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Es ist Sommer 1970, eine Gruppe junger Engländer verbringt ihren Urlaub in Italien. "Auch Frauen haben ein Recht auf fleischliche Begierde" heißt es, und der 22-jährige Keith Nearing weiß den Feminismus für seine Zwecke zu nutzen. Zwischen seiner treuherzigen Freundin Lily und der scharfen Gloria pendelnd, plant er schon akribisch den nächsten Seitensprung. Bissig, geistreich und urkomisch rechnet Martin Amis, der Bad Boy der Literatur Englands, mit den Errungenschaften der sexuellen Revolution ab. In seinem Roman erzählt er, was passierte, als man der Libido freien Lauf ließ - und er fragt…mehr

Produktbeschreibung
Es ist Sommer 1970, eine Gruppe junger Engländer verbringt ihren Urlaub in Italien. "Auch Frauen haben ein Recht auf fleischliche Begierde" heißt es, und der 22-jährige Keith Nearing weiß den Feminismus für seine Zwecke zu nutzen. Zwischen seiner treuherzigen Freundin Lily und der scharfen Gloria pendelnd, plant er schon akribisch den nächsten Seitensprung. Bissig, geistreich und urkomisch rechnet Martin Amis, der Bad Boy der Literatur Englands, mit den Errungenschaften der sexuellen Revolution ab. In seinem Roman erzählt er, was passierte, als man der Libido freien Lauf ließ - und er fragt sich, ob vom Karussell der Lust heute nicht mehr als eine "schwangere Witwe" übrig geblieben ist.
Autorenporträt
Amis, Martin
Martin Amis, 1949 in Swansea?/?Wales geboren, wurde schon mit seinem ersten Roman berühmt. Weitere erfolgreiche Romane und Erzählungsbände folgten. Zuletzt erschienen bei Hanser Yellow Dog (Roman, 2004), Die Hauptsachen (2005), Koba der Schreckliche (2007), Haus der Begegnungen (Roman, 2008) und Die schwangere Witwe (Roman, 2012). Martin Amis lebt in London und Uruguay.

Werner Schmitz wurde 2011 mit dem "Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis" ausgezeichnet. Er wurde für seine Übersetzungen zeitgenössischer amerikanischer Literatur, insbesondere für seine Übertragung der Romane Paul Austers geehrt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.02.2012

