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Was sagt uns der Grundriss einer amerikanischen Stadt über den amerikanischen Traum? Wie haben Eisenbahn, Auto und Flugzeug unseren Sinn für Distanzen verändert? Auf solche Fragen geben herkömmliche Geschichtsbücher keine Antwort. Karl Schlögel findet sie an überraschenden Stellen: in Fahrplänen und Adressbüchern, auf Landkarten und Grundrissen. Er holt damit die Geschichte an ihre Schauplätze zurück, macht sie anschaulich, lebendig und wunderbar lesbar.

Produktbeschreibung
Was sagt uns der Grundriss einer amerikanischen Stadt über den amerikanischen Traum? Wie haben Eisenbahn, Auto und Flugzeug unseren Sinn für Distanzen verändert? Auf solche Fragen geben herkömmliche Geschichtsbücher keine Antwort. Karl Schlögel findet sie an überraschenden Stellen: in Fahrplänen und Adressbüchern, auf Landkarten und Grundrissen. Er holt damit die Geschichte an ihre Schauplätze zurück, macht sie anschaulich, lebendig und wunderbar lesbar.
Autorenporträt
Karl Schlögel, Jahrgang 1948, hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Leningrad Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Bis 2013 lehrte er als Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.2016 Preis des Historischen Kollegs für Terror und Traum (Hanser, 2008). Bei Hanser ist zuletzt erschienen: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen (2015).
Rezensionen
"Eine wunderbare Lektüre ... Karl Schlögel ist ein grandioser Landschaftsmaler, vor allem bei der Charakterisierung osteuropäischer Räume. Er hat ein Werk der Leidenschaft geschrieben, wie es die Geschichtswissenschaft in jeder Generation nur wenige Male hervorbringt. Hier hat ein König gebaut, der noch vielen Kärrnern zu tun geben wird." Gustav Seibt, Literaturen, 1/2 2004

"Karl Schlögel vermisst Europa neu." Johann Michael Möller, Die Welt, 08.11.03

"Ein Buch von tiefem Ernst und großer Leichtigkeit, ein Pamphlet und eine Spurenlese, dicht und welthaltig. Nur zu glänzen ist schon eine ganze Menge. Dieses Buch glüht von innen." Jürgen Osterhammel, Die Zeit, 09.10.03

"Man kann in das Buch irgendwo einsteigen, in der Mitte oder auch am Ende, in ihm herumgehen, neugierig flanieren auf Haupt- und Nebenwegen vom Wissen über den Raum. Der Inhalt hat seine passende Form gefunden." Hermann Horstkotte, Rheinischer Merkur, 09.10.03

"Ein Dutzend Jahre nach dem Untergang des sowjetischen Imperiums zieht Schlögel seine methodische Bilanz, dem wir einige der eindrucksvollsten Schilderungen des wieder erwachenden Osteuropa verdanken ... Schlögels Buch lässt die ersten Linien dieses neuen europäischen 'Geschichtshorizontes' durchschimmern." Johann Michael Möller, Literarische Welt, 08.11.03

"Einer der versiertesten historiografischen Virtuosen." Jürgen Osterhammel, Die Zeit, 09.10.03

"Unter den deutschen Osteuropa-Historikern der Gegenwart ist Karl Schlögel eine Ausnahmeerscheinung. Wort- und schriftgewaltig wie wenige seiner Zunft." Klaus Bednarz, Die Zeit, 01.08.02

"Ein Historiker mit journalistischem Spürsinn und sprachlicher Eleganz." Paul Nolte, Literaturen, 4/2002
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Materialistischer Schuß vor den Bug der Geschichte
Karl Schlögel beobachtet die Historiker bei der Kehre zum Raum und schreibt ihnen dazu das Adreßbuch / Von Christoph Albrecht

Der verlorene Sohn, der sich lange in der Fremde herumgetrieben hat, kehrt heim. Für den Vater ist das ein Tag des Jubels. Doch der daheimgebliebene Bruder blickt sorgenvoll auf sein Erbteil. Nur das neugierige Gesinde, die Zuschauer des Spektakels, wir also, werden in jedem Fall gut unterhalten: Wir lauschen den Abenteuern aus der Fremde, und wir weiden uns schadenfroh an den kleinlichen Ängsten des Erstgeborenen, seinem Neid und seiner Mißgunst. Hat er uns mit seinem Moralisieren über Gehorsam, Fleiß und Sparsamkeit nicht genug gelangweilt?

