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Udo Berger hat nur eine Leidenschaft: Kriegsspiele. Selbst im Urlaub an der Costa Brava verbringt er die meiste Zeit mit dem Strategiespiel "Das Dritte Reich", einer Simulation des Zweiten Weltkriegs. Eines Abends lernt Udo den mysteriösen "Verbrannten" kennen, ein angeblich durch Folter verunstalteter Lateinamerikaner, von dem er sofort fasziniert ist. Im "Dritten Reich" soll dieser den Part der Alliierten übernehmen und den Lauf der Geschichte ändern. Der unheimliche, subtil ironische Roman ist ein Glanzstück aus Roberto Bolaños Nachlass. Er beschreibt die Verdrängung der Vergangenheit durch…mehr

Produktbeschreibung
Udo Berger hat nur eine Leidenschaft: Kriegsspiele. Selbst im Urlaub an der Costa Brava verbringt er die meiste Zeit mit dem Strategiespiel "Das Dritte Reich", einer Simulation des Zweiten Weltkriegs. Eines Abends lernt Udo den mysteriösen "Verbrannten" kennen, ein angeblich durch Folter verunstalteter Lateinamerikaner, von dem er sofort fasziniert ist. Im "Dritten Reich" soll dieser den Part der Alliierten übernehmen und den Lauf der Geschichte ändern. Der unheimliche, subtil ironische Roman ist ein Glanzstück aus Roberto Bolaños Nachlass. Er beschreibt die Verdrängung der Vergangenheit durch eine ritualisierte Konsumkultur und stellt die Frage nach dem Geheimnis des Bösen.
Autorenporträt
Roberto Bolaño, 1953 in Chile geboren und nach dem Militärputsch von 1973 inhaftiert, ging ins Exil nach Mexiko und 1976 nach Spanien. 2003 starb er in Barcelona. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise, darunter den National Book Critics Circle Award für die amerikanische Ausgabe seines Romans 2666. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane 2666 (2009), Lumpenroman (2010), Das Dritte Reich (2011) und Die Nöte des wahren Polizisten (2013) sowie der Erzählungsband Mörderische Huren (2014) und der Gedichtband Die romantischen Hunde (2017).

Christian Hansen, 1962 in Köln geboren, lebt in Berlin und Sóller. Er übersetzt u. a. Werke von Roberto Bolaño, José; Pablo Feinmann, Juan Goytisolo, Amin Maalouf, Alan Pauls, Sergio Pitol, Guillermo Rosales und Vizconde de Lascano Tegui.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011

Vom Kriegsspiel in die Wirklichkeit ist es nur ein kleiner Schritt

"Aufstieg und Niedergang des Dritten Reichs" heißt ein Brettspiel um Tod und Leben. Roberto Bolaño verwandelt es in seinem frühen Roman in eine albtraumhafte Partie, bei der sich die Geschichte auf schreckliche Weise wiederholt.

Von Ernst Osterkamp

Wer als Leser die endlosen Schreckenslandschaften von Roberto Bolaños nachgelassenem Monsterroman "2666" durchmessen hat, wird nicht erwarten, dass es in seinem frühen Roman, dem er mit dem ihm eigenen Sinn für Abgründe den Titel "Das Dritte Reich" gegeben hat, besonders beschaulich zugeht. Auch dieses Buch stammt aus Bolaños Nachlass; das Typoskript wurde 1989 abgeschlossen. Warum es zu Lebzeiten des Autors nicht zum Druck gelangte, wissen wir nicht; ob der Autor daran dachte, den Text noch einmal zu überarbeiten, ist ebenfalls ungewiss. Die Geheimnisse, die Bolaños Nachlass umwittern, bleiben für seine Leser undurchdringlich; die editorischen Notizen, die bisherige Nachlasspublikationen begleiten, sind tief unbefriedigend. Der Leser kann also nur darauf hoffen, dass die ärgerlichen Mystifikationsstrategien, die den Blick auf Bolaños Biographie trüben, sich nicht auch noch mit editorischer Inkompetenz auf Seiten seiner Nachlassverwalter verbinden.

