Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 3,11 €
  • Gebundenes Buch

Sankt Petersburg entdecken mit den Augen der Dichter! Von Puschkin über Gogol und Lermontow bis zur Achmatowa hat diese Stadt die größten Autoren Russlands zu Gedichten und Erzählungen inspiriert. Nikolai Anziferow, unvergleichlicher Chronist Petersburgs, folgt auf der Suche nach der Seele seiner Stadt der Literatur ebenso wie seiner eigenen Beobachtungsgabe. 1922 erschienen und jetzt zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, ist das Buch eine Entdeckung für Liebhaber der russischen Literatur und für alle, die Petersburg bereisen möchten.

Produktbeschreibung
Sankt Petersburg entdecken mit den Augen der Dichter! Von Puschkin über Gogol und Lermontow bis zur Achmatowa hat diese Stadt die größten Autoren Russlands zu Gedichten und Erzählungen inspiriert. Nikolai Anziferow, unvergleichlicher Chronist Petersburgs, folgt auf der Suche nach der Seele seiner Stadt der Literatur ebenso wie seiner eigenen Beobachtungsgabe. 1922 erschienen und jetzt zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, ist das Buch eine Entdeckung für Liebhaber der russischen Literatur und für alle, die Petersburg bereisen möchten.
Autorenporträt
Anziferow, Nikolai P.
Nikolai P. Anziferow (1889-1958) war ein russischer Historiker, Landeskundler und Publizist. Bekannt war er zu seiner Zeit als Erfinder einer besonderen Form der Stadt-Exkursion, bei der die sinnliche Erfahrung des städtischen Raums im Mittelpunkt stand.

Schlögel, Karl
Karl Schlögel, Jahrgang 1948, hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Leningrad Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Bis 2013 lehrte er als Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2016 erhielt er für Terror und Traum (Hanser, 2008) den Preis des Historischen Kollegs. Bei Hanser zuletzt erschienen: Der Duft der Imperien. "Chanel No 5"und "Rotes Moskau" (2020).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.05.2003

