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Günter Kunert hat gesammelt, was im alltäglichen Notfall bewahrt werden muss: Heimat als Reisegepäck, Verwischte Grenzen (Metropole und Provinz), das sind seine Themen; und den Gedenktagen der Deutschen folgend, dem Volkstrauertag, dem 17. Juni oder dem 9. November, dem 13. August oder dem Mai 68, erzählt er seine persönliche deutsche Geschichte. Die Porträts von Primo Levi und Theodor Lessing, von Günther Anders und Wolf Biermann zeigen, worauf es Kunert ankommt: auf ein politisches Bewusstsein, das sich der eigenen Geschichte stellt - und auf die Verantwortung, die der Schriftsteller in…mehr

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Produktbeschreibung
Günter Kunert hat gesammelt, was im alltäglichen Notfall bewahrt werden muss: Heimat als Reisegepäck, Verwischte Grenzen (Metropole und Provinz), das sind seine Themen; und den Gedenktagen der Deutschen folgend, dem Volkstrauertag, dem 17. Juni oder dem 9. November, dem 13. August oder dem Mai 68, erzählt er seine persönliche deutsche Geschichte. Die Porträts von Primo Levi und Theodor Lessing, von Günther Anders und Wolf Biermann zeigen, worauf es Kunert ankommt: auf ein politisches Bewusstsein, das sich der eigenen Geschichte stellt - und auf die Verantwortung, die der Schriftsteller in dieser Geschichte übernehmen muss. Auskunft für den Notfall ist nichts weniger als eine Summe des poetischen und politischen Denkens eines der bedeutendsten deutschen Lyriker und Erzähler.
Autorenporträt
Günter Kunert wurde 1929 in Berlin geboren und starb 2019 in Kaisborstel. Seit 1963 erscheinen seine Werke bei Hanser; zuletzt: Nachtvorstellung (Gedichte, 1999), Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast (Aufzeichnungen, 2004), Irrtum ausgeschlossen (Erzählungen, 2006), Auskunft für den Notfall (2008), Als das Leben umsonst war (Gedichte, 2009), Tröstliche Katastrophen (Aufzeichnungen 1999-2011, 2013), Fortgesetztes Vermächtnis (Gedichte, 2014), Erwachsenenspiele (Erinnerungen, 2015), Vertrackte Affären (Geschichten, 2016), Aus meinem Schattenreich (Gedichte, 2018) und Zu Gast im Labyrinth (Gedichte, 2019). Kunert wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2008

Der Gondoliere von Itzehoe

Günter Kunerts neuer Essayband "Auskunft für den Notfall" ist ein Tagebuch der Erinnerung und der Zukunft: Es reicht von einer Begegnung mit Bertolt Brecht bis zur drohenden Sintflut in Schleswig-Holstein.

Günter Kunert ist seit Jahrzehnten der hellsichtigste Schwarzseher unserer Literatur. Mit diesem Paradox lässt sich die Rolle des Essayisten auf den Punkt bringen. Das zeigt aufs Neue ein Sammelband, in dem nahezu vierzig Essays von Kunert vereinigt sind, die Hubert Witt aus einem Textbestand von etwa tausendsechshundert Typoskriptseiten ausgewählt hat. Aber der Band gibt auch Anlass, sich mit der gängig gewordenen Kurzformel, Kunert sei die "Kassandra von Kaisborstel", nicht allzu gemein zu machen. Im neuen Essayband verdanken die Zeitkommentare und die Betrachtungen zu Gedenktagen ihr Niveau nicht nur seiner Belesenheit, sondern auch seiner zwingenden Argumentation. Taub muss sein, wen die Stimme dieser Essays nicht an irgendeiner Stelle alarmiert.

Allerdings sind manche Gedanken dem Kunert-Leser aus vorhergehenden Essaybänden und aus der Lyrik im Grundriss vertraut. Dennoch handelt es sich hier nicht um Reprisen. Zumal die Essays zur deutschen Geschichte und Zeitgeschichte reflektieren die Erfahrungen des Sohns einer jüdischen Mutter im "Dritten Reich" sowie die Wandlung des jungen Sozialisten in der DDR zum Abtrünnigen und schließlich zum Bürger der Bundesrepublik mit einem Ernst, den mancher Leser in der launigen Erzählweise von Kunerts Autobiographie "Erwachsenenspiele" (1997) vermisst haben mag.