Ein Frühwerk wird man den Roman schwerlich nennen wollen; immerhin war der Autor bereits 36 Jahre alt, als er ihn abschloss. Interessant ist er schon deshalb, weil man ihm hier regelrecht dabei zuschauen kann, wie er sich in das Handwerk des Schreibens einübt - und Bolaño wäre nicht Bolaño, täte er dies nicht mit einer gehörigen Portion Selbstironie. Denn er hat dem Roman eine Form von besonders herber Konventionalität gegeben: diejenige des Tagebuchs. Dies Tagebuch führt ein junger Deutscher namens Udo Berger, als Schriftsteller wie Bolaño ein "Autodidakt", um auf diesem Wege seine "angebliche schriftstellerische Unbeholfenheit" zu überwinden. Er beginnt am ersten Tag seines Urlaubs, den er mit seiner Freundin Ingeborg in einem Badeort an der katalanischen Küste verbringt, für den vermutlich Blanes, Bolaños Wohnsitz, Modell gestanden hat. Dass Bolaño hier noch meilenweit von der schwindelerregenden Polyperspektivität entfernt ist, mit der er in seinem letzten Werk die Abgründe der Welt ausleuchtet, liegt auf der Hand.

Allerdings öffnen sich diese Abgründe, wie schon der Titel vermuten lässt, bereits in "Das Dritte Reich". Als "Wandeln am Rande des Abgrunds" hat Bolaño 1999 in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Premio Romulo Gallegos in Caracas das Schreiben mit Blick auf seine Poesie der Gefährlichkeit bezeichnet, und es ist erstaunlich zu sehen, mit welcher Sicherheit er schon in seinem ersten Roman den Rand des Abgrunds als den magischen Ort seines Schreibens ansteuert. "Einen Baum, der über dem Abgrund hing", notiert sich Udo Berger als das Erste, was er bei einem Ausflug gesehen hat; dieser Baum ist nicht nur das Emblem seines eigenen Schreibens, sondern zugleich dasjenige von Bolaños Selbstfindung als Autor.

Zu Beginn seines Urlaubs glaubt Udo Berger noch, "dass ich in der besten Phase meines Lebens stehe", aber schon wenige Tage später spürt er eine Entfremdung zwischen sich und Ingeborg: "mir war, als täte sich vor meinen Füßen ein Abgrund auf". Als ihm in der zweiten Hälfte des Romans klar wird, dass der Riss, der seine bisherige von der gegenwärtigen Existenz trennt, nicht mehr geschlossen werden kann, wütet er gegen die "Schreiberlinge", die nicht wirklich meinen, was sie schreiben: "Wie viele haben in den Abgrund geblickt?" Es ist der Abgrund, der in Bolaños Roman den Schriftsteller vom Spieler trennt.

Udo Berger ist ein Spieler, der deutsche Champion der "wargames": Brettspiele, die auf komplizierte Weise Kriege oder Schlachten mit der Chance, den tatsächlichen historischen Verlauf zu verändern, nachspielen. Er will seinen Spanien-Urlaub dazu nutzen, um eine neue strategische Variante des hochkomplexen Spiels "Das Dritte Reich", bei dem der Ablauf des gesamten Zweiten Weltkriegs nachgespielt werden kann, zu entwickeln und diese in einem Aufsatz darzustellen, der ihn in der internationalen Kriegsspielergemeinschaft bekannt machen soll. Während er im Hotelzimmer neue Spielzüge erprobt und Ingeborg am Strand liegt, entgleitet ihm mehr und mehr sein tatsächliches Leben, und er taucht immer tiefer in eine Atmosphäre der Angst und Beunruhigung. Die beiden befreunden sich mit einem anderen deutschen Paar, Hanna und Charly, wobei sich Charly bei nächtlichen Touren durch die Discos als exzessiver Trinker mit Neigung zur Gewalttätigkeit entpuppt; einige undurchsichtige Spanier drängen sich als Begleiter auf; vor allem aber fasziniert Udo ein auf dem Strand zwischen seinen Tretbooten hausender schweigsamer Mann, der im Roman nur "der Verbrannte" heißt, weil sein Gesicht und muskulöser Körper von schwersten Verbrennungen gezeichnet sind.