Ein nördliches Palmyra
Nikolai Anziferows große Studie „Die Seele Petersburgs”
Ein Jahr nach dem Tode Peters des Großen im Januar 1725 erstattete der Oberste Geheime Rat sein Gutachten zur Lage Russlands. Das Urteil fiel vernichtend aus. Der verstorbene Zar habe die Kräfte des Landes viele Jahre weit überspannt, das sei nicht mehr länger zu ertragen. Neben die ungeheure Belastung der Bevölkerung war die Bevorzugung von Ausländern und Emporkömmlingen getreten, das hatte die Russen noch einmal speziell erbittert. Beides, die Gewaltsamkeit gegen die eigene Bevölkerung wie der Wunsch, Russlands alte Eliten zurückzudrängen und das Land dem fortschrittlichen Westen zu öffnen, manifestierten sich in der Anlage Sankt Petersburgs. Die Gründungsgeschichte der Stadt liest sich grässlich. Tausende der Arbeiter starben durch Erschöpfung, Hunger oder Fieber in den Sümpfen. Es fehlte an Verpflegung und Werkzeugen, die Erde musste in Körben und oft in den Schößen der Kittel transportiert werden. Dass der Schritt nach Westen – die Stadt hatte einen deutschen Namen erhalten! – mit allen Mitteln der Autokratie gemacht wurde, schien schon den Zeitgenossen die Natur der petrinischen Epoche zu illustrieren.
Petersburg ist diese Gründungsgeschichte nicht mehr losgeworden. „Tragischer Imperialismus” war das leitende Motiv für Nikolai Anziferow, als er zwischen 1919 und 1922 sein Buch über das Bild der Stadt in der russischen Literatur schrieb: „Die Seele Petersburgs” schien ihm, auch 200 Jahre später noch, nicht zu lösen vom Geist des Stadtgründers, einem mythischen Helden wie Theseus oder Romulus. Anziferow, mit dem ein schönes und informatives Vorwort von Karl Schlögel bekannt macht, liebte Petersburg, und sein Buch ist ein Dokument dieser Liebe. Er hält die Liebe für eine Voraussetzung der Erkenntnis, und wer nicht eine Weile als Bürger in der Stadt gelebt habe, der sei zum Urteil nicht berufen. Seine Liebe aber ist eine zur Größe der Stadt und auch zu ihren imperialen Zügen.
Und so ist für ihn das wichtigste Monument der Petersburger Literatur, der „ganzheitliche Ausdruck der Petrinischen Stadt”, Puschkins Verserzählung „Der eherne Reiter”. Den Titel verdankt die Erzählung dem Standbild des Städtegründers am Newa-Ufer, einer Arbeit Etienne-Maurice Falconets. Auf einem Felsen reitet der Zar aufwärts, seine ausgestreckte Hand weist nach Westen, das Pferd zertritt mit der Hinterhand die Schlange des Verrats. Das Werk dieses Mannes ist das „nördliche Palmyra”, eine Stadt des Glanzes und der Zukunft, der Zukunft als Hauptstadt eines sich neu bildenden Reiches. Petersburg ist eine Leistung der Kolonisation. Das Geplante, Ebenmäßige, Gradlinige wird als Schönheit empfunden und die Kolonisation als Zivilisation. O Herrscher über Los und Raum! / Hast Du aus Abgrunds Finsternissen / Nicht einst auch Russland hochgerissen / Mit deinem schweren Eisenzaum? Puschkin, so Anziferow, kennt den „tragischen Untergrund” von Petersburg. Aber er löst die Tragödie nicht in hellenischer Weise. Der Mensch besiegt das Schicksal.” Im Bild Puschkins sieht Anziferow „Harmonie, Herrlichkeit und Klarheit, ... einen ruhigen, freudigen Glauben an die Zukunft”.
Der Engel auf der Säule
Puschkin wäre damit „der letzte Sänger der hellen Seite Petersburgs”. Das historische Gelenk ist der Dekabristenaufstand, 1825. Er wird niedergeschlagen, die Autokratie behauptet sich, aber „vom Gott der Geschichte” wird sie verlassen. Die Jugend wendet sich ab, es treten im Bild Petersburgs nun die düsteren Züge hervor. Gogol schaut auf das Alltagsleben, ihn interessieren auch die geringen Leute und die Opfer, die ihnen abgepresst werden. „Der Newski-Prospekt” zeigt das trügerische Bild der Stadt, ihren schwankenden Boden, auf dem die feiner organisierten, die ernsthafteren Menschen stürzen und die groben sich behaupten.
Anziferow sieht die Größe Gogols, aber sie behagt ihm nicht, er sieht in ihr eine Schwäche: „Petersburgs Erhabenheit ist ihm nicht zugänglich; den Ehernen Reiter findet man in seinem Werk nicht.”
So geht es weiter. Lermontow hört aus Petersburg „ein Stöhnen, wie aus sünd’gen Menschenträumen ... alles trug verbrecherischen Stempel.” Die Romantiker sehen die Gewalt auch gegen Petersburg wüten und sind gebannt von der Vorstellung des Untergangs. Lermontow liebte es, „mit der Feder wie mit dem Pinsel” das tobende Meer zu malen, aus dem allein die Alexandersäule mit dem sie krönenden Engel herausragt. Tatsächlich ist Petersburg immer wieder vom Hochwasser überschwemmt worden, die Lage an der Mündung der Newa musste als Herausforderung der Natur verstanden werden. Wenn nun der Eherne Reiter galoppiert, so über die Gebeine derer, die für seine Pläne sterben mussten. Mereschkowskij lässt in einer apokalyptischen Vision die Leichen, „deren Knochen im Sumpf das Fundament gelegt hatten”, den Granitblock umringen, „von dem der Reiter gemeinsam mit seinem Pferd in den Abgrund stürzt”.
Mit dem schwindenden Vertrauen in die Sendung Peters und Petersburgs wird auch die städtebauliche Erscheinung anders bewertet. Was einmal klar und schön aussah, wirkt nun streng, langweilig, kasernenhaft. Alexander Herzen, der durchaus ein ambivalentes Bild entwirft, erkennt in der Stadt „nichts Eigenes”. Petersburg „unterscheidet sich gerade darin von allen Städten Europas, dass es allen ähnlich ist.” Hier setzt auch die Kritik der Slawophilen an: Mit dem „Fenster nach Westen” (Puschkin) habe Russland sein bestes aufgegeben. So denkt auch Dostojewski: Es ist ein „Unglück, in Petersburg zu leben, der abstraktesten und vorbedachtesten Stadt der ganzen Welt.”
Abstrakt, vorbedacht; der deutsche Leser trifft auf merkwürdig bekannte Motive. Was über Petersburg gesagt wird, das liest man, weniger dramatisch, auch über Brandenburg-Preußen und Berlin. Hier wie dort der alles dominierende Willensakt, einmal im Sumpf der Newa, einmal im märkischen Sandboden, hier wie dort die Ambivalenz von zivilisatorischer Anstrengung und Gewalt. Auch die städtebauliche Erscheinung Petersburgs und Berlins wird ähnlich zwiespältig gesehen, sie kann klar oder langweilig wirken. Die Selbsterschaffung wirkt poetisch (Stendhal nennt Preußen das „Land der Philosophie und Phantasie”) oder prosaisch.
In einer deutschen Tradition kann man auch Anziferows Methode sehen. Die Betonung der Liebe, die Erkenntnis erst ermögliche, die Idee organischer Ganzheit, das Motiv des Lebens, das durch das Lebens ausgelegt werde: das erinnert an eine vor allem in Deutschland gepflegte Tradition der Hermeneutik. Das ausgesprochene Desinteresse am Historischen ist allerdings wieder recht fremd, wie auch die ganz aufs Große und Erhabene zielende Ästhetik uns ferngerückt ist. Doch schwächt solcher historische Abstand die Wirkung des animierenden Buches nicht, vielleicht weil nach so langer Abtrennung Petersburgs vom Westen der hiesige Leser eine spontane Bereitschaft zu Respekt und Liebe hat.
Das heißt aber nicht, dass er den Verlag aus allen editorischen Verpflichtungen entlassen wollte. Etwas mehr Mühe hätte Hanser schon aufwenden und einen echten Kommentar in Auftrag geben können. So wüsste der moderne Leser, liebevoll, aber dann doch wieder mäkelig, gern Näheres über Anziferows Puschkin-Lektüre, an der so viel hängt. Der „Eherne Reiter” in Harmonie noch mit der Geschichte, gerechtfertigt als Schöpfer einer großen Zukunft – aber vielleicht nur nach den alten Textausgaben, die unter der zaristischen Zensur veröffentlicht wurden? Puschkins eigener Text, wie er lange nach der Revolution erst ediert wurde, macht einen skeptischeren Eindruck. Von solchen Dingen hätte man gern mehr gewusst. So viel Geschichte ist vielleicht abkühlend, aber auch erfrischend.
STEPHAN SPEICHER
NIKOLAI ANZIFEROW: Die Seele Petersburgs. Aus dem Russischen von Renata von Maydell. Vorwort von Karl Schlögel. Carl Hanser Verlag, München 2003. 296 Seiten, 21,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr
perlentaucher.de
Obschon 1922 erschienen liegt das Buch nun zum dreihundertsten Jubiläum St. Petersburgs erstmals in deutscher Sprache vor. Der Historiker und Heimatkundler Anziferow folgt auf der Suche nach der Seele seiner Stadt der Literatur ebenso wie seiner eigenen Beobachtungsgabe und lässt dabei Dostojewski, Lermontow und Alexander Herzen zu Wort kommen. Dietrich Geyer von der Zeit ist begeistert und nennt das Buch einen "lange vergessenen Klassiker". Andreas Breitenstein von der NZZ erwähnt lobend, das Werk sei eine "Fleißarbeit", aber dennoch "aufregend" und für Stephan Speicher von der SZ ist das Buch eine "animierende" Lektüre und Ausdruck einer Liebe zu Petersburg.

