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Während des Zweiten Weltkriegs legt Japan mit Unterstützung von Nazi-Deutschland eine gigantische Goldreserve an. Die Alliierten werden zwar auf verschlüsselte Mitteilungen aufmerksam, aber selbst ihren besten Kryptographen gelingt es nicht, den Geheimcode zu knacken. Mehr als ein halbes Jahrhundert später stößt eine Gruppe junger amerikanischer Unternehmer im Wrack eines U-Boots auf die Anzeichen einer riesigen Verschwörung und auf das Rätsel um einen verborgenen Schatz.

Produktbeschreibung
Während des Zweiten Weltkriegs legt Japan mit Unterstützung von Nazi-Deutschland eine gigantische Goldreserve an. Die Alliierten werden zwar auf verschlüsselte Mitteilungen aufmerksam, aber selbst ihren besten Kryptographen gelingt es nicht, den Geheimcode zu knacken. Mehr als ein halbes Jahrhundert später stößt eine Gruppe junger amerikanischer Unternehmer im Wrack eines U-Boots auf die Anzeichen einer riesigen Verschwörung und auf das Rätsel um einen verborgenen Schatz.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.09.2001

StefanBecht
Nur einen Steinwurf von der Gegenwart entfernt
Neal Stephenson: Autor, Kryptograph, Dechiffrierer des digitalen Hackerlateins und genialer Geschichtenerzähler des Cyberspace
Warum hat es eigentlich so schrecklich lange gedauert mit dem neuen Buch des amerikanischen Autors Neal Stephenson? Die Frage ist einfach zu beantworten: Es umfasst 918 Seiten im Original, 1200 in der deutschen Übersetzung. Titel: „Cryptonomicon”. Und dieser Mann schreibt alles mit der Hand, mit dem Füllfederhalter auf Papier.
Zu Beginn des Jahres 1996 unterhielt sich der damalige Chefredakteur der amerikanischen Zeitschrift Wired, Kevin Kelly, mit dem Science- Fiction-Schriftsteller Neal Stephenson. Stephenson zählt, wie Douglas Coupland, Bruce Sterling, Steven Levy, Stewart Brand, William Gibson und Nicholas Negroponte, zu den regelmäßigen Autoren des Blattes. Wieder einmal sollte es darum gehen, den Leser zu „überraschen”, oder wie Louis Rossetto, der Gründer von Wired, es so schön formuliert hatte: „Amuse us”. Also eine Geschichte aus einer Perspektive zu erzählen, die neu und ungewohnt war, ein Prinzip, mit dem Wired schon Maßstäbe gesetzt hatte.
Ob er sich, fragte Kelly Neal Stephenson, vorstellen könne, als SF-Autor eine journalistische Geschichte über die gerade stattfindende Verlegung des „Fiberoptic Link Around the Globe”, den FLAG, zu schreiben? Über ein 28000 Kilometer langes, 1,5 Milliarden Dollar teures, in England beginnendes, durch den Suez-Kanal führendes und in Japan endendes Untersee- Glasfaser-Kabel, das längste der Welt, das vornehmlich für das Internet eingesetzt wird? Stephenson konnte, tauschte im Sommer 1996 seinen Füllfederhalter gegen ein modernes GPS-Gerät und seine Jeans gegen Shorts ein und machte sich auf nach Malaysia, seiner ersten Station, um die Verlegungsarbeiten von FLAG zu beobachten.
Mit dem Satz „Information moves, or we move to it”, begann dann in der Dezember Ausgabe 1996 von Wired Stephensons 50-seitige Titel- Reportage über FLAG, angereichert mit technischen Details, Eindrücken, Impressionen, Fotos und historischen Geschichten über die Verkabelung der Welt seit Mitte des vorletzten Jahrhunderts. Der „Hacker Tourist”, wie Stephenson sich selbst bezeichnete, war in Malaysia, Thailand, Hongkong, Japan, Ägypten und England unterwegs gewesen, und was er unter der Schlagzeile „Mother Earth Mother Board” ablieferte, ist bis heute eine der spannendsten Geschichten über die Vernetzung und die damit verbundene Digitalisierung unseres Lebens. Eines der Glanzlichter in Wired, der Zeitschrift, die das digitale Lebens gefühl, das „being digital”, praktisch im Alleingang popularisierte, bevor sie – unter der Ägide des Großverlags Condé Nast – zu einer „Techno-Vogue” wurde.