Die scharfe Scheherazade
Zwischen Slapstick und Elegie: Der neue Roman „Die schwangere Witwe“ des englischen Autors Martin Amis
Der Geschlechtsverkehr, schreibt Martin Amis zu Beginn, „hat zwei spezifische Besonderheiten. Er ist unbeschreiblich. Und er bevölkert die Welt. Es sollte uns daher nicht überraschen, dass alle kaum etwas anderes im Kopf haben.“ Das mag als Daseinsdeutung leicht übertrieben sein, ist aber bestimmt nicht ganz falsch. Vor allem aber ist dieser Satz der Schlüssel zu Amis’ Roman „Die schwangere Witwe“, in dem es vor allem, ja nahezu ausschließlich, um Sex geht, der Akt selbst aber, um den sich alles dreht, als Unbeschreibliches auch unbeschrieben bleibt.
Der Erzähler besitzt mehr Diskretion als seine Figuren. Denn die reden unentwegt über Sex oder den Mangel an Sex und ihre Erfahrungsexpeditionen. Sie verheddern sich in ihren Phantasien und Wünschen, sind mit der Ausdifferenzierung der Gefühle beschäftigt und haben also auch mit Verletzungen zu tun. Amis fasst diese, nun ja, Einseitigkeit, so zusammen: „Wir dürfen hier in Klammern anmerken, dass praktisch jeder sterbende Mann sich wünscht, sehr viel mehr Sex mit sehr viel mehr Frauen gehabt zu haben.“ Für die Frauen – das dürfen wir in Klammern hinzufügen – gilt selbstverständlich umgekehrt genau dasselbe.
Die Hauptfigur Keith Nearing ist zwar noch kein sterbender Mann, aber doch schon jenseits der Fünfzig und damit in das Stadium des Lebens eingetreten, in dem der Mensch eine merkwürdige Entdeckung macht: Es gibt eine Vergangenheit, und sie füllt das Dasein aus wie ein riesiger, unbekannter Kontinent. Keith ist Jahrgang 1949, also exakt so alt wie die Nato und wie der Autor Martin Amis, mit dem ihn auch andere Eigenschaften verbinden, etwa die Liebe zur englischen Literatur. Seine Erinnerungen konzentrieren sich auf den Sommer 1970, den er zusammen mit sehr verschieden begehrenswerten Frauen in einem italienischen Schloss verbrachte.
Man sitzt am Pool oder im Speisesaal, nächtigt im Turmzimmer und fährt gelegentlich ans Meer. Es ist eine Zeit außerhalb des Alltags und vor aller Lebensmühsal, und gerade deshalb vollständig gefüllt mit Erotik und Sex. Jahrzehnte später erscheint es Keith so, als wären diese Monate die einzige Episode seines Lebens gewesen, die sich „wie ein Roman anfühlte“. Ein trauriger Befund.
Das Jahr 1970 steht als Chiffre für Jugend, wenn Jugend als Zustand der Erwartung, des lustvollen Vorgefühls bei heiterer Aktivität zu begreifen ist. Darüber hinaus steht dieses Jahr für eine Zeit, in der der „Geschlechtsverkehr große Fortschritte gemacht hatte“; Sex vor der Ehe ist die erfreulichste Errungenschaft dieser jungen Generation des goldenen Zeitalters unter Wirtschaftswunder und Gleichgewicht des Schreckens.
Keith ist wieder mit seiner Freundin Lily zusammen, mit der ihn so etwas wie Liebe verbindet. Nichts bleibt zwischen ihnen unbesprochen und unreflektiert, sie schlafen auch regelmäßig miteinander, doch sein Begehren hat andere Ziele: die scharfe Scheherazade mit der überwältigenden Oberweite und den unschuldigen Gesichtszügen einer Blockflötistin und, ein wenig später, die eher derb wirkende Gloria, an der zunächst vor allem ihr ausladender Hintern auffällt. Damit beginnen die Heimlichkeiten, die Lügen und die Komplikationen; man spiegelt sich ineinander und in der Wasseroberfläche: ein Jahrmarkt der Eitelkeiten.
Weitere Figuren gruppieren sich locker ums Zentrum herum, unter ihnen der Schlossherr Adriano, ein nahezu perfekter italienischer Gigolo, der nur einen Fehler hat: Er ist mit Einssiebenundvierzig entschieden zu klein, um neben der langbeinigen Scheherazade bestehen zu können. Kompensatorisch betätigt er sich als verbissener Reckturner und Trampolinspringer, während die übrige Gesellschaft am Pool ihre Getränke schlürft; die Situationen, die Amis damit kreiert, entbehren nicht der Komik. Die sexuelle Revolution ist 1970 zwar schon in vollem Gang, das heißt aber nicht, dass alle Regeln und Traditionen damit hinfällig geworden wären – schon gar nicht in Italien. Was Keith erlebt, ist vielmehr ein zögerlicher Epochenbruch voller Verwirrungen und Rückfälle. Es gilt die freie Liebe, die Paar-Moral mit Treuebekundung aber auch. Und während die Frauen so sein wollen wie Männer, verlieren die Männer zunehmend den Überblick. Dass auch Frauen „fleischliche Begierden haben“, ist noch eine vergleichsweise neue, verwirrende Erkenntnis.
