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Ein Buch von der großen Verwunderung über eine Zeit, die von Krise zu Krise stolpert, ohne die tieferen Ursachen dieser modernen Erdbeben zu verstehen - oder: verstehen zu wollen? Botho Strauß, der große Einzelgänger der zeitgenössischen Literatur in Deutschland, hebt in diesen Erzählungen die Religion und die Mythen, die Gegenwart als Teil der Geschichte, das Verhältnis der Geschlechter, das Unzugängliche und das Unerklärliche, das Übersehene und das Unverbundene in unterschiedlicher Beleuchtung hervor. Dieser Prosaband vereint Träumerei und strenge Zeitdiagnose und ist ein eindrucksvolles Zeugnis des Nachdenkens über gegenwärtige und kommende Krisen.…mehr

Produktbeschreibung
Ein Buch von der großen Verwunderung über eine Zeit, die von Krise zu Krise stolpert, ohne die tieferen Ursachen dieser modernen Erdbeben zu verstehen - oder: verstehen zu wollen? Botho Strauß, der große Einzelgänger der zeitgenössischen Literatur in Deutschland, hebt in diesen Erzählungen die Religion und die Mythen, die Gegenwart als Teil der Geschichte, das Verhältnis der Geschlechter, das Unzugängliche und das Unerklärliche, das Übersehene und das Unverbundene in unterschiedlicher Beleuchtung hervor. Dieser Prosaband vereint Träumerei und strenge Zeitdiagnose und ist ein eindrucksvolles Zeugnis des Nachdenkens über gegenwärtige und kommende Krisen.
Autorenporträt
Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in der Uckermark. Bei Hanser veröffentlichte er neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke zuletzt die Prosabände "Mikado" (2006), "Die Unbeholfenen" (Bewußtseinsnovelle, 2007), "Vom Aufenthalt" (2009), "Sie/Er" (Erzählungen, 2012), "Der Aufstand gegen die sekundäre Welt" (Aufsätze, 2012), "Die Fabeln von der Begegnung" (2013), "Kongress" (Die Kette der Demütigungen, 2013), "Allein mit allen" (Gedankenbuch, 2014), "Herkunft" (2014), "Oniritti Höhlenbilder" (2016), "zu oft umsonst gelächelt" (2019) und "Nicht mehr. Mehr nicht" (Chiffren für sie, 2021).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2009

Rickeracke! Geht die Mühle mit Geknacke

Im Sternschnuppenfangkorb des Gehirns: Botho Strauß erweist sich in seinem neuen Buch als spätmoderner Krisensehnsüchtler.

Von Hubert Spiegel

Ein Mann, der aus der Fremde in die Heimat zurückkehren will, wird im Zug kurz vor dem Ziel von einem Putsch überrascht. Die Grenzen sind geschlossen, die Einreise ist unmöglich. So kommt es zum erzwungenen Aufenthalt in einer kleinen Grenzstadt: Der Reisende als verhinderter Heimkehrer, als Aufgehaltener, der zur Tatenlosigkeit verdammt erscheint. Aus dem Reisenden wird ein ortloser, aus der Zeit gefallener Beobachter.

Ein Roman könnte so beginnen. Dann käme sehr wahrscheinlich rasch heraus, dass die Kleinstadt ein dunkles Geheimnis hat, dem der Fremde zufällig auf die Spur kommt. Ein solcher Romananfang verhieße Spannung. Aber das Buch, das so beginnt, stammt von einem Autor, der keine Romane schreibt, der Handlungsbögen in Prosaskizzen und Kleinstdramen komprimiert und den hohen Ton des Epos in der Prosaminiatur einfängt. An das große Erzählwerk wird kaum ein Gedanke verschwendet, denn es ist für ihn die falsche Form: "Episch wäre ich ein Experimentierer gewesen. Anknüpfen aber war mein Handwerk."