Dass die beharrlichste Kritik an Fehlentwicklungen unserer Zivilisation von einem geborenen Berliner kommt, der nach seiner Übersiedlung in den Westen (1979) in einem kleinen schleswig-holsteinischen Dorf lebt, ist nur scheinbar ein Widerspruch. Von verhältnismäßig naturnaher Warte aus - man lese auch die Schilderungen seines Zusammenlebens mit hilfsbereiten Nachbarn - erscheinen die Gefahren der Zivilisation bedrohlicher, ja monströser als im Getriebe der Metropole (der Megamaschine, wie Kunert sie mit Lewis Mumford immer wieder nennt), wo man täglich lernt, sich mit ihnen einzurichten. Damit soll Kunerts Zukunftsprognose nicht verharmlost, wohl aber eine gewisse Erfahrungsenthobenheit erklärt werden, die dem Entwurf von Hypothesen günstig ist.

Wer sich auf düstere Zukunftsvisionen Kunerts diesmal nicht einlassen will, der halte sich an seine Besichtigung der Vergangenheit. Eines der fünf Porträts von Männern, denen sich der Essayist in besonderer Weise verbunden fühlt, ist das von Theodor Lessing. Mit seiner geschichtsphilosophischen erkenntniskritischen Untersuchung der Geschichtswissenschaft "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen" (1916), mit seiner These, Geschichte sei ein Chaos von Ereignissen, dem erst im Nachhinein Sinn unterlegt werde, wird Lessing zum Gewährsmann Kunerts. Zur Form des Essays entwickelt Kunert einen, wie er selbst sagt, "provozierenden" Gedanken: Der Essay sei ein bevorzugtes Ausdrucksmittel "jüdischen Geistes oder doch: jüdischer Geistigkeit". In Anbetracht der vielen Detektive, die dem "deutschen Geist" auf der Spur zu sein meinten und in ein Labyrinth gerieten oder der vielen Verleumder des "Judentums" sind wir gegen jegliche Schablone misstrauisch geworden. Aber Kunert begründet seine These recht plausibel mit dem Verhältnis zu Texten, das sich in der jüdischen Diaspora herausbildete, mit einer Neigung zum analytischen Denken und scharfsinnigen Argumentieren, aus dem sich in der Emanzipationsepoche "eine fast selbstverständliche Affinität zur Essayistik ergab".

Die Literatur über das Scheitern der Versuche einer deutsch-jüdischen Symbiose ist fast unübersehbar geworden. Aber Kunerts Essays zu "Gedenktagen", in ihrer Mehrheit bisher unveröffentlicht, gehen doch eigene Wege. Museumsausstellungen zu diesem Thema erscheinen ihm generell problematisch, weil sie die Objekte nach Gesichtspunkten der Museumswissenschaft oder einer Geschichtstheorie arrangieren und deshalb, bei allem guten Willen, eine Deformation des hinterlassenen Materials programmieren. Historisiere man den Holocaust als ein abgeschlossenes Ereignis, so unterschlage man zum Beispiel die Tatsache, dass nach dem Kriege schuldig Gewordene Schuldige freisprechen durften. Auch Mahnmale könnten den Eindruck eines Abgeschlossenseins fördern. Aber "die Geschichte kennt kein Verfallsdatum".

Damit werden Antisemitismus und sein Fortleben zum Thema. Mit Besorgnis hat Kunert die "euphorische Zustimmung" zu Walsers Friedenspreisrede in der Paulskirche, zu seiner Erklärung, er schaue inzwischen weg, wenn Filme aus Vernichtungslagern gezeigt würden, zur Kenntnis genommen. Kunert kann nicht in Verdacht geraten, von deutscher Schuld ablenken zu wollen, wenn er hinweist auf "Hitlers willige Helfer" auch in Osteuropa, wo es bis heute keine redliche "Aufarbeitung" solcher Vergangenheit gegeben habe. Zu leicht werde vergessen, dass auch die Sowjetunion ihren jüdischen Bürgern das Wörtchen "Jude" in den Pass stempelte und unter den Opfern stalinistischen Terrors viele Juden waren. Und ein beredtes Beispiel für die Mischung von Zweckmäßigkeitsdenken und verschleiertem Antisemitismus liefert Kunert mit dem Bericht von Walter Ulbrichts Weigerung, 1945 bei der Rückkehr aus dem Moskauer Exil nach Berlin den Juden Hans Rosenberg mitzunehmen (Begründung: Er sehe zu jüdisch aus). Kaum noch verhüllten Antisemitismus findet Kunert in dem ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung erschienenen Romantik-Buch des ehemaligen "Klassikers" der DDR, Peter Hacks: Er glaubte seinen Lesern über Rahel Varnhagen, die Begründerin des berühmten Berliner Salons, mitteilen zu müssen, dass dieses "Judenmädchen", bevor es ihr gelang, "Varnhagen vor den Altar zu schleppen, sich ihrerseits als Soldatenweib und Lagerhure versucht hatte". Zu den Tarnungsformen des Antisemitismus rechnet Kunert nicht nur den Antizionismus, sondern auch die Verquickung des Antisemitismus mit dem Antiamerikanismus.

