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Als die holländische Aufführung von Rainer Werner Fassbinders Skandalstück "Der Müll, die Stadt und der Tod" vorbereitet wurde, gehörte der Schauspieler Althans zu den leidenschaftlichsten Warnern vor einem neuen Antisemitismus, er, der seine Familie im Konzentrationslager verloren und als Pflegekind überlebt hat. Da bekommt Althans einen Drohbrief; er wird entführt und in Belgien wieder gefunden, verletzt, aber lebend. Seine Warnungen waren offenbar berechtigt. Doch dann entsteht ein neuer Verdacht: Hat Althans selber alles fingiert, Brief und Entführung? Harry Mulisch erzählt eine…mehr

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Produktbeschreibung
Als die holländische Aufführung von Rainer Werner Fassbinders Skandalstück "Der Müll, die Stadt und der Tod" vorbereitet wurde, gehörte der Schauspieler Althans zu den leidenschaftlichsten Warnern vor einem neuen Antisemitismus, er, der seine Familie im Konzentrationslager verloren und als Pflegekind überlebt hat. Da bekommt Althans einen Drohbrief; er wird entführt und in Belgien wieder gefunden, verletzt, aber lebend. Seine Warnungen waren offenbar berechtigt. Doch dann entsteht ein neuer Verdacht: Hat Althans selber alles fingiert, Brief und Entführung? Harry Mulisch erzählt eine verstörende Geschichte, die zwischen Wahrheit und Lüge, Betrug und Selbstbetrug oszilliert.
Autorenporträt
Harry Mulisch, geboren 1927 in Haarlem, schrieb Romane, Erzählungen, Gedichte, Dramen, Opernlibretti, Essays, Manifeste und philosophische Werke. Er starb 2010 in Amsterdam.

Gregor Seferens, Jahrgang 1964, lebt als freiberuflicher übersetzer und Lektor in Bonn. Er übersetzte u.a. Bücher von Harry Mulisch, Paul Scheffer, Geert Mak, Joost Zwagerman.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2000

Dein Traum, meine Tragödie
Harry Mulisch und die wirklichen Gespenster des Antisemitismus

Dieses Buch ist die Frucht eines halb vergessenen Theaterskandals und eines nicht vergehenden Jahrhunderttraumas. Seine Vorgeschichte ist die verhinderte Rotterdamer Aufführung des Fassbinder-Stückes "Der Müll, die Stadt und der Tod" im Jahr 1987. Geschmacklos und gefährlich an Fassbinders Stück ist, so brachten die Kritiker damals vor, daß es dem antisemitischen Klischee vom "reichen Juden" unreflektiert das Wort erteilt. Der niederländische Schauspieler Jules Croiset, selbst Überlebender des Holocaust, befürchtete gar, mit dem Stück könne eine neue Pogromstimmung ausgelöst werden. Um eine gleichgültige Öffentlichkeit wachzurütteln, brachte er fingierte antisemitische Briefe in Umlauf und inszenierte seine eigene Entführung.

Zwölf Jahre später hat Harry Mulisch in dem Fall jene Mischung aus Ungereimtheit und Faszinosum erspürt, die zum literarischen Stoff taugt. Seine dankenswert rasch übersetzte Erzählung "Das Theater, der Brief und die Wahrheit" handelt von einer Tragödie und steckt doch voller Erzählwitz. In den Niederlanden traf die Veröffentlichung auf den Einspruch derer, die sich seinerzeit durch die gefälschten Drohbriefe ernsthaft gefährdet sahen (F.A.Z. vom 3. Mai). Mulischs Aufarbeitung des Falles ist eigenständig und nimmt sich alle Freiheiten. In ihrem spielerischen Konstruktivismus ist seine Erzählung zugleich ein eminent politisches Werk, gerade weil sie die Fallen der Eindeutigkeit umgeht.

Die Grundidee ist von bestechender, kristallklarer Eleganz. In einer doppelten Spiegelung zerlegt Mulisch den anekdotischen Kern der Geschichte in die Konstellation zweier Paare und in die Sequenz zweier widersprüchlicher Fassungen des Geschehens. In der ersten Version legt Herbert Althans - so heißt hier der Schauspieler, der nach seinem Protest gegen das Fassbinder-Stück einer vermeintlichen Racheaktion zum Opfer fiel - auf der Trauerfeier seiner Frau Magda ein öffentliches Geständnis ab. Althans' Rede wurde zufällig auf einem Videomitschnitt festgehalten, den der befreundete Theaterautor Felix zwölf Jahre später zu Hilfe nimmt, um eine Geschichte über den Vorfall zu schreiben.

Was Althans den anwesenden Freunden, Journalisten und auch seinen beiden Kindern zu sagen hatte, verkehrt den bekannten Vorgang fast ins Gegenteil. Der Schauspieler beichtet, daß der antisemitische Drohbrief, den selbst verfaßt zu haben er längst zugab, in Wirklichkeit keineswegs erfunden war, sondern echt. Auf seine Frau habe dieser Brief derart niederschmetternd gewirkt, daß jeder Versuch, sie zu beruhigen und zu trösten, vergeblich war. Nur darum sei er, so Althans, auf den verzweifelten Einfall gekommen, den antisemitischen Angriff als selbsterfundene Kampagne auszugeben. Um diese Lüge glaubhaft anbringen zu können, setzte Althans seine Selbstentführung ins Werk. Er beging absichtlich dilettantische Fehler, wurde alsbald überführt und galt dann auch als Autor des fatalen Drohbriefes. Doch just der unwahrscheinliche Erfolg des Planes besiegelt sein Scheitern: Magda Althans, von der Lüge noch tiefer getroffen als von ihrer Angst, nimmt sich das Leben.