Also knüpft Botho Strauß an: an frühere Themen, Gedanken und Bücher. Wie schon in "Die Fehler des Kopisten" von 1997 oder zuletzt in "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" (2004) folgt er auch in "Vom Aufenthalt" der Form des Journals oder Notizbuchs, in dem festgehalten wird, was den Autor beschäftigt, was er festgehalten wissen will und was dennoch durch ihn hindurchgeht wie der Wind durchs Laub: "Was ist in diesem Buch gewesen? Ich habe nichts behalten von dem, was ich aufschrieb. Ein mikrobenhaftes Vielerlei hat mein Gedächtnis für diese Seiten zersetzt", heißt es zur Überraschung des Lesers kurz vor dem Ende der Aufzeichnungen. Mehr als zweihundert Seiten zuvor hatte ihr Verfasser sich die gekörnten, nach ihrem letzten Streich durch die Mühle gedrehten Max und Moritz als Wappenfiguren gewünscht: "Rickeracke! Rickeracke! / Geht die Mühle mit Geknacke." Was bleibt, sind Umrisse, mit "Gedankenmehl" auf den Boden gezeichnet, den nächsten Windstoß erwartend.

Nicht einmal als "Ich" will er an dieser Stelle mehr von sich reden: "Man ist ein Zerstreuter, den kein anderer überblicken oder gar aufsammeln könnte. Jemand, der mit Haut und Haar verschwand, in wen er sich einfühlte." Oder, wie es ein anderes Mal heißt: "All die Menschen, die ich halb sah, halb war." Kein Zweifel, auch das Handwerk des Anknüpfens hat seinen Preis. Aber was sind seine Früchte? Der Autor zählt sie selbst auf: "Spaziergänge, Halluzinationen, Einfälle, Abschnitte und Zufluchten eines Mannes, der nicht an Jahren alt ist (heutzutage!), aber an Gefühl."

Eine dieser Halluzinationen geht so: Ein Mann, der Erzähler, geht durch ein Kornfeld, da sieht er am Himmel das Bild eines Mannes, der vom Firmament herabgrinst wie von einem Urlaubsfoto. Sofort überfällt ihn der Gedanke, eine neue Technik könnte den Himmel als Projektionsfläche missbrauchen: "Dem Chaos des Beamens wäre keine Grenze gesetzt."

Aber es gibt auch ganz andere Projektionen. Bei einem seiner Spaziergänge wird der Erzähler zum Gegenstand einer Verwechslung: Ein Ehepaar hatte sich gestritten, und beide verließen im Zorn das Haus. Als die Frau auf dem einsamen Feldweg eine männliche Gestalt sieht, glaubt sie, es handle sich um ihren Mann und läuft zu ihm, um sich zu entschuldigen. Erst im letzten Moment erkennt sie ihren Irrtum und steht verstört vor dem Erzähler, der sie nun auffordert, ihm alles zu sagen, was ihr auf der Seele liegt. Die Frau tut, wie ihr geheißen, und auch der Erzähler entschuldigt sich für Streit und böse Worte. Man küsst sich und geht auseinander.

Derartige Einfälle erzählerisch auszuspinnen, hieße einem Handwerk folgen, dem Strauß nie viel abgewinnen konnte. Den dickleibigen Romanen "mit ihren schlechtgesehenen Menschen, schlechtgesehenen Ansichten" weitere Exemplare hinzufügen? Wozu? Wozu überhaupt schreiben, wenn einen Angstvisionen plagen wie jene, "die ganze geschriebene Welt" könne zwischen zwei Klammern, die wie Stahlwände zusammenrücken, zu einem einzigen Quader zusammengepresst werden, so dass "von allen Werken und Entwürfen, von allem Können und Entsprechen nur dies bittere Faktum einer formschlichten Traurigkeit übrigbleibt, ein stummer Quader Schrift".

Von solcher Art sind die Leiden des Dichters, der sich als möglichen Nachfahren des ausgestorbenen "Hofmannsthalopithecus" imaginiert, ein spätmoderner Krisensehnsüchtler, der seinen "Leopold-Andrian-Stimmungen" folgt, es aber auf Dauer auch nicht aushält in seiner feingemauerten "Festung der Feinheiten". Rickeracke! Die Mühle steckt fest. Was vom Reservoir des Idealen behauptet wird, erweist sich auch für das Reservoir des Gegenwartskritikers als zutreffend: es ist nicht beliebig erweiterbar.

