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Viele Jugendliche haben mit der Gesellschaft gebrochen. Hartmut von Hentigs Manifest macht mutige Vorschläge, wie diese soziale Erosion zu stoppen sei. Er bezweifelt, ob die Schule in der Mittelstufe überhaupt der geeignete Ort für Bildung und Erziehung ist. Die Schulzeit soll in dieser Phase unterbrochen werden, damit die Jugendlichen andere, praktische Erfahrungen sammeln können - in erster Linie die, gebraucht zu werden und sich zu bewähren. Überhaupt sollte der Schule ein soziales Jahr für alle folgen. Die Jugendunruhen in Frankreich haben gezeigt, was passieren kann, wenn sich eine ganze Generation überflüssig fühlt.…mehr

Produktbeschreibung
Viele Jugendliche haben mit der Gesellschaft gebrochen. Hartmut von Hentigs Manifest macht mutige Vorschläge, wie diese soziale Erosion zu stoppen sei. Er bezweifelt, ob die Schule in der Mittelstufe überhaupt der geeignete Ort für Bildung und Erziehung ist. Die Schulzeit soll in dieser Phase unterbrochen werden, damit die Jugendlichen andere, praktische Erfahrungen sammeln können - in erster Linie die, gebraucht zu werden und sich zu bewähren. Überhaupt sollte der Schule ein soziales Jahr für alle folgen. Die Jugendunruhen in Frankreich haben gezeigt, was passieren kann, wenn sich eine ganze Generation überflüssig fühlt.
Autorenporträt
Hartmut von Hentig, geboren 1925 in Posen, Professor emeritus für Pädagogik an der Universität Bielefeld, war bis 1987 Wissenschaftlicher Leiter der Laborschule und des Oberstufen-Kollegs des Landes Nordrhein-Westfalen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.09.2006

