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Was sehen wir, wenn wir in einem Museum oder in einer Kirche ein Gemälde betrachten? So einfach ist diese Frage nicht zu beantworten. Denn was wir sehen, hängt immer auch davon ab, was wir wissen. Die Kategorien und Begriffe, die uns die Kunstgeschichte liefert, schieben sich unbemerkt zwischen unser Auge und das Bild. Didi-Huberman beschreibt, wie sich die Wahrnehmung der Kunst verändert, wenn es gelingt, das Wissen vom Sehen zu lösen: Es öffnet sich der Blick auf eine radikal offene Kunst.

Produktbeschreibung
Was sehen wir, wenn wir in einem Museum oder in einer Kirche ein Gemälde betrachten? So einfach ist diese Frage nicht zu beantworten. Denn was wir sehen, hängt immer auch davon ab, was wir wissen. Die Kategorien und Begriffe, die uns die Kunstgeschichte liefert, schieben sich unbemerkt zwischen unser Auge und das Bild. Didi-Huberman beschreibt, wie sich die Wahrnehmung der Kunst verändert, wenn es gelingt, das Wissen vom Sehen zu lösen: Es öffnet sich der Blick auf eine radikal offene Kunst.
Autorenporträt
Georges Didi-Hubermann, geboren 1953, ist Philosoph und Kunsthistoriker und lehrt an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (Paris). Er ist Träger des Hans-Reimer-Preises der Aby-Warburg-Stiftung (Hamburg). Er veröffentlichte zahlreiche Untersuchungen zur Geschichte und Theorie der Bilder.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2000

Kunstgeschichte als lebendiges Durcheinander
Fragen statt Antworten: „Vor einem Bild” von Georges Didi-Huberman
Bevor Günter Metken nach Libyen aufbrach, wo er am 25. März tödlich verunglückt ist, hatte er die noch nicht erschienene deutsche Übersetzung von Didi-Hubermans Buch für uns „aus den Druckfahnen” rezensiert. Wir veröffentlichen seinen letzten Beitrag für unsere Literaturseiten im traurigen Wissen, wie sehr uns Günter Metkens inspirierende Mitarbeit fehlen wird.
Georges Didi-Huberman fängt noch einmal von vorn an. Was tun wir, fragt der französische Kunstdenker, wenn wir ein Bild betrachten – stellen wir uns seiner Offenheit oder ordnen wir es in Denkschemata und Sinn-Kästchen ein? Wir tun gewöhnlich das letztere, und zwar dank zweier Vorgaben, der Erfindung der Kunstgeschichte im 16. Jahrhundert, die mit dem Namen von Giorgio Vasari verbunden ist, und deren erkenntniskritischer Vertiefung in unserem Säkulum, für die Erwin Panofsky steht.
Längst ist die Kunstgeschichte als Universitätsdisziplin etabliert, beherrscht die Museen, ermöglicht spektakuläre Ausstellungen und stützt nicht zuletzt den Kunstmarkt. Was Didi-Huberman an seiner Zunft stört, ist ihre selbstverständliche Gewissheit, dass alles Sichtbare deutbar sei, wo doch Bescheidenheit angebracht wäre. Denn jeder Historiker, auch jener der Kunst, ist ein fictor, ein Erfinder von Vergangenheit. Anstatt also auf ihren Gegenstand zu hören, der a priori jede Antwort überlebt, anstatt sich auf eine kritische Geschichte der Kunstgeschichte einzulassen, engen ihre Vertreter das Kunstwerk auf einen musealen Wissensvorrat ein und stellen es in eine Entwicklungslinie.
Diese hat der Florentiner Allroundkünstler Vasari 1550 mit seinen Künstlerbiografien eingeführt, die der Kunst einen Anfang – die klassische Antike – und eine Mitte – die sich eben vollendende Renaissance – zusprachen und sogar ein Ende voraussagten, gegen welches Vasari die säkulare Unsterblichkeit der Kunstgeschichte aufbot, welche Erinnerung und Ruhm verwaltet. Der Künstlerstand mutierte zum Elitecorps, das einem Fortschrittsideal von Kindheit-Jugend-Reife huldigt und dem akademisch lehrbaren disegno als Nachahmung – des Altertums wie der „schönen” Natur – verpflichtet ist. So war eine symbolische, ihre eigenen Beweise fabrizierende Ordnung vorgegeben, waren High und Low getrennt; die Kunstgeschichte entwarf eine Kunst- und Renaissancevorstellung nach ihrem eigenen Bild.