Also sind es die alten Themen, die Botho Strauß aufs Neue zwischen die Mahlsteine seiner Reflexion schiebt. Er verhöhnt die "traurigen Ritter der Vorteilsbeschaffung", die Singles, diese "Sackgassenmenschen", und die "Genderoptimierten", er konstatiert die Ausbreitung des Stumpfsinns, der "durch die Kapillare geteilter Interessen, Verrichtungen und Plätze" jede Intelligenz durchzieht, und er beklagt den "Totalausfall an hetärischer Intelligenz" im Verhältnis der Geschlechter, die auf "gottverlassener Brandstätte" trostlos in der Asche früherer Leidenschaften scharren. Dabei geht es ihm um mehr als den Lustverlust, der aus der Angleichung der Geschlechterrollen folgt: "Sexus ohne Metaphysik ist abscheulichste aller säkularisierter Herrlichkeit." So spricht der Bußprediger wider die kalte Lust, die ohne göttlichen Funken lodern will.

Notiert wird all dies im "Immediatbüchlein. Dem Büchlein vom Unmittelbaren." Aber von Anfang an durchzieht noch ein anderer Ton diese Aufzeichnungen. Im "Sternschnuppenfangkorb" des Gehirns hat sich ein Satz eingenistet, der leitmotivisch wiederholt wird: "Old men ought to be explorers." Er stammt aus den "Vier Quartetten", T. S. Eliots 1943 erschienenem Gedichtzyklus über die Vergänglichkeit, die nun stärker als je zuvor im Werk von Botho Strauß Raum greift. Die Kundschafterrolle, die hier reklamiert wird, führt zurück in die eigene Kindheit und ins Jenseits: "Wenn wir von Aufenthalt sprechen, haben wir schon mit dem Gang hinunter begonnen."

Mag der Erzähler sich auch Mut zusprechen - "Die Abenteuer des Entdeckens - für mich beginnen sie gerade erst" -, an die Stelle kalter Wut über die Zeitläufte ist gefasste Resignation getreten, zuweilen auch Endzeitbehaglichkeit. Auf seinen Spaziergängen und Wanderungen in der Einsamkeit der Uckermark trauert der Erzähler um das Kind, das er verlor, als der Sohn erwachsen wurde, und im "Genist des Alltags", in den Utensilien seines Haushalts, spürt er schon das Verlangen der Dinge, als Überbleibsel ihren Rang zu erhöhen: Was Staub ansetzt, will Nachlass werden.

Da ist es an der Zeit, sich noch einmal zu verorten, die Mühle anzuwerfen, Rickeracke, und mit dem Gedankenmehl aufs Neue den "magischen Umriss" auf den Boden zu zeichnen. Einmal entsteht so auch das berührende Selbstporträt des Autors. Es zeigt weder Max noch Moritz, sondern einen einsamen Leser im imaginären Zwiegespräch verpasster Zeitgenossenschaft: "Ich fülle nur die kleinen Lücken, die meine Lieblingsautoren in ihren Büchern hinterließen. Was ich schreibe, hätten auch sie schreiben können. Dann und wann haben sie einen verspäteten, posthumen Einfall - dafür gibt es mich." Auch danach also hält der Kundschafter so angestrengt Ausschau: Er sucht den Spalt, durch den er hineinschlüpfen kann ins Schneckenhaus der Tradition.

Botho Strauß: "Vom Aufenthalt". Hanser Verlag, München 2009. 295 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.12.2009