Eine solche Heimkehr ist uns verkündet. Für nächstes Jahr im September. In Kiel. Auf dem 45. Deutschen Historikertag. "Raum" kehrt wieder - ohne bestimmten oder unbestimmten Artikel, ohne Beiwörter, die ihn auf etwas geographisch oder geschichtlich Bestimmtes eingrenzen. "Kommunikation und Raum" heißt das Motto des Festes. "Raum", der Zeitgeborene der geschichtlichen Anschauung, sei eine "weitgehend verdrängte, weil nationalistisch vereinnahmte Grundbestimmung allen historischen Geschehens", so heißt es in der Ankündigung. Raum hat sich zur Hure des Nationalismus ins Bett gelegt, doch ist der Sünder wieder lebendig geworden, und Zeit soll ihn in die Arme schließen, fordert Vater Geschichte.

Die Historiker bereiten jetzt ihre Thesenpapiere für den großen Tag der Auferstehung vor. Sie werden sich in den Bibliotheken auf Bücher stürzen, die Ausdrücke wie "Raum" oder "Geopolitik" im Titel führen. Sie werden daraus die aktuellen "Catchwords" ziehen, um zumindest vordergründig ihre Versöhnungsbereitschaft zu belegen. Stichwortgeber und Drehbuch für das Fest wird vor allem das neue Buch des Historikers Karl Schlögel: "Im Raume lesen wir die Zeit".

Das Tagungsmotto "Kommunikation und Raum" übersetzt Schlögel im Untertitel in "Zivilisationsgeschichte und Geopolitik". Gemeint ist in der Hansestadt Kiel und in der Grenzstadt Frankfurt an der Oder, wo Schlögel lehrt, dasselbe: daß man den Blick eher auf dauerhafte Strukturen als auf das Ereignishafte der Geschichte richtet, daß man die "raumprägenden" Wirkungen unpersönlicher "Infrastruktur" wie Straßen und Wasserwege, Buchdruckereien und Telegraphenleitungen, mathematischer Gleichungen und physikalischer Experimente untersucht, anstatt etwa nur die Geschichte großer Männer (und inzwischen natürlich auch Frauen) und Gebilde, der weltbewegenden Ideen und Werke zu erzählen.

Wir neugierigen Knechte am Rande des Festes wollen aber dreierlei wissen: Was hatte es eigentlich auf sich mit den sagenhaften Sünden, die jetzt so großmütig verziehen werden? Wie kam es zu der spektakulären Umkehr? Und welche Leistungen im politischen Schweinehüten oder quellenkundlichen Ackerbau verspricht uns der geläuterte Nichtsnutz "Raum" für die Zukunft? Literaturhistoriker wie Erhard Schütz haben an den ästhetischen Wert erinnert, den die Nationalsozialisten mit ihren Autobahnen verbanden. Die buchstäbliche Erfahrung der Landschaft durch die "Volksgemeinschaft" war vielleicht noch wichtiger als der militärische Nutzen. Die Einsicht, daß die Visionen der Nationalsozialisten "tatsächlich räumlich-anschaulich ausformuliert" waren, macht auch für Schlögel dessen "suggestive Durchschlagskraft und Wucht" begreiflich. Dazu gehörte auch der Traum vom "Osten". Mit fliegenden Fahnen sei die Geopolitik zu Hitler übergewechselt. Doch die "Neuordnung" des Ostens war "vor allem ein biopolitisches, dann erst geopolitisches Programm". Unser verlorener Sohn, ist er nicht eher Opfer einer "intellektuellen Vergiftungsarbeit" der deutschen Wissenschaft, einer Ethnisierung und Vergewaltigung, nach der er sich im Lotterbett des Rassismus wiederfand, gemeinsam mit Anthropologen, Ethnologen, Archäologen, Linguisten, die darin die Wonnen der Barbarei, des Machtwahns, des eingebildeten Herrenmenschentums viel ausschweifender auskosteten?