Teil des Rückblicks auf den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 ist die Erinnerung an ein Treffen bei Stephan Hermlin, zu dem Brecht auch Kunert eingeladen hatte. Brechts Idee, dem "Neuen Deutschland", der Staatszeitung, eine Kulturseite für freie Diskussion beizulegen, stieß - wen wundert's - auf eisige Ablehnung, beim Doktrinär Kuba, aber auch auf ein Ja-Nein Hermlins, so dass die Verschwörung ausging wie das Hornberger Schießen. Ja, Hermlin lieferte noch seine Treuebekundung nach mit der Erzählung "Die Kommandeuse", in der Aufständische des 17. Juni eine ehemalige KZ-Wächterin aus dem Gefängnis befreien.

Überhaupt schmerzen die Erfahrungen, zumal das Schlüsselerlebnis, die Errichtung der Berliner Mauer, wie unlösliche Widerhaken. "Die Mauer zog sich durch das Seelenleben aller . . . sie steckt noch immer in uns." Gerade deswegen ist eine politisch geschürte DDR-Nostalgie, die "Ostalgie", so bedenklich. "Die Verbrüderung hielt nicht vor", schreibt Kunert zehn Jahre nach der Wiedervereinigung, weist einen Teil der Schuld an der Enttäuschung aber auch den Politikern des Westens zu, ihrer Verkennung der Lage einer völlig maroden DDR-Wirtschaft. Nicht aufgeben freilich will Kunert die Hoffnung, dass doch am Ende alle das wiedervereinigte Deutschland als "Heimat" annehmen. Und vielleicht sollte man hier an einen Gedanken aus Bernhard Schlinks Essay "Heimat als Utopie" (2000) erinnern: Heimat könne auch dort sein, wo dem Individuum "rechtliche Anerkennung und rechtlicher Schutz" geboten werde.

Dieses neue Buch Kunerts ist nicht der in sich bündigste, wohl aber der anregendste seiner Essaybände. Wo Kunert die Grenze vom Essay zur Erzählung überschreitet, nämlich im Schlusstext "Tagebuch einer Zukunft", bleibt seine Katastrophen-Utopie recht gemäßigt, bleibt jedenfalls weit hinter einem Schreckensszenario wie in Frank Schätzings Erfolgsroman "Der Schwarm" (2004) zurück. Die Sintflut, hervorgerufen durch die Erderwärmung und das Abschmelzen der Eisberge, ist zwar bereits auf dem Marsch und hat die Häuser des schleswig-holsteinischen Itzehoe erreicht, aber solange man sich in Gondeln durch die Straßen bewegt, bietet diese Stadt noch das Bild eines idyllischen "Venedig des Nordens".

WALTER HINCK

Günter Kunert: "Auskunft für den Notfall". Essays. Hrsg. von Hubert Witt. Carl Hanser Verlag, München 2008. 304 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Nicht den bündigsten, wohl aber den anregendsten Essayband aus der Feder des "hellsichtigsten Schwarzsehers" Günther Kunert hält Walter Hinck da in Händen. Für Hinck ergibt die Lektüre der versammelten Zeitkommentare und Betrachtungen das Bild eines so belesenen wie zwingend argumentierenden Autors. Sind ihm die dargelegten Gedanken "im Grundriss" aus Kunerts früheren Essaybänden und aus dessen Lyrik vertraut, so sieht er in ihnen dennoch keine Reprisen. Sehr ernst erscheinen Hinck die Texte, und des Autors "naturnahen" Standpunkt hält er für geeignet, die Gefahren der Zivilisation hypothetisch ordentlich finster darzustellen. Wem die Zukunftsvisionen oder auch die "schmerzhaften" Kommentare zur mangelnden Aufarbeitung der Vergangenheit zu dunkel sind, dem empfiehlt Hinck die gleichfalls enthaltenen Porträts von Figuren der Zeitgeschichte, Lessing zum Beispiel.

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