Als Student der englischen Literatur, der sich vor allem mit Jane Austens „Sense and Sensibility“, mit George Eliot und der Epoche des Viktorianismus befasst, weiß Keith um die historische Flüchtigkeit der gesellschaftlichen Arrangements. Im 17. Jahrhundert, erklärt er seiner Geliebten, habe die Abspaltung der Sensibilität stattgefunden. Shakespeare konnte noch mit Verstand über Gefühle und Sex schreiben, spätere Dichter „konnten nicht mehr gleichzeitig natürlich denken und fühlen“. Nun aber, im Sommer 1970, trennen sich Gefühl und Sex voneinander. Das Gefühl wird abermals verlagert. Diese Trennung, die aus Sex eine Praxis und aus dem Gefühl eine Sentimentalität zu machen droht, ist das eigentliche Thema des Romans. Es bleibt zunächst unklar, ob es sich dabei um eine Errungenschaft oder um eine Katastrophe handelt.
Die Intrigen, Verführungen und Verwirrspiele im italienischen Sommer erinnern nicht ganz zufällig an Choderlos de Laclos’ „Gefährliche Liebschaften“ – ein wenig auch an den vor kurzem erschienenen Roman „Die Liebeshandlung“ von Jeffrey Eugenides, der für die 1980er Jahre in Amerika dasselbe Thema durchspielte und ebenfalls eine Studentin mit Jane Austen-Spezialisierung auftreten ließ. Freiheit ist nur zu begreifen im Verhältnis zu den Bindungen, die sie hinter sich lässt oder auf neue Art aktualisiert. So ist die Frage, die Keith und seine Mitstreiter bewegt – ob nämlich eine Frau „das Höschen anbehält“ oder nicht – nichts anderes als die Frage, die seiner Ansicht nach den englischen Roman dreihundert Jahre lang bewegte: „Wird sie fallen? Wird diese Frau fallen? Und worüber werden sie schreiben, dachte er, wenn alle Frauen fallen? Nun ja, es wird neue Arten des Fallen geben . . .“.
So amüsant und temporeich das unter die Haut gehende Geplauder des italienischen Sommer in Keiths Erinnerung wiederersteht, eine tragische Tiefendimension bekommt das Geschehen erst durch den Trick, einen Erzähler zu installieren, der unter seinem Älterwerden leidet. Die auf 1970 folgenden Jahrzehnte spult Amis im Kurzdurchlauf einer „Coda“ ab, als hätte sich alles Entscheidende bereits damals, in diesen wenigen Monaten ereignet. Freiheit, so zeigt sich dann, ist das Recht eines jeden, auf seine eigene Weise unglücklich zu werden. Keith, der einst hoffte, ein Dichter zu werden, arbeitet für eine Werbeagentur, verrät seine Träume und verdient sehr viel Geld.
Unter der heiteren Oberfläche wird eine tiefe Trauer sichtbar. Das hat damit zu tun, dass die Liebe vielleicht nicht nur vom Sex abgetrennt wurde, sondern dabei verloren gegangen ist. Mit der Liebe hat es bei Keith trotz dreier Ehen jedenfalls nie so recht geklappt. Jetzt ist der Mythos von Narziss und Echo das Muster der Vergeblichkeit, das er seiner Geschichte unterlegt. Das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit wird stärker; die nächste Generation verkörpert bereits eine „vollkommen fremde erotische Welt“. Was als Sommermärchen und Freiheitshoffnung begann, wird am Ende zur Auseinandersetzung mit dem Tod. Die Ambivalenz der Gefühle zwischen Hoffnung und Trauer ist, wie es der Titel „Die schwangere Witwe“ nahelegt, von Anfang an gegeben. Der Tod, so heißt es am Schluss, ist „der dunkle Hintergrund, den ein Spiegel braucht, um uns uns selbst zu zeigen.“
JÖRG MAGENAU
MARTIN AMIS: Die schwangere Witwe. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Hanser Verlag, München 2012, 414 Seiten, 24,90 Euro.
Die Hauptfigur ist Jahrgang 1949,
also exakt so alt wie die Nato
und wie der Autor Martin Amis
In diesem italienischen Sommer
gilt die freie Liebe, die Paar-Moral
mit Treuebekundung aber auch
Martin Amis in einem Pub in Notting Hill. Foto: Barry Lewis/In Pictures/Corbis
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ach, diese siebziger Jahre! Keine wirtschaftlichen Probleme, keine beruflichen Sorgen, dafür lange Urlaube in Italien und viel Sex! Um diese beneidenswerte Zeit geht es in Martin Amis' neuem Roman "Die schwangere Witwe", über den Jörg Magenau recht beeindruckt schreibt, ohne jedoch ein klares Urteil zu fällen. Amis schreibt über eine Gruppe von Freunden um den Literaturstudenten Keith Nearing, die in Italien zusammen ein Schloss mieten und sich nun alle gegenseitig in die Kiste ziehen. Allerdings warnt Magenau auch davor, sich von der heiteren Oberfläche nicht blenden zu lassen, denn unter ihr verberge sich eine tiefe Trauer. Was Magenau hier ziemlich genau herausgearbeitet findet, ist der Punkt, an dem sich Sex und Liebe voneinander trennten - ein Moment so einschneidend wie die Trennung von Verstand und Gefühl im 17. Jahrhundert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2012