Man wird Schlögel vermutlich zustimmen, wenn er den Vorrang der "Rasse" vor dem "Raum" in der Ideologie der Nationalsozialisten feststellt. Doch ist dieser Unterschied entscheidend? Welche Hure den speziellen Vorlieben eines Freiers am ehesten entspricht, ist ja Zufall. Haben sie sich nicht alle angeboten? Auch Archivare, Historiker oder Bevölkerungswissenschaftler haben sich in den Think Tanks gern hingegeben. Überhaupt scheint uns die Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert überall beweisen zu wollen, daß sie sich praktisch nützlich machen kann, sei es durch historische Gutachten oder technische Blaupausen. Denken wir nur an den Bau der Atombombe. Die Ziele der Nationalsozialisten waren verbrecherisch. Also waren diejenigen, die sie mit welcher Wissenschaft auch immer unterstützen, Verbrecher. Will man so etwa Geopolitik rehabilitieren, muß man diese Disziplin deshalb nicht moralisch reinigen, sondern man muß den Gehalt an Pseudowissenschaft und ideologisch bedingter Meßungenauigkeit ermitteln, durch den sie verdorben ist. Mit anderen Worten: Zu was ist der verlorene Sohn und seine besudelten Werkzeuge nütze? Gibt es ein Objekt, das zu seinem verbogenen Werkzeug überhaupt passen könnte?

Doch bleiben wir vorher bei unserer zweiten Frage: Wie kam es, daß man sich in Deutschland an den unanständigen Reiz von Wörtern wie "Geopolitik" und "Raum" wieder erinnerte? Wenn die Historiker in Kiel zum Raum zurückkehren, vollziehen sie damit offiziell eine Wende, die man als "spatial turn" bezeichnet. Schlögel bringt diese Wende mit dem Niedergang des Historismus, der Zersetzung der kritischen Gesellschaftstheorie und den "Raumrevolutionen" von 1989 und 2001 in Zusammenhang. Der Historiker Wolfgang Weber hat gezeigt, daß die elitäre Haltung des Historismus schon an der Vermassung der Universitäten zugrunde gehen mußte. Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes gerät alle Wissenschaft unter den Zwang, sich neu zu legitimieren: Es genügt nicht mehr, "Freiheit" im Gegensatz zu kommunistischer Kommandowissenschaft zu repräsentieren. Für Schlögel ist nur entscheidend, daß die Krise des Historismus den "disziplinären Druck der Fakultäten" lockert und den Blick auf die "räumliche Seite der geschichtlichen Welt" freigibt. Seit dem Fall der Mauer wurden viele Grenzen - oft mit Blut - neu gezogen, und unsere Weltbilder wurden zu Makulatur wie die alten Karten und Atlanten. Vor dem "11. September" schien sich die Welt für manchen im Virtuellen zu verflüchtigen. Danach beginnen neue globale Konfliktlinien unsere mentalen Karten zu prägen. Das alles ergibt einen gewalttätigen "Schuß Materialismus" vor den Bug der Geschichtswissenschaft.

Die Geschichte wird dadurch von ihrem sicheren narrativen Weg entlang der Küstenlinie mit ihren markanten Hafenstädten und Leuchttürmen hinaus ins offene Meer getrieben. Hier also muß sich der orientierungschaffende Nutzen der Kehre zum "Raum" beweisen. In knapp fünfzig Essays skizziert Schlögel die Karte eines Archipels möglicher Themen: Geist und Zeichensprache der Karten, Krieg und Beobachtung, die topographische Hermeneutik Walter Benjamins oder die räumliche Sichtweise des Kartographen und Meisteragenten Sándor Radó, die meßtechnische Konstruktion von Nationen und Empires, die kartographische Erfindung des amerikanischen Kapitalismus, Landnahme und Namensgebung, die Physiognomie von Landschaften und Trottoirs, von Städten und Gebäuden, die raumbildende Macht von Infrastruktur, die Poesie von Eisenbahnen, Telegraphenleitungen, Highways, die Topographien des Terrors, der Flucht, des Sterbens.