Charly kehrt vom Surfen auf dem offenen Meer nicht zurück. Die Beziehung zwischen Udo und Ingeborg kollabiert am Ende des Urlaubs stumm, klag- und trostlos; sie reist ab, während er unter dem Vorwand bleibt, auf die Auffindung von Charlys Leiche warten zu wollen. Udo lässt sich nun auf ein erotisches Spiel mit Frau Else, der Besitzerin des Hotels, ein, ohne die Regeln dieses Spiels je zu begreifen, und scheitert dabei ebenso wie bei dem ganz großen Spiel mit der bedrohlichen Wirklichkeit, um das es ihm in Wahrheit geht: Nacht für Nacht kommt der Verbrannte, ein Neuling auf dem Gebiet der Kriegsspiele, in sein Zimmer und spielt mit Udo "Das Dritte Reich", das mit der "Großen Vernichtung" eines der beiden Spieler enden muss. Zug um Zug kehren sich in einem Wochen währenden Kampf die Kräfteverhältnisse um; der Verbrannte, der die Rolle der Alliierten übernommen hat, wird der Sieger sein, und es verdichten sich die Anzeichen dafür, dass dem deutschen Besiegten, in einer gefährlichen Vertauschung von Spiel und Wirklichkeit, ein schlimmes Schicksal bevorsteht. Denn der Verbrannte ist ein Lateinamerikaner, dessen Verbrennungen, wie sich aus Andeutungen erschließt, Relikte der Folter sind, weshalb für ihn der Prozess, der den Kriegsverbrechern gemacht wird, am Ende der wichtigste Akt des Spiels sein muss: "Nazis aufhängen!" Grund genug für Udo, sich an Verse Goethes zu erinnern: "Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde!"

Roberto Bolaño, der ein eminenter Leser war, gibt schon in diesem frühen Buch - wie später auf staunenswerte Weise in "2666" - seine beeindruckende Kenntnis der deutschen Literaturgeschichte zu erkennen, von der man gerne wüsste, wann und wie er sie erworben hat. Freilich setzt er auch sie sarkastisch ein. Es ist schon eine schräge Idee, Udo an der Costa Brava "Wally, die Zweiflerin" von Karl Gutzkow lesen zu lassen. Von denkwürdiger Schrägheit aber ist Udos Überlegung, dem Verbrannten seine Lieblingsgeneräle durch Vergleiche mit deutschen Schriftstellern vorzustellen: Er möchte "ihm sagen, dass von Manstein mit Günter Grass vergleichbar ist und Rommel mit . . . Celan. Guderian ist das Gegenstück zu Jünger und von Kluge das zu Böll. Er würde es nicht verstehen. Zumindest noch nicht verstehen."

Bereits in "Das Dritte Reich" erweist sich Roberto Bolaño als ein Meister in der Kunst, die Wirklichkeit in genau den Albtraum zu verwandeln, für den er sie immer gehalten hat. Schon hier sind viele bildkräftige Albträume als Mikromodelle der Realität eingelagert, die für den Erzähler nur als Albtraum begreifbar war. Zwar weist "Das Dritte Reich" noch nicht die kalte und klare Poetizität sowie den ungeheuren Reichtum an vielfach abschattierten erzählerischen Tönen auf, die die späten großen Romane auszeichnen, auch markiert Bolaño manche bedrohlichen Vorzeichen und Angstsignale noch zu grob und plakativ, insgesamt aber ist er sich bereits in diesem frühen Roman als Erzähler seiner Mittel erstaunlich sicher. Schon hier gelingt es ihm, mit einer Technik sparsamster Andeutungen die Motive der Akteure undurchsichtig und die dargestellte Wirklichkeit rätselhaft und vieldeutig erscheinen zu lassen und dies als Mittel der Spannungssteigerung einzusetzen.

Auch dieser schriftstellerischen Sicherheit wegen empfiehlt es sich, "Das Dritte Reich" als das Buch zu lesen, mit dem Bolaño sich auf ironische Weise seiner Autorschaft vergewissert hat. An einer frühen Stelle des - erneut von Christian Hansen glänzend übersetzten - Romans erkennt Udo in dem Verbrannten sein Alter Ego als Autor: ",Ich schreibe auch sehr schnell', murmelte der Verbrannte. ,Ja, das habe ich mir gedacht.' Ich wunderte mich über meine eigenen Worte. Eigentlich hatte ich nicht einmal erwartet, dass der Verbrannte schreiben konnte."

Am Ende - auf einem Pariser Kriegsspiele-Kongress! - verlässt Udo, dem es mit der Niederschrift seines Tagebuchs immerhin gelungen ist, sich in die Technik des Schreibens einzuüben, für immer die Gruppe der Spieler - wohl, um sich fortan als Autor auf den Ernst der Wirklichkeit einzulassen und sich so auf die Wirklichkeit der Literatur zu konzentrieren. Das ist es, was Roberto Bolaño für den Rest seines allzu kurzen Lebens auf unvergleichliche Weise getan hat.