Die Kanaille rührt sich überall
Täuschen wir uns nicht, wie weit das Untere schon nach oben reicht! Botho Strauß ist der Märtyrer des Stumpfsinns. Über seinen neuen Prosaband: „Vom Aufenthalt”
Unterlassungserklärung (07.12.2009)
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Süddeutsche Zeitung GmbH hat heute in oben genannter Angelegenheit eine Unterlassungserklärung abgegeben:
Die Süddeutsche Zeitung verpflichtet sich, es zu unterlassen:
das Bildnis des Hauses von Herrn Botho Strauß und die Angabe
"Grünheide/Uckermark", wie in dem Artikel "Die Kannaille rührt
sich überall" in der Süddeutschen Zeitung vom 05. Dezember 2009,
Seite 18 geschehen,
abzudrucken oder zu verbreiten.
Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne unter Tel.: -8663 zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
i.V. Andreas Gericke
Zentralbereich Recht
Botho Strauß’ neues Buch trägt auf dem Umschlag die Ansicht eines Berggipfels. Der Zeichner, By T’ang Xin (1470 – 1523), betitelte sie: „Der Traum von der Unsterblichkeit”. Manches mag angenehm stimmen am Traum von der Unsterblichkeit, den wohl auch Botho Strauß träumt, unter modernen Menschen aber eines ganz besonders: Dieser Traum enthebt der Geschichte. Denn Ewigkeit soll etwas ganz anderes sein als die trostlosen Wiederholungen, welche der historische Ablauf bietet. Napoleon sei zweimal gefangen worden, und zweimal vertrieb man die Bourbonen, notiert Hegel als Beleg in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte”. Den „18. Brumaire des Louis Bonaparte” beginnt Marx mit den Sätzen: „Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce”. Botho Strauß treibt in „Vom Aufenthalt” den Gedanken weiter: „Nicht bloß wiederholt sich die Tragödie in der Geschichte als Farce, sondern die Unentrinnbarkeit der Farce nimmt tragische Züge an.” Mit jedem Fortschritt des Gedankens hat sich sein Genre verschoben, von Philosophie über Kritik der politischen Ökonomie hin zur Weltanschauung.
Er und die Vielen
In Fragmenten präsentiert sich die Weltanschauung, welche über die tragische Unentrinnbarkeit der Farce belehrt; gleichwohl ist sie durchaus kompakt und übersichtlich ausgefallen. Die Welt, wie Strauß sie sieht, sortiert sich in „die Mehrheit” und „die Wenigen”. Als einen der Wenigen erfüllt Strauß der „Gegenwartsmensch”, der Repräsentant der „Mehrheit”, mit Ekel; er beschimpft ihn, aber auf poetische Weise – wenn’s geht, sogar mit Reim: „Es verbutten die Onliner mit Übergewicht. Noch mehr mehlige Gesichter und Mehlspeisgelichter, flache Köpfe, Gründlinge kriechend”.
Warum aber geht Strauß dem Pöbel nicht einfach aus dem Weg? Weil er es nicht kann. Die Kanaille rührt sich überall; sie ist nicht mehr einfach arm, sondern teils wohlhabend, ja manchmal reich. „Wir stehen eigentlich dauernd am Abfertigungsschalter irgendeiner Airline, befinden uns allerwege unter Hooligans, Sextouristen, ins Handy bramarbasierenden Maklern und Beratern und den traurigen Rittern sozialer Vorteilsbeschaffung. Wir sind überall mit von der Partie, wo es von innerer Ausgeräumtheit nur so dröhnt – und stellen gleichwohl noch kritische Erwägungen darüber an. Ein letztes Mittel, sich zu unterscheiden!”
Gäbe es da nicht noch andere geringfügige Unterschiede – im Handeln – zu denen, die minderjährige Mädchen in Thailand sexuell knechten oder die andern Fußballfans die Knochen brechen? Belanglos, meint Strauß offenbar – die „kritische Erwägung” macht den besseren Menschen. Oder doch nicht? „Wie absurd ist es, über diese im Stumpfsinn Versumpften noch eine Erwägung anzustellen!” Denn was leistet die „kritische Erwägung”? Nach Strauß nur dies: „Sich darüber hinwegzutäuschen, wie weit das Untere schon nach oben reicht”. Wenn „Vom Aufenthalt” eine ausholende „kritische Erwägung” über den „Gegenwartsmenschen” darstellt, dann durchschaut ihr Autor sie zugleich als Illusion: „Der Stumpfsinn steigt durch die Kapillare geteilter Interessen, Verrichtungen, Plätze und durchzieht in Spuren jede Intelligenz.” So ist wenigstens der Stumpfsinn in diesem Weltbild zu etwas gut, dazu nämlich, einem Pathos der Vergeblichkeit Resonanz zu verleihen. Ist sie Strauß’ letzter Seufzer?