Stephensons FLAG-Stück fand nicht nur in Deutschland Nacherzähler. Auch ihm, gab Stephenson später zu, habe die Recherche für sein neues Buch sehr genützt. Um was es darin gehe, ob es denn eher etwas Technisch- reportagenhaftes oder ein „richtiger Stephenson” werden würde, fragte ein Chatter. „Ein richtiger Stephenson”, war die Antwort, aber mehr dürfe er nicht verraten. Doch was ist ein „richtiger Stephenson”?
Zuerst einmal Kult. Mit dem perfekten Gespür für das richtige Thema zur richtigen Zeit setzt der Physiker und Geograph, der aus einer Akademikerfamilie stammt und in Illinois und Iowa aufgewachsen ist, seit den Neunzigerjahren neue Maßstäbe in der SF-Literatur. In dem 1992 erschienen „Snow Crash” lässt er seinen Helden, Hiro Protagonist, der für den Cosa-Nostra- Pizza-Zustelldienst arbeitet und einer der letzten unabhängigen Hacker seiner Zeit ist, in Gestalt einer künstlichen Persönlichkeit in den Cyberspace eintauchen und die Welt vor der Infokalypse retten. Das Buch liefert eine Fülle von Referenzen an die Gilde der Fantasy-Rollenspieler. Virtuelle Realität und „echte” Realität mischen sich nahtlos. Die später von der Sozialwissenschaftlerin Sherry Turkle (MIT) getroffene Aussage „Ich bin viele” nimmt Neal Stephenson erzählerisch vorweg. Schlagartig wurde er bekannt – der Cyberspace hatte einen neuen, genialen Fürsprecher und Geschichtenerzähler.
Spätestens mit „Diamond Age oder Die illustrierte Fibel für die junge Dame” (1995) legte er ein literarisches Meisterwerk vor und entfernte sich – genau wie die anderen beiden Ikonen am Himmel der SF-Literatur, William Gibson und Bruce Sterling – vom angestammten Genre. Sie alle sind längst in der Gegenwart angekommen, auch wenn sie weiterhin von ihren Verlagshäusern als SF- Autoren vermarktet werden. Ihre Geschichten sind, wie William Gibson und Bruce Sterling einmal sagten, „nur noch einen Steinwurf von der Gegenwart entfernt, greifbar, wenn wir die Augen öffnen” und von der Gattung her sind sie wohl am besten mit dem Begriff Gegenwartsliteratur charakterisiert.
Hauptdarsteller in „Diamond Age” ist ein Buch, besser gesagt: eine elektronische Fibel. Zufällig fällt dem Mädchen Nell diese Fibel in die Hände. Eine Fibel, die das gesamte Wissen der Welt in sich trägt, die sprechen kann und sich auf den jeweiligen Benutzer einstellt. Nell wächst mit der Fibel heran und löscht ihren Wissensdurst im Zeitalter der Nanotechnologie, in dem alles an der nächsten Ecke in Sekunden erzeugt werden kann. Im „Diamond Age” ist die Gesellschaft in Volksstämme aufgeteilt: Einige herrschen, die anderen dienen. Was Nell mit der und durch die Fibel lernt, erschüttert schließlich das gesamte Gesellschaftssystem. Nichts wird so bleiben, wie es ist. Mit ihrem eigenen Stamm – auch wieder eine starke Metapher aus der Computer- und Netzkultur – revolutioniert sie die Werte und Regeln der Gesellschaft.
Stephenson hat seine Geschichte übers Erwachsenwerden, übers Lernen und Verstehen, über die tiefe Zuneigung von Menschen zueinander, über das Brückenbauen zwischen Rassen, Völkern und Religionen, über die Liebe in einen nano-technologischen Kontext gestellt, der die Hacker-Gemeinde erst irritierte und schließlich begeisterte. Village Voice kürte den heute 42- Jährigen dafür zum „Quentin Tarantino des Cyberpunks”, und er wurde mit der höchsten SF-Auszeichnung bedacht, dem „Hugo Award”.