literaturtest.de
An der Newa
Drei Mal änderte die wohl schönste Stadt Russlands im 20. Jahrhundert ihren Namen: Sankt Petersburg, Petrograd, Leningrad - und nun wieder Sankt Petersburg. Geschuldet waren die Umbenennungen der Revolution, dem Bürgerkrieg und schließlich dem Ende des sozialistischen Experiments. Das erstmals auf Deutsch gedruckte Werk Nikolai Anziferows, 1922 veröffentlicht, schließt eine Lücke in der Literatur über die Geschichte der Stadt an der Newa.
Ein Geheimtipp
In den letzten Jahren der Sowjetunion war das Buch ein Geheimtipp. Nur wenige Exemplare hatten die Zeiten des Stalin-Terrors und der 900 Tage währenden Belagerung durch die Deutschen überstanden. Der Verfasser (1899 geboren, gestorben 1958 in Moskau) ist Historiker, Landeskundler und Publizist. Er teilte das Schicksal vieler Intellektueller: schlechte Arbeitsbedingungen, Verfolgung, Inhaftierung bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, mühsamer Neubeginn. Ein kluges Vorwort zur deutschen Ausgabe erleichtert das Verständnis des Anziferow-Textes und seiner geschichtlichen Hintergründe.
Dostojewskis Schauplatz
Mit einem gewaltigen Aufwand und vielen Opfern schuf Zar Peter der Große diese Stadt. Für Dichter wie Alexander Puschkin, Nikolai Gogol oder Michail Lermontow war sie Heimat und Muse. Anziferows Buch ist so zugleich auch ein literarischer Reiseführer. Fjodor M. Dostojewski, ein weiterer Großer der Dichtkunst, hatte zwar ein gespaltenes Verhältnis zu Petersburg. Dennoch war die Stadt für ihn auch der ideale Schauplatz, an dem er das Drama des modernen Menschen inszenieren konnte; die Verzweiflung, Anonymität, Kälte, Distanz und Entfremdung. Das belegt Anziferows Text: Auch die Seele Petersburgs hat ihre Abgründe.
(Mathias Voigt)