Raus aus dem Schulhaus
Hartmut von Hentig plädiert für ein Lernen in Gemeinschaft
Trotz aller Aufregung über schwache Pisa-Leistungen und die Gewalt an Schulen kommen allenfalls Fanatiker auf die Idee, ihre Kinder den Lehranstalten einfach zu entziehen. Bei allem Unmut genießen die Schulen doch so viel Vertrauen, dass Schwänzen und Schulabbruch nicht zu Akten der Befreiung stilisiert werden können. Michel de Montaigne nannte die Bildungsstätten seiner Zeit „wahre Kerker der gefangenen Jugend”. Das kann man heute nun wirklich nicht mehr sagen. Umso provozierender ist es, wenn einer der größten deutschen Pädagogen der Gegenwart für eine „Entschulung” des Lernens plädiert.
In einem kurzen, gedankenreichen Manifest wirbt Hartmut von Hentig dafür, pubertierende Jugendliche aus den Schulen zu holen. Sie sollen erfahren dürfen, was eine Gemeinschaft ist – „eine weniger künstliche und zufällige als die Schulklasse, in die man sie hineinverwaltet hat”. Der emeritierte Professor, der einst die Laborschule in Bielefeld geleitet hat, nennt sich einen „individualistischen Pädagogen”, der an der Schwächung des Gemeinwesens leide. Der 80-Jährige hat ein wenig Angst, für einen gemeinschaftstümelnden braunen Ideologen gehalten zu werden. Aber dies wäre ein abstruser Verdacht. Hentig steht in der ehrenwerten Tradition einer experimentellen Pädagogik, wie sie etwa der Pragmatist (und Linke) John Dewey geprägt hat.
Und so liefert der Autor für seinen Vorschlag auch gleich ein konkretes Konzept: In einem zehnjährigen Modellversuch, am besten in einer mittleren Großstadt, will er die Mittelstufe „entschulen”, möglichst über alle Schulformen hinweg. Die Siebt- und Achtklässler sollen Erfahrungen in der weiten Welt außerhalb des Klassenzimmers sammeln: in Handwerksbetrieben, bei archäologischen Grabungen, auf Bauernhöfen, in Laboren, Orchestern, Gärten. Hentig denkt auch an langfristige Projekte, an eine „sich selbst fortzeugende Aufgabe”: einen Film drehen; einen alten Kotten ausbauen; einen Stadtteil studieren; mit einem Segelschiff auf große Fahrt gehen.
Die segensreiche Klingel
Welche Reaktionen dieser Ruf nach dem „Abenteuer der entschulten Schule” auslösen wird, kann sich Hentig vorstellen. Lernen die Kinder da überhaupt noch was? Ist mehr Praxis nicht ein Anachronismus in unserer theorielastigen Welt? Es gehe ihm nicht um eine „Ent-Intellektualisierung”, betont der Autor. Die Verführung, alle über den Kamm der praktischen Erfahrung zu scheren, sei groß, aber vermeidbar. Zum einen soll es durchaus noch ein paar Stunden Unterricht geben, in denen die Kenntnisse der formalen Schulfächer wachgehalten werden. Zum anderen setzt Hentig darauf, dass in jedem praktischen Projekt genug Stoff für Abstraktes und Textliches steckt.
Das Ganze steht und fällt mit den Pädagogen, die aufgehen müssen in der neuen Form des Lehrens und Lernens. Ihr Beruf ist es dann, „ein Erwachsener zu sein, der mit Zuwendung, Geduld, Festigkeit, Improvisationsgabe, Lebenserfahrung und Fantasie für das gegenwärtige Leben einsteht”. Diese Menschen muss man erst mal finden – und die Gefahr ist groß, dass sich vor allem Sonderlinge und Bindungslose für dieses Lehrleben entscheiden werden. Die „entschulte Mittelstufe” ist ein interessantes Modell gerade für Jugendliche, die Stunde um Stunde in der Schule absitzen, ohne darin einen Sinn zu sehen. Doch es reibt sich mit der Logik einer funktional differenzierten Gesellschaft. Es fordert den Schüler und Lehrer als ganze Personen, es will das Lernen ins Leben mit all seinen Formen und Facetten verlagern.
In der Pubertät ist der Wunsch groß, auszubrechen aus den Institutionen und ihren Begrenzungen. Dieser Wunsch ist verständlich, die Schulen leiden ja auch oft unter zu engen Grenzen. Es kann der Schule gut tun, wenn sie sich für Vereine und Betriebe öffnet, wenn sie sich auf den Nachmittag ausdehnt und sich löst vom strikten Takt der Stunden und Lehrpläne. Doch soll und kann sie sich so weit entgrenzen, wie Hentig das wünscht? Die schulische Ordnung hat doch auch etwas ungemein Entlastendes: Der Lehrer ist nur der Lehrer, Privates spielt eher am Rande eine Rolle; jeder Schultag ist einmal zu Ende, es schrillt die Klingel, der Schüler geht seiner Wege; der Lehrplan enthält dieses und jenes – er martert die Jugendlichen nicht monatelang mit dem immer selben großen Projekt, das nie enden will. Und wer sich nach einer Runde am Lagerfeuer sehnt, kann jederzeit zu den Pfadfindern laufen.
Das alles spricht aber nicht dagegen, gute Lehrer zu sammeln und ein pädagogisches Experiment zu wagen. Die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg wird die Freiwilligkeit der Teilnehmer sein, wie der Autor zu Recht betont. Und deshalb verstört er den Leser sehr, als er zu seinem zweiten Vorschlag ausholt. Hentig streitet nämlich auch für ein verpflichtendes soziales Jahr nach der Schule. Als „Dienst am Gemeinwesen” stellt er es dar; „Pflicht” sei durch Missbrauch in die Nähe von „Zwang” gerückt. Dabei komme das Wort von „pflegen”, und es gehe um eine aus Einsicht zu erfüllende Aufgabe. Mag sein. Aber wenn nun mal vielen die Einsicht fehlt, wird die auferlegte Pflicht eben doch zum Zwang. Und der richtet bei sozialen Diensten eher Schaden an.
TANJEV SCHULTZ
HARTMUT VON HENTIG: Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein. Hanser Verlag, München 2006. 108 Seiten, 12,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2006

Am Ende der Schule kommt der Dienst an der Gemeinschaft
Ein Einfall für die kleinen neuen Bürger: Der große alte Pädagoge der Bundesrepublik Hartmut von Hentig fordert ein soziales Jahr für alle Jugendlichen

Liebe junge Menschen, wenn sich der Vorschlag des einundachtzigjährigen Pädagogen Hartmut von Hentig politisch durchsetzt, dann werdet ihr demnächst in euren noch kurzen Lebenslauf ein ganzes Dienstjahr einlegen müssen. Warum? Damit sich bei euch der Sinn für die Gemeinschaft entwickle und ihr dadurch zu guten Bürgern werdet.

Als Hartmut von Hentig im vergangenen Jahr achtzig Jahre alt wurde, gratulierten ihm der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, und auch der Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, gratulierte ihm und noch viele andere, weil Hartmut von Hentig ein zuverlässiger und engagierter Zeitgenosse ist, der den Glauben an die Bildbarkeit des Menschen und an die sich daran anschließende schrittweise Verbesserung der Gesellschaft vorbildlich in Projekte umsetzt und in Schriften darstellt.