Was nicht hineinpasste, blieb draußen, so die christliche Kunst des Mittelalters, die ja gerade Unbestimmtheiten wie der Fleischwerdung des göttlichen Worts auf der Spur war und nicht nach Mimesis, nach Ähnlichkeit also, streben konnte, weil der Mensch durch Adams Sündenfall seine Ebenbildlichkeit mit dem Schöpfer verloren hatte. Zweifel an Vasaris Kunstteleologie kamen erstmals im 18. Jahrhundert auf, als ein Winckelmann die Antike nicht mehr aus klassizistischer Sicht behandeln wollte. Hegel betonte in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) die Geschichtsgebundenheit der Werke: „Die Bildsäulen sind nun Leichname, denen die belebende Seele, so wie die Hymne Worte, deren Glauben entflohen ist. ”
Vor allem aber war es die Kantsche Philosophie, die zu einer erkenntniskritischen Kunstgeschichte führte. Diese leugnet eine Wahrnehmung im Naturzustand; alles ist schon Bedeutungssystem, das Symbolische geht, so Panofsky nach Ernst Cassirer, der Realität voraus und erfindet sie. Doch auf die Dauer war es befriedigender, Antworten zu geben, als Fragen zu stellen; auch Erwin Panofsky begann, Zielvorstellungen und intuitive Synthesen zu formulieren. Logischerweise kam es zu seiner Festlegung auf die humanistische Epoche der Kunstgeschichte, wo Kunst und Wissenschaft im disegno übereinstimmten und die Ikonologie als eine, durch Vernunft legitimierte Interpretation das Sichtbare in Lesbares überführen konnte, dank der „Vertrautheit mit bestimmten Themen oder Vorstellungen, wie wir sie durch literarische Quellen vermittelt bekommen”. Das Kunstwerk wird einer Art Abmagerungskur unterzogen, der Gegenstand der Forschung nach ihrer Methode geformt. Aus Anschauung wird Bild, dann Begriff, zum Nachteil der sinnlichen Einzigartigkeit der Kunstwerke, ihrer Irrationalität. Und ihrer verborgenen Wirkungen, der Fragen an uns, für welche Didi-Huberman die Freudsche Traumdeutung mit ihren „Mischbildungen” und der Metapher vom Bilderrätsel in Anspruch nimmt – Traumarbeit als Aufbrechen der Logik wie der Bilder. Denn diese sind überdeterminiert, lassen sich nicht auf eine Erklärung festlegen, wie Didi-Huberman an Dürers Melencolia I zeigt. Panofsky erkannte darin ein Bild des saturnischen Künstlers in Theorie und Praxis, letztlich ein geistiges Selbstporträt Dürers, jedoch, so meint unser Autor, ohne dessen religiöse Probleme mit der – auch figurativen – Nachfolge Christi, „ein mittelalterliches Symptom in einem der rätselhaftesten Werke der ganzen Renaissance”.
Bilder, so Didi-Huberman, sind ungerichtet im zeitlichen Vor und Zurück, sind sinnverästelt und selten zu Synthesen abkürzbar. Sie verweigern sich der Evolution wie einer sicheren Identifizierung: „Je länger ich betrachte, desto weniger weiß ich. ” Zwei Jahrzehnte nach dem Tod Masaccios malte Fra Angelico zwar in Florenz die schönsten und modernsten Perspektiven, doch als Gehäuse der scholastischen Summa theologica. Kunstgeschichte hat es also mit einem lebendigen Durcheinander zu tun. Jene durch handwerkliche Bildermacher (fallimagini) von Gesicht und Gliedern abgeformten volkstümlichen Wachsvotive in Florentiner Kirchen waren für den Naturalismus Donatellos zeitweise ebenso wichtig wie die Nachahmung der Alten.
Anthropologisches Fundament
Didi-Hubermans engagiertes, bei aller philosophischen Dichte temperamentvolles Eintreten für eine anthropologische Erweiterung der Kunstgeschichte wurde vor zehn Jahren veröffentlicht. Seither hat der Autor seine Denkansätze in diversen Publikationen, vor allem dem wichtigen Buch über Fra Angelico, konkretisiert. Andere Texte galten den Modernen, Giacometti, dem Maler Hantaï und zuletzt dem jüngeren Pascal Convert, der die Fallen der Repräsentation, des Darstellbaren, offen legt, indem er axionometrische Risse leerer Innenräume auf Galeriewände projiziert.