…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2003

Phantastik der Fassaden
Petersburg und sein wechselhaftes Seelenlos: Nikolai Anziferows melancholisch grundierte Stadtbiographie

Als der russische Kulturhistoriker Nikolai Anziferow (1889 bis 1958) im Jahr 1922 seine literarische Stadtgeschichte, zugleich eine städtische Literaturgeschichte, Petersburgs erscheinen ließ, war die einst glanzvolle nördliche Metropole des Zarenreichs durch Revolution und Bürgerkrieg nicht nur in ihrer historischen Bausubstanz, sondern auch in ihrem sozialen und geistigen Habitus so schwer angeschlagen, daß allenthalben von ihrer "Zerstörung", sogar von ihrem "Untergang" gesprochen wurde. Die im frühen achtzehnten Jahrhundert, unter dem Diktat Peters des Großen, auf den Gebeinen Tausender von Zwangsarbeitern errichtete neue Reichshauptstadt, die man oft mit einem luxuriös ausgestatteten Mausoleum verglichen hat, ist mit der Machtübernahme der Bolschewiki erneut als das erkennbar geworden, was sie seit ihrer Gründung im sumpfigen Mündungsgebiet der Newa gewesen war - die Zarenstadt als Totenstadt.

Angesichts bolschewistischer Kulturvernichtung und Geschichtsklitterung unternahm Anziferow (bevor er selbst - bereits 1929 - von einer "Säuberungswelle" eingeholt und für viele Jahre inhaftiert wurde) den ebenso aufwendigen wie riskanten Versuch, die "Seele Petersburgs" aufgrund literarischer Zeugnisse noch einmal aufleben zu lassen, sie minutiös auszumessen, sie auszubreiten und zu bewahren in einem Buchwerk, das ihre komplexe Einheit, den Rhythmus ihrer inneren Entwicklung, mithin ein "fließendes, schöpferisch wandelbares Bild" dokumentieren sollte. Entstanden ist aus diesem Projekt ein melancholisch grundiertes, konsequent apolitisches, dabei schöngeistig überhöhtes Lesebuch, das die Seelenlandschaft Petersburgs einprägsam vor Augen führt.

Vorwiegend belletristische Texte sind es, die Anziferow chronologisch nicht ganz folgerichtig Revue passieren läßt, um die "Seele Petersburgs" als "lebendiges Bild" in seiner geschichtlichen Entfaltung zu vergegenwärtigen - angefangen bei den frühesten poetischen Gründungsmythen, den Belobigungen zarischer Machtfülle und technischer Naturbeherrschung, fortfahrend mit den ambivalenten Stadtansichten des neunzehnten. Jahrhunderts (Prunk/Elend, Schein/Sein, West/Ost, Männlich/Weiblich et cetera), endend bei den Vanitas-, Untergangs- und Todesmotiven in der spätromantischen und symbolistischen Dichtung Rußlands.

Die Absicht des Verfassers, "Wegmarken der Entwicklungsetappen des Petersburgbildes" herauszustellen und so "eine ganzheitliche Sichtweise der Stadt" zu ermöglichen, wird realisiert in der konventionellen Art einer Anthologie, die Autor auf Autor, Text auf Text folgen läßt, um insgesamt "eine ganzheitliche Sichtweise der Stadt" zu ermöglichen. Anziferows eigener Beitrag beschränkt sich (sieht man von seiner schwermütig-schwärmerischen Ouvertüre zum "Genius loci von Petersburg" ab) auf knappe Kommentare, die zumeist mit großer Emphase wiederholen, was in den zahlreichen Zitaten bereits zu lesen war.