Das hat nichts mit Kunst zu tun, hier geht es um das reine Leben

Ein Partnerschafts-Ratgeber? Eine reaktionäre Streitschrift? Oder einfach ein sehr guter Roman? Martin Amis legt mit "Die schwangere Witwe" ein außergewöhnliches Werk vor.

Natürlich kann man das neue Buch von Martin Amis als das nehmen, als was es sich ankündigt: als einen Roman über eine Gruppe von jungen Engländern, die einen sagenhaften Sommer in Italien verbringt. Man könnte sich sodann damit begnügen, sich von dem Text ins Jahr 1970 versetzen zu lassen und sich Italien als ein Land vorstellen, in dem es (noch) möglich ist, im Sommer ein menschenleeres Plätzchen zu finden, ein einsam liegendes Schloss mit Pool im Garten beispielsweise. In diesem Schloss gibt es Turmzimmer, Bibliotheken und diskrete Dienstboten, die dafür Sorge tragen, dass sich die Freunde mit nichts anderem beschäftigen müssen als mit sich selbst. Und genau das tun sie, mit einer Hingabe, die sehr lustig und sehr ernst ist und die, zumindest einigen von ihnen, am Ende zum Verhängnis werden wird.

Ein Roman ist ein Roman. Es gibt, natürlich auch bei Martin Amis, einen Erzähler, der von einer Geschichte aus einer Welt berichtet, die er selbst erschaffen hat. Bei Amis ist dieser Erzähler allumfassend über das Schicksal seiner Figuren informiert, er kennt ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft, wovon er uns portionsweise mitteilt, was er für wichtig hält. So weit alles ganz normal.

Besonders wird es, wenn Amis' Erzähler versucht, sich zum Komplizen des Lesers zu machen, wenn er sich nicht nur gleichsam neben ihn stellt, um mit ihm diese Engländer zu beobachten, die durch das italienische Schloss geistern, sondern wenn er sein eigenes Erzählen über diese Figuren kommentiert: "Der Sommer in Italien hatte nichts mit Kunst zu tun, hier ging es um das reine Leben. Niemand erfand irgendetwas. Das alles ist wirklich geschehen", heißt es an einer Stelle. Und an einer anderen, die Rede ist von dem Protagonisten Keith: "Welch einen Preis hatte er für das alles bezahlt, für diesen Sommer 1970. Welch einen Preis hatte er bezahlt."

Es finden sich mehrere solcher Passagen, an denen Amis' Erzähler darum bemüht ist, Authentizität zu suggerieren, weil er offenbar möchte, dass man seine Geschichte nicht nur als Geschichte versteht, sondern als ein Lehrstück, als Kommentar zu einer gesellschaftlichen Entwicklung, in deren Fänge seine Figuren nicht allein, sondern stellvertretend für die Leser geraten sind. Amis' Buch lässt sich daher auch als eine Art Ratgeber begreifen, und als solcher ist es eine sehr gelungene Provokation.

Dreh- und Angelpunkt der Erzählung ist das Jahr 1970. Keith ist in diesem Sommer zweiundzwanzig Jahre alt und Student der englischen Literatur in London. Mit seiner Freundin Lily und einigen gemeinsamen Freunden fährt er mehrere Wochen in besagtes Schloss in Kampanien, wo er Tee trinkt, Schach spielt, "Stolz und Vorurteil" liest und am Pool herumlungert. An diesem Pool, um den sich die Freunde mit den klingenden Namen Gloria Beautyman, Sheherazade und Amen täglich versammeln, spielen sich größere und kleinere Dramen ab, die alle mit den übergeordneten Fragen zusammenhängen, die sich den jungen Menschen in jenem Sommer am dringlichsten stellen: Was bedeutet Freiheit? Und vor allem: Was bedeutet sexuelle Freiheit? Wenn Sheherazade, deren Schönheit ihrem Namen alle Ehre macht, es also zu ihrer Gewohnheit werden lässt, nur noch barbusig am Pool aufzutauchen, dann bietet das nicht nur den Anlass für endlose Diskussionen unter den miteinander konkurrierenden Frauen, sondern auch zwischen Lily und ihrem Partner Keith. Denn sosehr Keith die Vorbehalte seiner Freundin teilt, sosehr er auch um den eigentlichen Grund ihrer Vorbehalte weiß (das Gefühl der eigenen körperlichen Unzulänglichkeit), so sehr er sich schließlich an das Versprechen erinnert, das sich die beiden einst gegeben haben, einander nämlich weder anzulügen noch zu verraten - so sehr reizt ihn Sheherazades Busen.

In dem "Manifest der sexuellen Revolution", aus dem der Erzähler in eingeschobenen "Zwischenakten" immer wieder zitiert, heißt es: "Es wird Sex vor der Ehe geben. Sex vor der Ehe für nahezu jedermann. Und nicht nur mit der Person, die du einmal heiraten wirst." Das ist die Verheißung, die durch den italienischen Sommer wabert, ein Sirenengesang, ausgelöst durch eine Reihe von Ereignissen draußen in der Welt, die sorgsam aufgelistet werden: die Antibabypille, der Kampf für legale Abtreibungen, die Forderung nach gleichem Lohn für Frauen und das Erscheinen vieler feministischer Bücher. Natürlich können die jungen Engländer die Tragweite dieser Dinge und ihren Einfluss auf die Gegenwart, in der sie leben, nicht abstrakt beurteilen, sosehr sie sich auch bemühen. Doch als eine das Bewusstsein prägende Hintergrundmelodie, als Versprechen auf eine Zukunft, die besser und wilder als alles ist, was ältere Generationen je erlebt haben, üben die Zeitläufte Macht aus, vor allem auf Keith: "Und alles wurde angerichtet, von der Geschichte selbst - für Keith allein. So kam es ihm jedenfalls manchmal vor. Das alles wurde mit Blick auf Keith getan."