Die meisten dieser Essays sind "Vorüberlegungen zu kommenden Arbeiten" oder appetitmachende Umschreibungen wegweisender Veröffentlichungen, deren Nachzügler alle jene sind, die demnächst in Kiel den "spatial turn" vollziehen. Oder in der Sprache der Segler: die mit dem Wehen des Zeitgeists im Rücken die "Halse" in den Raum des Gleichzeitigen, der mannigfaltigen Bezüge, Analogien und Vernetzungen machen.

Originell wie die übrigen Bücher Schlögels sind jedoch die kleinen Studien über Adreßbücher, alte Kursbücher der Eisenbahn oder die Baedeker der Touristen. Schlögel liest sie als "Quellen sui generis", nicht nur als historische Hilfsmittel. Das Berliner Adreßbuch erschließt uns Schlögel als "Dokumentationen der Gleichzeitigkeit": "Soziogramm und Organigramm der politischen und ideologischen Apparate", "Museum untergegangener Professionen", Zeugnis des Wunders menschlicher Vergesellschaftung, aber auch Proskriptionsliste ermordeter jüdischer Mitbürger und Werbemedium für Enttrümmerungs- und Schuttbeseitigungsfirmen nach dem Krieg. Die Wiederkehr des Moskauer Adreßbuchs 1987 war symptomatisch für "Krise und Erneuerung der russischen Gesellschaft unter Gorbatschow". Schlögels vorläufiges Adreßbuch raumbezogener historischer Themen will symptomatisch sein für Krise und Erneuerung der Geschichtswissenschaft.

Karl Schlögel: "Im Raume lesen wir die Zeit". Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Hanser Verlag, München 2003. 566 S., geb., 25,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2003