Roberto Bolaño: "Das Dritte Reich". Roman.

Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag, München 2011. 319 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2011

Spaniens Himmel breitet seine Sterne . . . 
. . . über deutschen Waffentaten aus. Mit Manstein und Grass, Rommel und Celan an der Costa Brava:
Roberto Bolaños früher Roman „Das Dritte Reich“ ist in deutscher Übersetzung erschienen Von Tobias Lehmkuhl
Ob man dieses Buch der deutschen Literatur zurechnen muss? Schon in „Stern in der Ferne“ und „Die Naziliteratur in Amerika“ war Roberto Bolaños Faszination für die deutsche Literatur und Geschichte unübersehbar. Sein fünfteiliges Meisterwerk „2666“ schließlich handelt nicht zuletzt von einem gewissen Benno von Archimboldi, einem deutschen Schriftsteller und Wehrmachtssoldaten. Von Goethe über Kafka bis Thomas Bernhard hatte Bolaño ohnehin alles Relevante und manches Abseitige aus der deutschen Literaturgeschichte gelesen und ins eigene Werk einfließen lassen. Nun aber liegt mit „Das Dritte Reich“ ein Buch auf Deutsch vor, das sich mit einer Ausschließlichkeit aus diesem Fundus bedient, die so bemerkenswert ist wie der Roman selbst.
Dabei hat es der Leser bei diesem 1989 entstandenen und aus dem Nachlass veröffentlichten Werk mit einem schlichten Tagebuch zu tun, einer Erzählform also, die zur Hochzeit postmoderner Erzählweisen Ende der achtziger Jahre als denkbar antiquiert galt. Möglich freilich, dass sich Bolaño, der sich als Avantgardist begriff und bis dato hauptsächlich Lyrik geschrieben hatte, auf diese Weise der Prosa annähern, sie ausprobieren wollte. Tatsächlich benutzt auch seine Hauptfigur, Udo Berger, das Tagebuch, um flüssiger schreiben zu lernen und sein Gedächtnis darauf zu trainieren, „sich Bilder behutsam einzuprägen“.
Udo Berger, Mitte zwanzig, ist wie Bolaño Autodidakt, seine Leidenschaft gehört aber nicht der Literatur, sondern sogenannten „Kriegsspielen“, Strategiespielen, die fiktive oder auch reale Schlachten zum Vorbild haben. Die Zeit der Computerspiele ist zwar schon angebrochen, Berger aber bevorzugt noch das klassische Brettspiel mit Spielsteinen, Würfeln und allem, was so dazugehört. Mit gleichgesinnten Nerds (die so plakative Namen tragen wie Paul Huchel oder Heimito Gerhardt) hat er in Stuttgart einen Kriegsspiel-Verein gegründet, schreibt für Fanzeitschriften und ist sogar „Landesmeister“.
Mit Beginn des Tagebuchs sehen wir Udo Berger im Urlaub mit seiner Freundin Ingeborg an der Costa Brava, in einem Ferienort, der zweifellos Bolaños letzten Wohnort Blanes zum Vorbild hat. Hier möchte Udo, während Ingeborg am Strand liegt, neue Strategien für das Brettspiel „Das Dritte Reich“ entwickeln. Überdies beschäftigt ihn das Hotel, in dem er mit Ingeborg wohnt, vor allem die deutsche (!) Wirtin Frau Else (!!). Auch Ingeborg lernt ein deutsches Paar kennen, Charly und Hannah, so dass Udo sich gezwungen sieht, einen Großteil seiner Zeit den üblichen sozialen Verpflichtungen deutscher Jungurlauber an der Costa Brava nachzukommen: In Kneipen Sangria zu trinken und bis spät nachts in lauten Diskotheken zu tanzen.
Doch bald schon entsteht eine Atmosphäre latenter Bedrohung. Zwei Spanier tauchen auf, die nur „El Lobo“ und „El Cordero“ genannt werden, der Wolf und das Lamm, zwei gleichermaßen stumme wie unheimliche Typen, außerdem lernt Udo Berger den „Verbrannten“ kennen, einen Mann ungewisser Nationalität, der am Strand Tretboote vermietet und aus diesen jeden Abend eine „Festung“ baut, in der er samt seiner von schlimmen Verbrennungen herrührenden wulstigen Hautwucherungen nächtigt. Bald auch ertrinkt Charly bei einem Surfausflug, nicht ohne vorher seine Freundin verprügelt zu haben. Man ahnt Schlimmes, und auch Udo Berger glaubt einem Verbrechen auf der Spur zu sein. Doch im entscheidenden Moment stellt sich ein gewisser Unschärfeeffekt ein: „Dann nimmt er mich beiseite und erzählt mir lachend eine Vergewaltigungsgeschichte, aus der ich nicht schlau werde, aber in die beide (El Lobo und El Cordero) irgendwie verwickelt sind.“
Hier sind nicht nur die Bedrohungsszenarien vorweggenommen, die Bolaño in späteren Romanen so meisterhaft zu entwerfen versteht, hier zeigt sich auch, woher sie kommen: Aus der romantischen Literatur eines E.T.A. Hoffmann, Tieck und Eichendorff. Auch in deren Romanen, Erzählungen und sonstigen Nachtstücken droht ständig Schlimmstes. Wilde Träume, Vorahnungen, Ängste rufen tiefes Unbehagen hervor; es stellt sich zuweilen der Eindruck ein, es würde sogleich Schrecklichstes, existenziell Entscheidendes offenbart.
Bolaño weiß um all diese Mittel, Spannung zu erzeugen, und er setzt sie schon in diesem frühen Werk geschickt ein, geheime Kammern und unheimliche Gestalten inklusive. Dabei streut er die Andeutungen spärlich und trägt nie so dick auf, wie seine deutschen Vorbilder es tun - als hätte die Psychoanalyse inzwischen den Großteil der Symbolwelt des Unbewussten okkupiert und der Literatur nur noch wenige Reste übrig gelassen.