Wie der Leser schon seit Beginn des Romans weiß, ist der hier anklingende Sirenengesang aber genau das, was er auch bei Odysseus ist: eine Falle. Nicht ohne Genugtuung führt der Erzähler seinen Keith daher als einen im Grunde törichten Mann vor, der nicht begreift, dass das Jahr 1970 zwar einen Höhe-, gleichzeitig aber auch einen vorläufigen Endpunkt in der Entwicklung gesellschaftlicher Freiheiten darstellt. Ja, Keith wird der Versuchung erliegen. Er wird den Sex seines Lebens haben und fortan glauben, dass dies erst der Anfang war. Doch er irrt sich. Und wird darüber sein Leben verspielen. Kurz gefasst ist dies die Botschaft des Romans.

Aber so leicht macht es sich Amis natürlich nicht. Denn bei aller zeitkritischen Brisanz hat er kein Pamphlet geschrieben, sondern als großer Romancier den Umweg über die Literatur und die Sprache gewählt. So ist sein Buch nicht nur durchsetzt von literarischen Verweisen und Anspielungen, wie etwa Ted Hughes' Adaption der Ovidschen Mythen von Narziss und Echo und natürlich auch englischen Klassikern wie Charlotte Brontë, Jane Austen und D. H. Lawrence, um nur einige zu nennen. Gerade deren Bücher nutzt der Autor, um eine Gegenwelt zur romanesken Gegenwart zu entwerfen, in der Frauen noch tugendhaft waren und, wo sie es an Tugend fehlen ließen, aus der Gesellschaft verstoßen wurden. Er nutzt auch die ihm eigene Virtuosität im Umgang mit der Sprache, um den Leser auf die gewünschte Spur zu bringen, denn auf den mehr als vierhundert Seiten seines Romans entsteht nie der Eindruck, dass etwas beiläufig oder zufällig geschieht.

Im Gegenteil. Jede noch so winzige Kleinigkeit entfaltet einen ungeheuren Sog, die Dinge passieren nicht einfach, alles drängt sich auf: der Nebel "ballt" sich, das Tal "kracht" wie eine Woge an die Felsen, der Himmel "dröhnt", "die Rosen schmollten und schmunzelten, die Düfte schwankten und schwindelten". Kein Wunder, will uns der Dichter sagen, dass Keith den naturgewaltigen Ereignissen seiner Zeit erliegt. Die wahrhaft Mutigen sind indes nicht unter seinesgleichen zu suchen, sondern unter denen, die sich dem Lockruf des Hedonismus entzogen haben. Unter denen, die nicht zugelassen haben, dass sich der Sex von der Liebe trennte und die Menschen auf diese Weise korrumpierte.

Und auch wenn diese These gar nicht neu ist - sie ist so alt wie die Vorbehalte des Vatikans gegen Kondome -, auch wenn dies alles gar nicht besonders originell ist, kann man "Die schwangere Witwe" als eine reaktionäre Streitschrift lesen, mit der Amis Verrat an einer gerechten Sache übt. Doch diesen Gefallen sollte man dem Autor nicht tun. Denn seine Könnerschaft als Erzähler zeigt sich gerade in diesem Spiel, das er mit seinen Figuren und dem Leser treibt, mit Referenzen und Stilen, Gegenwärtigem und Vergangenem, wobei er die Grenze zur Unverständlichkeit zwar zuweilen streift, in letzter Sekunde aber doch stets die Hoheit über seine gewiefte erzählerische Konstruktion behält und alles in eine wundersame Ordnung bringt. Sein Roman ist manipulativ, sicher. Aber er bleibt ein Roman. Und angesichts des Fazits, das Amis zieht, ist es als Kompliment zu verstehen, wenn wir sagen: Gott sei Dank.

LENA BOPP

Martin Amis: "Die schwangere Witwe". Roman.

Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Carl Hanser Verlag, München 2012. 414 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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" 'Die schwangere Witwe' ist ein hochmusikalisches Buch." Sebastian Hammelehle, Spiegel online, 08.02.12

"Ein Buch von schwebender Traurigkeit mit Lust an der smarten Hinrichtung des guten Geschmacks" Stern, 19.04.12