Zwischen Raum und Wirklichkeit
Karl Schlögel hakt sich bei Herodot und Benjamin unter, um Schmitt aus dem Wege zu gehen
Auf der Gipfelhöhe seines Ruhms angekommen, einige schöne Bucherfolge hinter sich, beschloss der Autor, Rechenschaft zu geben vom Programm seiner Schriften. Welchen Weg hatte er, bald frisch ausschreitend, bald wieder zaghaft, eigentlich zurückgelegt? Wohin würden ihn seine nächsten Schritte führen? Was hatte er gesucht und was gefunden? Das Buch, das seiner methodischen Selbstbespiegelung entsprang, trug den Titel „Die Archäologie des Wissens”. Zu Recht gilt es bis heute als das „schwierige” Buch Michel Foucaults, die harte Frucht der Reflexion. Das wird man von Karl Schlögels jüngstem Werk nicht sagen. Essayistisch und erzählerisch, vielseitig zugänglich, setzt es seinem Leser wenig Widerstand entgegen. Und doch hinkt der Vergleich mit der „Archäologie des Wissens” kaum. Auch Schlögel hat den Traktat seiner Methode geschrieben. Auch er blickt zurück auf den Weg, den er genommen hat, und voraus auf den, der vor ihm liegt.
Karl Schlögel wäre von dem Vergleich vermutlich wenig erbaut. Unausgesprochen liegt der Verdacht nahe, dass er Foucault unter die Verderber der Historie zählt, die ihr die Anschauung ausgetrieben, den Sinn und die Worte für die Wirklichkeit geraubt und stattdessen das Stroh des Diskurses in den Kopf gefüllt haben. Wenn es etwas gibt, was diesen freundlichen Mann in Rage zu versetzen vermag, dann ist es das Geraschel der Begriffe und Diskurse, das sich für die Wirklichkeit ausgibt. Und nichts freut ihn mehr als der Anblick eines Forschers, der mit nimmermüdem Appetit auf Länder, Leute, Landschaften und Städte die Welt durcheilt und beschreibt: Humboldt und Herodot sind seine Helden. Vor den Windmühlen des Diskurses aber legt Karl Schlögel seine Lanze ein.
In schöner und angesichts eines 500-Seiten-Werks nicht unkoketter Bescheidenheit bekennt der Autor, es sei ihm „im Grunde um einen einzigen Gedanken” gegangen. Der lautet, „dass wir ein angemessenes Bild von der Welt nur gewinnen können, wenn wir beginnen, Raum, Zeit und Handlung wieder zusammenzudenken”. Gottlob formuliert Schlögel nicht immer so feierlich. Was er meint, ist, dass unser Nachdenken über die Welt, speziell über die Welt von gestern, also über die Geschichte, eigentümlich weltlos geworden ist. Das liegt daran, dass wir den Sinn für den Raum, in dem Geschichte immer spielt, verloren und nur die Dimension der Zeit übrig gelassen haben: Ortlos sind wir geworden, Gespenster des zeitlichen Werdens. Wenn wir aus der Schattenwelt zurückkehren wollen, müssen wir lernen, uns wieder im Raum und in der räumlichen Wirklichkeit der Dinge zu begreifen. Die Bibliothek verlassen, die Tür öffnen und auf die Straße treten.
Die Konstruktion seines Narrativs nötigt Schlögel dazu, zwei Geschichten zu erzählen, eine Verfallsgeschichte und eine Hoffnungsgeschichte. Eine schöne Geschichte und eine schlimme Geschichte. Zwischen den vielen kleinen Lehrstücken und Exempla, die er, bald Alexander Kluge nahe und bald Hebbels Hausfreund, in loser Folge zu einem Panorama des 20. Jahrhunderts reiht, treten immer wieder der schwarze und der weiße Faden einer Geschichtsphilosophie zutage. Die freilich darf sich heute so nicht mehr blicken lassen und verkleidet sich als „hausbackener Gesell”, welcher zurückkehrt und den Frieden der plaudernden Gesellschaft stört.
Die schöne Geschichte beginnt mit der Feststellung, dass die schlimme Geschichte vorüber ist: „Etwas ist zu Ende.” Und weiter: „Wir treiben wieder Erdkunde, wenngleich nicht in einem altbackenen Sinne.” Schlögel begrüßt die Wiederkehr des Raumes in vielfältiger Gestalt, in der politischen „Raumrevolution” nach 1989 ebenso wie in dem „kräftigen Schuss Materialismus”, der die so lange um Virtuelles und Simulacra kreisenden Diskurse vertreibt. Gut möglich, dass ihn seine Nase nicht getrogen hat: So etwas wie eine Renaissance des Raumes oder der Raum-Begriffe scheint allenthalben spürbar, in den historisch argumentierenden Geistes- und Kulturwissenschaften ebenso wie im politischen Denken. Wäre dies nicht der Augenblick, eine Zeitschrift für Geopolitik zu gründen? Aber das ist nicht der Punkt, auf den Karl Schlögel zielt. Seine schöne Geschichte läuft auf etwas anderes hinaus; nicht auf eine Lehre von Macht, Raum und Geschichte, sondern auf eine neue Beschreibungskunst. Schlögel lehrt, mit Walter Benjamin zu reisen, er lehrt nicht, mit Carl Schmitt Land zu nehmen.