Inhaltliche Analyse und formale Charakterisierung der Textbeispiele werden bei Anziferow durchweg zugunsten impressionistischer Akzentsetzungen oder allzu pauschaler Ableitungen vernachlässigt. Kritik wird lediglich dort laut, wo der Verfasser seine Stadt ("unser Petersburg") gegen angeblich verfehlte Einschätzungen - etwa bei Iwan Turgenjew - meint in Schutz nehmen zu müssen. Auf Autoren, die seinem "Petersburgbild" widersprechen, reagiert er nicht mit Argumenten, sondern mit dem Vorwurf der Blindheit, und er scheut sich nicht, jeden rationalen Zugang zur "Seele Petersburgs" abzuschmettern mit Sätzen wie diesem: ". . . man kann Petersburg, wie auch Rußland selbst, nur mit dem Glauben annehmen, mit dem unfaßbaren Glauben." Wo allein der Glaube gilt, zählt besseres Wissen nicht.

Bei allem Respekt, den man Anziferow in Berücksichtigung seiner damaligen Lebenssituation und der traditionsfeindlichen sowjetischen "Kulturrevolution" entgegenbringen wird, bei aller Dankbarkeit auch für das von ihm zusammengetragene umfangreiche Belegmaterial sollten die Mängel seiner Arbeit nicht geleugnet werden. Schon beim Anziferowschen "Seelenkonzept" handelt es sich um eine logische Fehlkonstruktion. Einerseits wird Petersburg als ein hybrides, willkürlich geschaffenes Kunstprodukt präsentiert, andererseits sollen seine Entstehung und Entwicklung als ein "organischer" Prozeß, sein ganzheitliches "Bild" als "Seele" und diese wiederum - die Widersprüche häufen sich - als ein "gewachsener Körper" aufgefaßt werden. Ständig ist auch von "Geburt", von den "Wurzeln" und "Ästen", schließlich vom "Absterben", vom "Tod" der Stadt die Rede. Gerade die Wurzellosigkeit, die Künstlichkeit, die Fassadenhaftigkeit sind indes für die nördliche Reichshauptstadt charakteristisch gewesen und machen bis heute deren Faszinosum und Phantastik aus.

Daß "Die Seele Petersburgs" vom Ansatz wie vom Ergebnis her weit hinter der neueren russischen Petersburg-Forschung (Issupow, Lotman,Toporow, Wantschugow und anderen) zurückbleibt, ist bloß als Tatsache zu vermerken. Technisch sind die durchgängige Nutzung literarischer Texte als Zeitdokumente sowie deren zumeist willkürliche Kürzung (bei überdies fehlender Quellenangabe) zu bemängeln. Da selbst bei Gedichten einzig auf den Aussagewert, nicht aber auf formale Merkmale geachtet wird, fragt man sich im übrigen, weshalb für die deutsche Fassung nicht präzise Interlinearversionen verwendet wurden, sondern altertümelnde, oft eigens erstellte Nachdichtungen mit entsprechenden inhaltlichen Defiziten. Zu bedauern ist übrigens auch, daß die zauberhaften, von A. P. Ostroumowa eigens für "Die Seele Petersburgs" geschaffenen Holzschnitte nicht in die deutsche Buchausgabe übernommen wurden.

Nikolai Anziferow: "Die Seele Petersburgs". Aus dem Russischen übersetzt von Renata von Maydell. Mit einem Vorwort von Karl Schlögel. Hanser Verlag, München 2003. 293 S., geb., 21,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Als "antiquiert", aber "lesenswert" beschreibt Rezensent Gregor Eisenhauer das zwischen 1919 und 1922 entstandene Buch "Die Seele Petersburgs" von Nikolai P. Anziferow. Wie Eisenhauer ausführt, versteht Anziferow die Seele der Stadt als die "historische Einheit aller Seiten ihres Lebens", die in den Denkmälern und Plätzen, Palästen und Paradestraßen Gestalt annehme. Anziferow nähert sich der architektonischen Landschaft mit Hilfe von Schriftstellern wie Puschkin und Dostojewski, die sich Petersburg zum Schauplatz ihrer Romane und Gedichte wählten, berichtet Eisenhauer. Das ist in Eisenhauer Augen zwar "unterhaltsam", bringt aber keine neuen Einsichten. Deshalb ist das Buch für unseren Rezensenten auch kein wissenschaftliches Werk, wie Karl Schlögel in seinem "instruktiven" Vorwort suggeriere. Eisenhauer erblickt darin eher ein "melancholisch anheimelndes Poesiealbum", das Andachtsbilder versammelt, und ein "Heldenbuch von Helden ganz unterschiedlicher Art": "dem Mann in der Menge wie dem Mann auf dem Thron."

© Perlentaucher Medien GmbH