Für Felix, den Schriftsteller, bleiben Zweifel zurück. Nicht umsonst hat er sich lange mit Cusanus und dessen Prinzip der "coincidentia oppositorum" beschäftigt, dem Zusammenfall aller Gegensätze in Gott. Bloß, daß in Althans' Geschichte kein Gott den Widerstreit der Gegensätze entwirren kann. Auch die mit Felix befreundete Autorin Vera versucht, aus dem Stoff eine Geschichte zu machen. In literarischer Konkurrenz zu Felix entwirft sie eine zweite Version des Geschehens, in der nun Magda am Zuge ist, am Sarg des toten Herbert Althans ihr Geheimnis zu beichten. Während Herbert die Entführung zugab, bekennt sich Magda als Verfasserin des schrecklichen Briefes. Auch sie tat es allein aus Liebe, um ihrem Mann Gehör zu verschaffen, dessen Ängste zuvor niemand ernst nehmen wollte. Und auch ihr wird im Augenblick der Tat schlagartig klar, einen Fehler gemacht zu haben. Für immer würde dieses furchtbare Geheimnis zwischen ihnen stehen.

Die mehrfach geschachtelte Erzählsituation bringt es mit sich, daß jede der beiden Versionen unterschwellig ihr eigenes Dementi nahelegt. Sind am Ende auch die bewegenden Geständnisse falsch? In einer Nachbemerkung weist Mulisch eigens darauf hin, daß Magdas und Herberts Geschichte einander ausschließen. Daß sie nicht beide zugleich an des anderen Sarg stehen können, ist evident. Doch diese erzähllogische Unmöglichkeit bedeutet keineswegs, daß nicht beide Geschichten ein Körnchen Wahrheit enthalten. Denn genau da, wo Magdas Briefgeheimnis endet, beginnt die List der Selbstentführung ihres Mannes.

Notgedrungen hat Althans gegen das Fassbindersche Theater eine noch schlimmere Inszenierung gesetzt. Nichtsahnend ist Magda zur Gefangenen des eigenen Schreibens geworden. Das Theater, der Brief und die Wahrheit sind dreierlei, und das Erzählen ist nichts anderes als die Arbeit an den Gelenkstellen zwischen diesen Elementen, die Motivationen erfindet und zu vermeintlich schlüssigen Handlungen zusammensetzt. Daß diese Gelenkstellen freilich so oder anders gedreht werden können, ist der Vertracktheit einer objektiv widersprüchlichen Situation geschuldet.

Sind es die Opfer, die sich ihre Täter erträumen? Oder nehmen sie nur intuitiv vorweg, was längst wieder möglich ist? Einen Traum, so sagt Althans in seiner Beichte, kann man nicht mitteilen, sonst wird er zur Lüge. Die geträumte Gefahr aber - ist sie erst wahr als bereits geschehene Tat? Eine Tragödie, so erkennt Vera am Ende ihres Berichts, ist das "Aufeinandertreffen von zwei unvereinbaren Wahrheiten". Der Abstand von zwölf Jahren läßt, auch im Lichte der Walser-Bubis-Debatte, diese Tragödie noch schärfer hervortreten. Aus den Theater-Gespenstern von gestern ist die Gewalt von heute nicht mehr wegzudenken. So erweist sich Mulischs schmale Erzählung als Probe auf die Möglichkeiten der Literatur, den politischen Diskurs um die Wirklichkeit unserer Träume und Albträume zu bereichern. "Das Theater, der Brief und die Wahrheit" ist ein Zwitter von seltener Art: ein Glanzstück essayistischer Gelegenheitsprosa und zugleich ein klassisches Meisterwerk.

ALEXANDER HONOLD

Harry Mulisch: "Das Theater, der Brief und die Wahrheit". Eine Widerrede. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor Seferens. Carl Hanser Verlag, München 2000. 104 S., geb., 26,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

In Harry Mulischs neuem, nicht einmal hundert Seiten umfassenden Prosatext geht es darum, wie Antisemitismus ein Leben zerstört, erklärt Roland H. Wiegenstein. Er charakterisiert den Text als eine Versuchsanordnung. Hier werde von zwei verschiedenen Personen über den Tod eines Menschen berichtet, nicht über denselben, wie sich herausstellt. Dass beide Berichterstatter sich in der Theaterbranche bewegen und sich für den Fall als Stoff interessieren, hält der Rezensent für kein unwesentliches Detail in Mulischs ironisch gebrochener Erzählkonstruktion. Der Text habe nämlich eine reale dramatische Vorlage, Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" mit seiner Figur des "reichen Juden", das 1987 zu erbitterten Auseinandersetzungen geführt hatte. Mit Mulischs Text geht Wiegenstein hart ins Gericht. Den zweiten Teil bezeichnet er als "traurige Farce", die beiden Erzähler als "schlechte Zeugen, Autoren auf der Suche nach einem Scoop". Die im Titel versprochene Wahrheit schlägt gnadenlos zurück, findet Wiegenstein, und Mulisch, bedauert er, hält sich aus allen neu entstandenen Debatten heraus.

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"'Das Theater, der Brief und die Wahrheit' ist ein Zwitter von seltener Art: ein Glanzstück essayistischer Gelegenheitsprosa und zugleich ein klassisches Meisterwerk." Alexander Honold, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.09.00

"Wer das schmale Mulisch-Bändchen in einem Atemzug durchgelesen und danach aufgewühlt beiseite gelegt hat, vermeint von ganz fern den lachenden Autor zu hören, der über seiner perfekten Versuchsanordnung zum Thema Dichtung und Wahrheit zufrieden den Vorhang fallen läßt." Michael Mönninger, Berliner Zeitung, 17.10.00