thema herum versammelten Aufsätze bestätigen Nonnemacher in seiner Ansicht. Interessant findet er unter diesen verschiedenen gelehrten Abhandlungen vor allem, wie Lepenies die innerfranzösische Teilung in einen lateinischen Süden und germanischen Norden beschreibt. Er hat aber auch Neues erfahren über die Latinität zur Zeit der europäischen Diktaturen, über die Saint-Simonisten oder Hannah Arendts Vorstellungen einer mediterranen Union des Friedens.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Der Berliner Soziologe und Historiker (...) schildert detailliert und anschaulich, wie seit dem Ende des napoleonischen Reiches immer wieder die Idee in Frankreich aufkam, im Süden Europas als Gegengewicht zu Deutschland, aber auch zu Grossbritannien und den Vereinigten Staaten, politische Koalitionen zu bilden, die in der Regel unter Führung von Paris stehen sollten." Thomas Speckmann, Neue Zürcher Zeitung, 12.05.17

"Lepenies Buch liefert das notwendige Wissen für eine Union, die Europa und das Mittelmeer brauchen, um zu einem Meer der gerechten Mitte zu werden, und lässt begreifen, warum alle vorhergehenden Versuche gescheitert sind, welche Hindernisse zu umschiffen wären und an welche grandiosen Ideen dabei angeknüpft werden könnte." Roman Herzog, SWR 2 Die Buchkritik, 07.04.16

"Wolf Lepenies erzählt von dem alten Traum, dass im Süden alles anders ist als im Norden. Sogar besser." Peter Schöttler, Die Zeit, 03/16