Jedenfalls exerziert „Vom Aufenthalt” solche Vergeblichkeit literarisch durch. Strauß bemüht sich nicht, eine reine und schöne Sprache innerer Eingeräumtheit der „inneren Ausgeräumtheit” der Onliner gegenüberzustellen. „Ohne Innensteuerung bewegen wir uns reizgegängelt”, lautet seine Zeitdiagnose. Schade, mag man denken, bloß außengesteuert. Doch schon die „Innensteuerung” hängt ja an einem technischen, in diesem Fall kybernetischen Selbstverständnis, das in die Pathologie modernen Stumpfsinns gehört.
Für das Andere, Bessere leistet Strauß sich kein eigenes Vokabular mehr. Und dies ist nicht sein Versehen, sondern pessimistische Stilfigur. Indem er seine Worte von dem Zustand der Welt angefressen sein lässt, den er beklagt, stilisiert sich Strauß zum Märtyrer des Stumpfsinns. Wie Schwären trägt seine Prosa die faulenden Phrasen des modernen Menschen.
Mächtig erweist sich der Stumpfsinn, da er nicht allein fern des Wahren gedeiht, sondern auch fern des Schönen. „Die Macht – das ist die Macht des schlechten Geschmacks”. Und gegen diese Macht hülfe gar nichts? Wo guter Rat teuer ist, ist Geschichtsphilosophie billig: „Wahrscheinlich bedürfte es nichts weniger als einer ästhetischen Zeitenwende, um Rangfolgen neu zu bestimmen”.
Was hat Strauß dafür aufzubieten? Wer gegen die Gegenwart ist, greift nach Vergangenheit und Zukunft. Gewiss, die vielen sind mächtig – doch die wenigen auf ihre Art auch. Hundert Männer sollen die Kultur der Renaissance in Italien getragen haben. Warum dann nicht auch einmal Straußens ästhetische Zeitenwende? Diese Denkfigur sucht Anhalt in dem, was war. Was sein wird, das Künftige, ist nicht so leicht verfügbar. Doch das ficht Strauß kaum an. Seine andere Denk- und Redefigur ist die des „Sollte nicht irgendwann?” Strauß stellt sich an eine fiktive Stelle in der Zukunft, von welcher her er das, was ist, verspottet.
Denn wenig Gutes findet er daran. Die Männer sind keine ganzen Männer mehr, und die Frauen keine richtigen Frauen. „Die Zunahme an Disgrazie und der Totalausfall an hetärischer Intelligenz macht inzwischen jede Frau zum armen Hascherl, gleich welche soziale Stellung sie einnimmt.” Da die Frauen so total ausfallen, kann auch die Liebe keine rechte Liebe mehr sein. Als Leidenschaft war Liebe einmal etwas Unmittelbares. In der modernen Welt jedoch ist alles vermittelt, durch Medien. Und das ist schlecht. Botho Strauß’ „Aufenthalt” ist sein „Immediatbüchlein”: ein Medium, das keines ist. Sein Autor verachtet von Herzen den „Geist aus zweiter Hand”, denn er hält die eigene für eine erste.
Weltanschauung nach Bedarf
Doch der Geist lebt in der Sprache; wir haben jedes Wort nicht bloß aus zweiter Hand, sondern aus hundertstem und tausendstem Mund. Nicht darauf kommt es an, der Erste zu sein – viel eher darauf, wie sorgsam die Hände und Münder mit dem ihnen anvertrauten Geist umgehen. Wer indes die eigenen Vermittlungen halbwegs vergisst, die im Falle Strauß’ irgendwo zwischen Offizierskasino und Bibelkreis liegen, kann wähnen, Kräfte des Unmittelbaren gegen bloß Vermitteltes zu wenden.
Eine Wahrheit fällt Strauß dabei gewiss zu: Auf bestürzende Weise bestätigt seine Weltanschauung ihren Satz vom kapillaren Eindringen des Stumpfsinns in die Intelligenz. Es vollzieht sich, vielleicht nicht nur kapillar, an ihr selbst. Nationalsozialismus? Eine Frage der Psychologie. „Hitlers Magie lag gewiß nicht in seinem Judenhaß begründet, sondern im Cäsaren-Schema.” Ziviler Ungehorsam? Das Asyl der „kritischen Memme”, die den ehrenvollen Tod fürs Vaterland scheut. Und die Kunde von dieser wie Strauß’ Zoologie des „Gegenwartsmenschen” insgesamt sind Beiträge zu eben dem „Schwatz”, dem „Gerede”, auf das der einsame Schriftsteller der „Berghütte” von jenen fernen Höhen aus herabblickt, welche den Buchumschlag zieren.