1999 demonstrierte der Verfasser in seiner Veröffentlichung La Femme ouverte, wie auch in Botticellis Venus – diese Ikone des Humanismus – negative Vorstellungen von der Sündigkeit des weiblichen Körpers eingegangen sind. Von der täuschend schönen Oberfläche des Leibes wird eine Linie gezogen zu den perfekten anatomischen Wachsfrauen des Museums „La Specola” zu Florenz, deren glatte Haut abhebend, angehende Mediziner die krankheitsträchtige Tabuzone der Organe und Gebärfunktionen entdeckten.
Doch zurück zu Vor einem Bild. Hier gelang Didi-Huberman 1997 der Beweis aufs Exempel mit der von ihm zusammengestellten Schau L’Empreinte (der Abdruck) im Centre Pompidou, deren Katalogbuch inzwischen auch deutsch vorliegt. Die moderne Kunst, so ergab diese faszinierende Ausstellung, verdankt ein Gutteil ihrer Ergebnisse reproduzierenden Techniken wie der Frottage und Grattage, dem Legen von Gegenständen auf lichtempfindlichen Film, dem Durchdruck, Abklatsch oder Bestempeln, der Baum-, Wand- und Körperabwicklung. Ausgerechnet Avantgardisten wählten prähistorische Methoden, hintergingen die Kunstgeschichte und kehrten zu den Anfängen – Dämonen abwehrenden Handumrissen oder Fußabdrücken als Zeichen göttlicher Abwesenheit – zurück.
Die reine Formerfindung als Königsweg der Moderne wäre demnach ein Mythos, eine Strategie von Durchsetzung und anschließender Dominanz wie einst die Zentralperspektive und der Primat des Vasarischen disegno mit seiner Herunterstufung des Handwerklichen. Dagegen betont die Moderne gerade die heuristische Seite, das experimentierende Arbeiten mittels Kontakt und Markierung, um – man denke nur an Duchamp, Dubuffet und die Surrealisten – unerwartete Dinge ans Licht zu bringen. Das spielerische Duplizieren von Formen und Strukturen setzt Mimesis, Distanz, Perspektivierung, dann die Repräsentation selbst als Grundlagen westlicher Kunst außer Kraft. Mit der Abnahme von Spuren kommt ein Zeitelement ins Spiel, das Ergebnis ist zugleich abgeschlossenes Werk und angehaltener Prozess.
Abdruck und Formung, die mechanischen und die freien Künste sind nicht so weit voneinander entfernt. Das Antlitz Christi, durch Abdruck auf dem Schweißtuch der Veronika zurückgeblieben, galt als die Vera Icon schlechthin. Ohne menschliche Einwirkung zu Stande gekommen, musste sie in der frühen Ikonenmalerei möglichst unverändert weitergegeben werden. Nicht um eine Gegen-Kunstgeschichte also ist es Didi-Huberman zu tun, sondern um das Bedenken des Konkreten, Körperlichen – Totenmasken! – und Manuellen als anthropologisches Fundament einer Kunst der langen Dauer, nicht allein des Konzepts und Ideenentwurfs.
GÜNTER METKEN
GEORGES DIDI-HUBERMAN: Vor einem Bild. Aus dem Französischen von Reinhold Werner. Hanser Verlag, München 2000. 240 Seiten, 45 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Gegen die „Tyrannei des Sichtbaren“ in der Kunstgeschichte schreibt der Kunsthistoriker an, wie er selbst es ausdrückt. Und Martin Seel findet das allein schon ein mutiges Unternehmen. Nicht um den irgendwie entzifferbaren "Code" eines Bildes geht es dem Autor also, der seine Ansichten an der Betrachtung eines "um 1440 gemalten Freskos von Fra Angelico" exemplifiziert. Sondern es geht ihm vielmehr mit Freud und Lacan um den „Riss“, das nicht Begreifbare eines Bildes. Seel fragt sich, ob der Generalvorwurf, den der Autor vor allem gegen Panowsky richtet, wirklich zutrifft und verweist als Gegenbeispiel auf Max Imdahl. Dennoch ist dem Rezensenten das, was hier verhandelt wird, selbst ein Anliegen; deshalb stimmt er am Ende Didi-Huberman zu in seinem Versuch, das Sehen retten zu wollen, das sich außerhalb der "Ordnung des Wissens" abspielt.

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