Die schlimme Geschichte könnte sich ihren Titel bei Nietzsche borgen: Wie die wirkliche Welt zur Fabel wurde. Wir sind, sagt Schlögel, der wirklichen Welt abhanden gekommen. Und daran waren zwei Mächte schuld, der Historismus und das schnelle Denken. Für Karl Schlögel ist der Historismus ein Feind, der zu siegen nicht aufgehört hat. Historismus bedeutet für ihn die Schwäche eines historischen Denkens, das sich seiner brüderlichen Verbundenheit mit der Erd- und Landeskunde nicht mehr entsinnt und in einer Marginalisierung des Räumlichen endet. Für Schlögel, der seinem Stichwortgeber Edward Soja folgt, führt der Weg des historischen Denkens seit Hegel und Ranke zu einer „stillschweigenden Tabuisierung des Räumlichen”. Ausgerechnet diejenige Schule des historischen Denkens, die dieses kritische Schweigen aufbrechen wollte, die Anthropogeographie Friedrich Ratzels, ist, ethnisiert und machtbewusst zur „Geopolitik‘ aufgerüstet, nach 1945 ebenfalls tabuisiert worden: ein Tabu, das Schlögel gern aufgehoben sähe.
Hand in Hand mit dem ausschließlichen Denken in Zeitbegriffen geht das schnelle Denken. Schnell ist es, weil es keine Umstände macht: Es ist immer schon mit den Dingen fertig, weil es sich nie auf sie eingelassen hat. Schlögel ist ein umständlicher Denker; er liebt die Dinge, die die Geschichte umstehen; andächtig (im Sinne von Benjamins „Andacht zum Unbedeutenden”) umkreist er sie, betrachtet und belauscht sie. Hinter der Weltflucht des schnellen Denkens hingegen steckt die Angst. Es fürchtet sich vor der Wirklichkeit der Körper und der Grenzen, es fürchtet sich vor der Aufdringlichkeit der Bilder: „Wir haben die Bilder nicht ausgehalten und sind ausgewichen, dorthin wo es weicher und für uns erträglicher zugeht: in den Himmel der Prinzipien. . . Aber die Gefechte, bei denen man Kopf und Kragen riskiert, finden nicht im Himmel der Ideen statt. . . Wenn wir unseren Augen mehr getraut hätten, wenn wir den Anblick der Schrecken des 20. Jahrhunderts ausgehalten hätten, wären wir weniger um Ausreden bemüht gewesen. Bilder aushalten, den Bildern ins Auge sehen – das ist eine mutige erkenntnistheoretische Haltung, keine Durchhalteparole.”
Schlögel mag am klarsten sein, wenn er, wie hier, die Verfallsgeschichte des Sehens beschreibt (die auch Martin Jay schon beklagt hat, freilich nur mit Blick auf Frankreich), am beeindruckendsten, wenn er mit prophetischem Zorn den „Skandal” geißelt, „der darin besteht, dass das Massiv der Wirklichkeit einfach nicht von Belang war”. Am besten aber ist er, wenn er wirkliche Orte und Repräsentationen von Orten beschreibt, die Karte des Ghettos von Vilnius oder den „Philo-Atlas” der jüdischen Emigration, Benjamins Wege durch Paris und Jeffersons Kartenbild von Amerika: Dann wird der Wanderer zum Zauberer, der das Vergessene rettet und dem Verstummten wieder zur Sprache verhilft. Dann versteht man etwas von der Begeisterung, mit der Schlögel die marode Figur des Flaneurs wieder aufbürstet: In der Bewegungsform des „memorierenden Schlenderns” soll die Historie noch einmal und wie zum ersten Mal die Augen aufschlagen. Mit geschärften Sinnen möchte Schlögel noch einmal durch das Moskau des Jahres 1937 wandern, das Moskau des „Großen Terrors”, er möchte seine Schauplätze und Tatorte aufsuchen, Zeugen befragen und Spuren sichern. (Längst hat der Autor mit diesem Projekt begonnen; der Archäologe des Wissens beschreibt hier die Konturen seines nächsten Buchs.)