Geschickt auch verknüpft Bolaño die immer unheimlicher werdende Costa Brava-Welt mit der Welt des Brettspiels. Spätestens als der Verbrannte den Gegenpart, die Rolle der Alliierten, übernimmt, meint man, es gehe hier wirklich um Leben und Tod, um eine Neuschreibung der Geschichte gar.
Berger übrigens verehrt preußische Militärs ebenso wie NS-Generäle. „Wenn der Verbrannte“, schreibt er, „die deutsche Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts ein wenig kennen und schätzen würde, würde ich ihm sagen, dass von Manstein mit Günter Grass vergleichbar ist und Rommel mit… Celan.“
Das ist natürlich starker Tobak. Da muss der Leser erst einmal tief Luft holen, ebenso wie der Tagebuchschreiber für diesen Vergleich drei Punkte Anlauf braucht. Auch die Behauptung, Deutschland habe den Weltkrieg wegen seines Fairplays verloren, der Beweis dafür sei, dass es kein Senfgas eingesetzt habe, verschlägt einem für einen kurzen Moment den Atem. Entscheidend für Bolaño ist dabei gleichwohl nicht, auf welche Weise Deutschland den Zweiten Weltkrieg verloren hat, sondern dass es ihn überhaupt verloren hat. Das Böse nämlich, das signalisiert jeder Satz von „Das Dritte Reich“, könnte jederzeit auch gewinnen.
Der Schluss des Romans allerdings ist von überraschender Banalität – und unterscheidet sich darin nicht von den meisten romantischen Schauergeschichten. Erst in seinen späteren Werken, besonders in „2666“ und dort gerade in den Mexiko-Kapiteln, wagt Bolaño es, aufs Ganze zu gehen und eine Totalität zu zeichnen, die jeden Ausweg als illusorisch erscheinen lässt. In „2666“ hat das Endspiel längst stattgefunden.
Als deutschen Roman kann man „Das Dritte Reich“ dennoch nicht bezeichnen, dafür ist die Übersetzung häufig zu nah am spanischen Original, etwa wenn sie Sätze mit „Wahr ist, dass“ beginnen lässt. Ungenau ist der Übersetzer auch dort, wo er „unbemerkt“ als Synonym für „unbeachtet“ ansieht, und ärgerlich wird es sogar, wenn jemand, wie es in Christian Hansens Fassung heißt, „in Weinen“ statt in Tränen ausbricht. Ein aufmerksames Lektorat hätte solche Fehler beseitigen können. Eine Chance vergeben, das sei noch hinzugefügt, haben auch die Redakteure von Du . Das Schweizer Magazin hat seinen Themenschwerpunkt diesmal Roberto Bolaño gewidmet, Anlass ist ein Besuch im Bolaño-Archiv in Blanes, der „nach zwei Fernsehteams“ erste Besuch eines Journalisten, wie das missglückte Selbstlob lautet. Die Bildausbeute ist dabei tatsächlich sehenswert - eine Aufnahme von Bolaños eigenem „Das Dritte Reich“-Spiel, Fotos aus frühen Jahren, Skizzen. Stefan Zweifels Begleittext allerdings hinterlässt den Eindruck, dass er bei seinem Besuch nicht viel mehr gesehen hat als die Kanne Kaffee, die Bolaños Witwe vor ihn hingestellt hat. Statt wirklich tief ins Archiv einzudringen, hechelt der Autor durch die bereits veröffentlichten Romane. Da greife man, bei allen Schwächen eines Frühwerks, lieber direkt zu „Das Dritte Reich“.
Roberto Bolaño
Das Dritte Reich
Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Carl Hanser Verlag, München 2011. 320 Seiten, 21,90 Euro.
Roberto Bolaño
Poet und Vagabund
Du. 15 Euro.
Hier zeigt sich, woher Bolaños
Bedrohungsszenarien kommen:
aus der deutschen Romantik
Aus der Welt des Brettspiels
geht es in die
Umschreibung der Geschichte
Roberto Bolaño in Fès (Marokko) Foto: The Estate of Roberto Bolaño/The Wylie Agency
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Das titelgebende "Dritte Reich" in diesem Roman ist ein strategisches Brettspiel aus den Siebzigern, in dem man die Schlachten des Zweiten Weltkrieges nachspielen kann, informiert Rezensent Martin Halter. Protagonist ist der deutsche Meister darin, lesen wir, der an der Costa Brava seinen Ruf zu verteidigen hat und am Ende mehr verlieren wird als nur eine Brettspielpartie. Es handelt sich um ein Frühwerk Roberto Bolanos, das dem Rezensenten offensichtlich gut gefallen hat. Es enthalte bereits zahlreiche Motive der späteren Werke des Autors, wie beispielsweise "die ästhetische Faszination des Bösen" und "die Suche nach dem heiligen Gral absoluter Literatur". Denn Udo, der Held des Romans, ist für Halter nicht nur ein Spieler, sondern vor allem "Archetyp des radikalen Schriftstellers". Insgesamt handelt es sich um einen "echten Bolano", meint der Rezensent, in mancher Beziehung besser, zumindest aber witziger als die späteren Wälzer des Chilenen.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Jahre nach seinem frühen Tod 2003 hört der chilenische Schriftsteller Roberto Bolano nicht auf, seine Anhänger zu verblüffen. ... Beglückt und benommen legt man diesen Erstling beiseite." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 30.08.11