Hentig, der in den siebziger Jahren die berühmte Laborschule in Bielefeld gründete, hat viele Bücher geschrieben und sich bei zahlreichen Anlässen zu Wort gemeldet. Er hat Altphilologie studiert, unter anderem an der University of Chicago. In den fünfziger Jahren wurde er Lehrer am Birklehof, einem angesehenen Internat im Schwarzwald. Anfang der sechziger Jahre wurde er Professor und Direktor des Pädagogischen Seminars an der Universität Göttingen, 1968 ging er nach Bielefeld. Hentig gehört neben Walter Jens und Christian Meier zu den wenigen gesellschaftsfreundlich, aber auch -kritisch engagierten Altphilologen der Bundesrepublik, deren Wissen um den Wert der griechischen Polis, dieser ersten halbwegs demokratischen Gemeinschaft, sie niemals, auch nicht in den von Revolutionswünschen heftig durchwehten sechziger Jahren, dazu verleitete, ihre Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu überspannen.

Hentig hat, denkt er an die Aufgaben der Schule, vor allem zweierlei im Sinn: Einerseits soll die Schule die jungen Menschen in ihrem Selbstvertrauen stärken, damit sie andererseits die sogenannten Sachzwänge der Gesellschaft als von Menschen gemachte Zwänge verstehen und bei Bedarf verändern können. Sein pädagogisches Ideal ist eine moderne Polis-Kompetenz für alle. Pädagogik bedeutet für ihn die "Anleitung der jungen Menschen zum Leben in der Gesellschaft" - so steht es auch in seinem neuen Buch.

Ohne Pädagogik im Hentigschen Sinne läuft in der Gesellschaft letztlich nichts Gutes beziehungsweise von vornherein alles schief beziehungsweise alles so wie immer. Der leidenschaftliche Pädagoge Hentig gehört mit dieser Vorstellung von der Bedeutung seines Faches zu jenen Geisteswissenschaftlern, die ihre spezielle Wissenschaft als die Grundlagenwissenschaft für eine gelingende Gesellschaft verstehen - auch Soziologen, die sich als Kritiker des Kapitalismus verstanden, haben das einmal geglaubt.

Liest man, was Hentig geschrieben hat, hört man, was er sagt, dann hat man den Eindruck, daß seine pädagogischen Ideen eine Verlängerung seiner eigenen Lebens- und Lernerfahrungen sind. Deswegen ist, was er schreibt und sagt, auch nicht akademisch bleich, sondern blattgrün. Hentig spricht, redet er vom Lernen fürs Leben und vom Leben als Lernen, immer in letzter Erfahrungsinstanz von sich als einem mit Freuden lebenslang Lernenden (Hentig ist Pädagogik). Die klassische Bildung, über die er mit nonchalanter Selbstverständlichkeit verfügt, was er auch gerne hier und dort mit einem Schlenker ins Latein oder Griechisch zeigt, ist ihm eine kleine, aber ganz sichere Heimat, von der aus er mit großen Augen und vitaler Neugier seine Lehr- und Wanderjahre in die Moderne und die wissenschaftlich-technische Zivilisation unternommen hat. Er zählt nicht zu jenen Pädagogen und Zeitgenossen in Strickpullovern, die zur Umkehr aus der Moderne aufrufen, aber er gehört ebenfalls nicht zu jenen forschen Gehilfen, die sich der Moderne mit dem Hinweis auf die weltweiten ökonomischen Zwänge, denen nun einmal auch die Bildung und die Ausbildung unterliegen sollen, an den Hals werfen.

Nun hat er ein neues Büchlein vorgelegt, in dem er zum einen die "Entschulung" der Mittelstufe fordert und zum anderen ein "Dienstjahr" für alle Jugendlichen, zu absolvieren nach dem Schulabschluß und vor dem Eintritt ins Berufsleben beziehungsweise vor dem Eintritt in die Universität. Er fordert das, weil er bei den Jugendlichen den Gemeinsinn vermißt. Die Jugendlichen, meint er, würden in unserer Gesellschaft nicht zu Bürgern und Mitmenschen heranwachsen, sondern nur lernen, Funktionen in einem System zu übernehmen, das ihnen ihrer Ansicht nach nur zu ihrem eigenen Vorteil gereichen soll.