Es gibt vermutlich derzeit im deutschen Sprachraum keinen zweiten Essayisten, der es mit diesem Reisekundigen und Beschreibungskünstler aufnehmen kann. Aber in seinem neuen Buch will Schlögel auch die Instrumente zeigen, seine Brille, seine Lupe, seinen Bleistift. Und nicht selten holt er aus dem Brotsack ein zerlesenes Exemplar von Benjamins Städtebildern oder Herodots Historien heraus. Der Gewährsleute, die er für sein Projekt einer neuen Apodemik, einer Kunst des forschenden Reisens, zitiert, sind gar nicht wenige. Um so mehr schmerzt es, dass er einige der Riesen, auf deren Schultern er steht, keiner Erwähnung würdigt, so Marc Bloch, der wie kein zweiter die Historiker wieder das Sehen gelehrt hat. Auch für die Zeitgenossen, die am selben Seil – Nachdenken über den Raum – ziehen, hat er keinen Blick, nicht für die Historiker, die alle paar Jahre wieder den Raumbegriff ins Zentrum ihres Stammestreffens stellen, nicht für die Kunsthistoriker, die hier Vorbildliches geleistet haben. Literaturkenntnis hätte auch diesen Autor hie und da vor Neuentdeckung geschützt.
Schwerer wiegt eine andere, sicherlich bewusste Auslassung. Wer die Absicht hat, das räumliche Sehen und Denken zu rehabilitieren und davon spricht, „eine große, in Deutschland verschwundene und vom nazistischen Diskurs kontaminierte theoretische Tradition zurückzugewinnen”, der darf sich nicht darum drücken, sich mit den Raumbegriffen und der „Nomos”-Theorie Carl Schmitts auseinander zu setzen. Wer diesen Stein des Anstoßes umgeht, vergibt eine Chance, sein eigenes Programm zu klären.
Man muss ja nicht alle Väter des eigenen Gedankens morden. Man muss auch nicht unbedingt auf Nietzsches zweite „Unzeitgemäße Betrachtung” zurückgehen – obwohl sie gewissermaßen die Urszene des Stücks darstellt, das immer noch aufgeführt wird. Seit 130 Jahren liegen über jedem Text, über jedem neuen Akt der „antihistoristischen Revolte” (Kurt Nowak) die Lichter und Schatten von Nietzsches Frühwerk. Auch auf Schlögels Rehabilitation des räumlichen Denkens fällt noch ein Abglanz jener Illumination. Gewiss redet Schlögel nicht mehr jugendbewegt vom „Leben”, dem die Historie zu dienen habe. Seine Ziele lauten bescheidener; um den Reichtum des Wirklichen geht es ihm, um die Fülle des Konkreten: „Es geht eigentlich ‘nur’ um gesteigerte Aufmerksamkeit, um Raffinierung und Steigerung der Wahrnehmung und die Verfeinerung des Registers der Geschichtsschreibung.” Worüber Schlögel nicht redet, aber was er meint: Es geht eigentlich „nur” um die Kunst. In diesem Fall um die Kunst der historischen Erzählung. Wer sie erneuert und ihr neue Quellen erschließt, der schafft uns auch ein neues Bild der Welt. Hier ist von Karl Schlögel noch viel zu erwarten. Wie er es anstellt, ist uns jetzt bekannt, nach dieser Archäologie des Wanderer-Wissens.
ULRICH RAULFF
KARL SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Carl Hanser Verlag, München 2003. 567 Seiten, 25,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Mit diesem Band - einer Sammlung von beinahe fünfzig Essays - erweist sich der Historiker Karl Schlögel, stellt der Rezensent Christoph Albrecht fest, als Vorreiter des "spatial turn", der sich im Thema des diesjährigen Historikertags - Motto "Kommunikation und Raum" - ankündigt. Was aber, so Albrechts Frage, bedeutet die Rückkehr des "Raumes" als historischer Kategorie angesichts der schwer belasteten Geschichte des Begriffs in nationalistischer Geopolitik. Was dieses grundsätzliche Problem angeht, bleibt er skeptisch - die "Karte eines Archipels möglicher Themen" einer neuen historischen Raumwissenschaft, die Schlögel entwirft, scheint ihm dennoch "wegweisend". Schlögels Darstellung der Faszination von Karten, der Bezug auf Walter Benjamins "topografische Hermeneutik" erscheinen ihm viel versprechend, und originell findet er die Skizzen zu Adress- und Kursbüchern als "Quellen sui generis". Das Unbehagen Albrechts, das bis zuletzt nicht verschwindet, gilt offenbar eher der Richtung, die ihm nicht passt, als dem Buch, das er eigentlich bespricht.

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