"Eine Sommererzählung von der Costa Brava, die zum Krimi wird: wie Bolano das Spiel "Das Dritte Reich" allmählich zum alles beherrschenden Element macht, bis es schließlich um nicht anderes geht als um dieses Spiel - das ist einfach atemberaubend erzählt. Ein abgründiger und überwältigender Roman." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.09.11

"Schamlos vermengt Bolano in diesem erst aus dem Nachlass veröffentlichten Buch große Mythen und eine halsbrecherische Kriminal-Story. Und entwirft in sanft schwingenden Sätzen ein Zauber- und Verwirrspiel, in dem fast überall die Fratzen des Bösen lauern." Wolfgang Höbel, KulturSPIEGEL, 26.09.11

"Und schon dieses Frühwerk zeichnet sich aus durch eine Atmosphäre des Ungreifbaren, Unheilvollen und Heillosen, die den Leser nachhaltig in Bann zieht. Und nachhaltig verstört." Helmut Petzold, Bayern 2 (Diwan Büchermagazin), 24.09.11

"...der chilenische Schriftsteller... verstand es, Szenarien von universeller Brisanz zu schaffen." Eva Karnofsky, Deutschlandfunk (Büchermarkt), 30.09.11

"Es zeugt von Bolanos erzählerischer Meisterschaft, dass der Roman mit einer originellen, nie langweiligen Handlung aufwartet." Oliver Jungen, Literaturen, November 2011

"In diesem erstaunlichen Debüt... finden sich bereits alle großen Themen, die Bolanos späteres Werk auszeichnen: Das Unheimliche, das Monströse und die Gewalt, aber auch der Humor, der produktive Wahn und die alles erneuernde Kraft der Anarchie." Katharina Teutsch, Der Tagesspiegel, 22.10.2011
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