Bei einer solchen Einstellung zu den Dingen entwickle sich kein Sinn für die Gemeinschaft, worauf dann das Projekt einer modernen Polis endgültig beiseite gelegt werden müßte. Die dreizehn- bis fünfzehnjährigen Jugendlichen der Mittelstufe möchte Hentig deshalb für einige Wochen zu Lerngemeinschaften außerhalb der Schule bündeln. Die Sommerferien könnten, sagt er, auf drei bis dreieinhalb Monate erweitert werden, während derer die Jugendlichen endlich Gemeinschaft erleben und gestalten: Sie gehen in dieser Zeit "in Lager, machen Fahrten, stellen sich in den Dienst einer humanitären Einrichtung". Jugendliche können zum Beispiel mit ihren Lehrern, die sich an dieser Front auch bewähren müssen, in ein altes Bauernhaus ziehen und es unter eigener Verantwortung und mit fachlicher Unterstützung eines Zimmermannes renovieren.

Das ist das kleine Modell der Gemeinschaftssinnstärkung, das größere sieht ein ganzes Dienstjahr vor. Gemeinschaftsstiftende Erfahrungen sollen alle Jugendlichen aus dem sozialen Jahr schöpfen, wobei die Dienststellen in der Natur, in der Politik oder in humanitären Einrichtungen (auch international) liegen können. Hentig hat eine erste Liste möglicher Einsatzorte zusammengestellt, damit die Sache gleich Hand und Fuß bekommt.

Hat einer der berühmtesten Pädagogen der Bundesrepublik in all den vergangenen Jahren der Schule zuviel zugemutet - oder stehen die Zeiger der Weltuhr auf kurz vor zwölf? Es sieht so aus, als wäre die Schule jetzt für die Visionen Hentigs zu klein geworden - zu klein für die Aufgaben, die Hentig den jungen Menschen stellt, damit aus ihnen gemeinschaftstüchtige Bürger werden. Sollen wir uns Hentigs Dienstjahr für die Gemeinschaft wünschen?

Uns fehlt vielleicht der Schwung der Polis. Wir sehen die Jugendlichen in Altenheimen die Alten pflegen, so wie das die Zivildienstleistenden seit Jahren machen, und wir sehen darauf die Jugendlichen Betriebswirtschaft, Jura, Design oder was auch immer studieren und in irgendwelchen Firmen verschwinden, wo es nur um das Funktionieren geht (und wahrscheinlich auch um so etwas Funktionstüchtiges wie den Teamgeist). Der Gemeinschaftssinn als solcher hilft wenig weiter, wenn die Jugendlichen in der Gesellschaft genau das machen, was die Gesellschaft (und deren Protagonisten) zum ökonomischen Funktionieren braucht und fordert. Der herzliche, aber doch arg beliebige Gebrauch von Gesellschaft mal hier und Gemeinschaft mal dort in Hentigs Büchlein läßt nur darauf schließen, daß dem großen alten Pädagogen die Unterschiede zwischen beiden Begriffen und Wirklichkeiten vor dem goldenen Horizont der Polis, der nach ihm ein goldener Spiegel der Gegenwart sein soll, verschwunden sind.

EBERHARD RATHGEB

Hartmut von Hentig: "Bewährung". Von der nützlichen Erfahrung nützlich zu sein. Hanser Verlag, München 2006. 108 S., geb., 12,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Merkwürdig ist das. Erst lobt Eberhard Rathgeb den großen Pädagogen Hartmut von Hentig über den grünen Klee, dann macht er auf dem Fuße kehrt und erklärt das vorgestellte Modell zur Gemeinschaftsstiftung unter deutscher Jugend für fragwürdig und klagt über die Unschärfe seiner Begriffe. Mit sichtlicher Achtung vor Hentig erklärt der Rezensent dessen Ansinnen, Jugendliche zu humanitären Lerngemeinschaften außerhalb der Schule zusammenzubringen und sie gleich zu einem ganzen Dienstjahr nach Abschluss der Schulzeit zu verpflichten, und lobt anschließend Hentigs Pragmatismus, gleich eine Liste mit möglichen Einsatzorten mitzuliefern. Dann aber befallen Rathgeb Zweifel, ob nicht Hentig, geblendet von der "goldenen Polis", Gemeinschaft und Gesellschaft durcheinander bringt und die Sogwirkung einer ökonomisch stromlinienförmigen Gesellschaft nicht allen schönen Gemeinschaftssinn alt aussehen lässt. Zivildienstleistende, meint Rathgeb, die später Jura studieren, um nur mehr zu funktionieren, gebe es schließlich genug.

© Perlentaucher Medien GmbH