Wen immer eine Weltanschauung im Griff hat, den beraubt sie einer Gabe zuallererst: der Gabe der Beobachtung. Es gibt indes Indizien dafür, dass nicht die Weltanschauung des Stammtischs – eines Stammtischs für die Dichterhütte – Botho Strauß im Griff hat, sondern umgekehrt er sie. Es scheint, als könne Strauß sie nach Belieben an- und wieder abstellen. Die Weltanschauung versieht ihren Dienst, ärgert Leute, die Strauß ärgern möchte und hat ihre Schuldigkeit getan.
Das stärkste Indiz für diese Vermutung bietet Strauß’ so durchaus unversehrte Gabe der Beobachtung. „Vom Aufenthalt” enthält einige Porträtskizzen vornehmlich aus dem Umgang der Geschlechter, die wohl kein deutscher Schriftsteller der Gegenwart so wach und knapp zu Papier bringt. Zum Beispiel: „Dieser Mann geht genauso stumm und kompakt neben seiner neuen Frau, wie er jahrelang stumm neben der vorherigen ging. Er spricht nur noch, wenn sich vor ihm eine große Schar Gäste auftut und er sich in Szene setzen kann. Seine Energie, sein Wissen, seine Intelligenz werden von einem einzelnen Menschen nicht geweckt. Er braucht den Platz, die Bühne und die Versammlung. Er ist jemand, der nicht mehr intim sein kann. Ein einzelner Mensch, das bedeutet: Etwas Unhandliches gerät ihm zwischen die Hände. Er weiß nicht, wie er ihn anfassen soll, er wird ungeschickt.”
Hier stimmt alles. Sieben Sätze, und ein Leben ist resümiert. Schwächlich erscheint ihnen gegenüber der Nominalstil der „Zunahme an Disgrazie und der Totalausfall an hetärischer Intelligenz”, Ausdruck der Weltanschauung; der Beobachter Strauß schöpft die Kraft seiner Sprache aus den Verben. Sie sind hier alle aktiv, bis auf eines, das darum hervorsticht: „werden nicht geweckt”. Nur Abstinenz gegenüber der Schuldfrage lässt sehen, was sichtbar wird. Gleich im ersten Satz gewinnt die harmlose Präposition „neben” dramatischen Sinn über den des Ortes hinaus. Und ingeniös führt Strauß zuletzt den Gedanken in ein Paradox. Schien es zunächst, ein Einzelner sei etwas zu Kleines für den Mann – „Er braucht den Platz” –, erweist sich endlich, ein Einzelner sei für ihn zugleich etwas zu Großes: „etwas Unhandliches”.
Dies so zu erläutern, erscheint indes plump und überflüssig, Strauß hat ja alles denkbar klar gesagt. Einige solcher Beobachtungsstücke enthält sein Buch; viele sind es nicht geworden. Man mag sie künftig anthologisieren; anderes wird kaum übrigbleiben. Der genaue Botho Strauß ist gegen den ungenauen Botho Strauß in die Minderheit geraten, ja auf verlorenen Posten. Vielleicht kann man als Märtyrer des Stumpfsinns nicht allzu oft posieren, ohne am Ende einer zu werden. ANDREAS DORSCHEL
BOTHO STRAUSS: Vom Aufenthalt. Carl Hanser Verlag, München 2009. 295 Seiten, 19,90 Euro.
Das Haus von Botho Strauß bei Grünheide in der Uckermark Foto: Christian Thiel/imago
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Botho Strauß' Prosaband "Vom Aufenthalt" sucht unmittelbar den Zwischenraum der angehaltenen Zeit in Sprache zu fassen, und wenn "böse Zungen" ihm auch Langeweile vorwerfen könnten, scheint Roman Bucheli zumindest gefesselt. Allerdings betont der Rezensent, dass ihn das Buch immer dann besonders überzeugt hat, wenn Strauß die besondere Erfahrung der Zeitdehnung in Erzählminiaturen fließen lässt. So zum Beispiel wenn Strauß die Geschichte vom Jesus dreimal verleugnenden Petrus erzählt, denn dann will sie dem begeisterten Rezensenten so taufrisch und "schwerelos" erscheinen, dass er sich wie ein Kind "aus der Zeit herausfallen" sieht. Strauß' kulturpessimistischen Auslassungen kann Bucheli dagegen wenig abgewinnen und seinen aphoristischen Sentenzen kann man als Leser zwar mit Beifall oder Ablehnung begegnen, als Sprache gewordene Zeitdehnung aber überzeugen sie ihn nicht.

© Perlentaucher Medien GmbH
"'Vom Aufenthalt' ist ein Werk, das wie ein Wetterleuchten den Blick mal hierhin, mal dorthin zieht." Volker Hage, Der Spiegel, 19.10.09

"Es sei allen als Medizin gegen den Zeitgeist empfohlen." Tilman Krause, Die Welt, 21.11.09

"Poetisch, bissig und nachdenklich." Simone Dattenberger, Münchner Merkur, 09.01.09