So auch „Cryptonomicon”. Mehr als zwei Jahre mussten die Leser sich gedulden, bis der Wälzer ins Deutsche übersetzt war. Auch das Blättern und Zwischendurchlesen in der amerikanischen Ausgabe half da nicht viel, denn es wimmelt darin von komplizierten mathematischen Formeln, Unix-Befehlen, einem Perl-Skript und dem algorithmischen Verschlüsselungsprogramm „Solitaire” von Bruce Schneider. Es geht um Kryptographie, um die Verschlüsselung von Informationen und Daten, besonders solchen, die über weite Strecken weitergegeben werden. Dabei siedelt der Unix- und Linux-Fan Stephenson seine Handlung auf zwei Zeitebenen an: einmal im Zweiten Weltkrieg, währenddessen die Verschlüsselungskunst eine bis dahin nicht gekannten Blüte erreichte. Und dann in der Jetzt-Zeit, in der es das weltweite Leitungsnetz Internet gibt, das aber noch Lücken und jede Menge Unsicherheiten aufweist. Natürlich stellen diese Kabel, da sie für das Internet wie „Nervenstränge” fungieren, auch die eigentliche Achillesferse dar – sie sind jederzeit verletzbar oder von außen anzugreifen.
In „Cryptonomicon” laufen beide Zeitstränge aufeinander zu. Neal Stephenson jongliert mit alten und neuen Metaphern: Mit „Gold” als der wertvollsten, komprimiertesten Währung, die es gibt; mit Information als (Börsen-)Geldwert, die übermittelt, decodiert und verstanden werden möchte; mit einer „Krypta” als Hort der freien Information, die sich jeder Regulierung entzieht; mit einem „Tunnel-System” als komplexem Ort des Verborgenen, der seine Erbauer gleich mit begraben soll; mit der Göttin Athene als Sinnbild seiner Weltsicht und den immer wiederkehrenden Begriffen „ein-” und „ausgraben” (null und eins) für die heutige Digitalität und den Umgang mit Daten.
Bevölkert wird diese Welt mit Figuren wie dem genialischen Mathematiker und Kryptoanalytiker Lawrence Waterhouse, der aus einer Orgel den ersten Computer macht, mit Alan Turing, seinem nicht weniger beschlagener Arbeitskollegen, dem durchgeknallten Corporal Bobby Shaftoe, der die alliierte Verschleierungsabteilung 2702 anführt, dem undurchsichtigen Prediger Enoch Root, dem Hacker und Unix-Spezialisten Randy Waterhouse, seinem Freund und Firmenmitinhaber Avi von der„Epiphyte Corporation”, dem japanischen Tunnelgräber und Überlebenskünstler Goto Dengo, dem deutschen U-Boot-Kapitän Bischoff und dem brutalsten Zahnarzt der Gegenwart, Spitzname „Der Dentist”.
Es gibt zwei Schlüsselstellen in „Cryptonomicon”. In der einen vergräbt Alan Turing zwei Silberbarren aus Angst vor einer Invasion Englands. Anschließend verschlüsselt er die Beschreibung, wo sie vergraben sind, so kompliziert, dass er die Barren nicht mehr wiederfindet.Und dann gibt es noch die Szene, in der der gealterte Enoch Root im Gefängnis von Manila auf den Computerfreak Randy Waterhouse trifft. In einem Nachtgespräch versucht Root seine Sicht der Welt zu erklären. „Gut”, sagt Randy, „Sie wollen also eindeutig darauf hinaus, dass es ein universelles Muster von Ereignissen geben muss, das, nachdem es durch die Sinnesorgane und Nervenstränge primitiver, abergläubischer Menschen gefiltert wurde, in deren Bewusstsein geistige Repräsentationen entstehen lässt, die sie mit Göttern, Helden etc. gleichsetzen.” – „Ja. Und die können über verschiedene Kulturen hinweg erkannt werden.” – „Sie wollen mir also weismachen, Enoch, dass diese Götteralle genau deswegen gewisse Dinge gemeinsam haben, weil die äußere Realität, die sie erzeugt hat, über die Kulturen hinweg übereinstimmend und universell ist.” – „Genau.”
Wahrscheinlich hat Stephenson mit „Cryptonomicon” sein literarisches Sinnbild und Leitmotiv schlechthin gefunden: Eingraben – ausgraben, ver- und entschlüsseln, codieren – entcodieren, verschleiern – entschleiern, ver- und entzaubern, den Sinn hinter den Zeichen, in den Gesichtern, Gefühlen, Bildern, Metaphern und Lebensweisheiten entdecken, ihn auffächern und uns näher bringen.
Aus Amerika ist zu hören, der Mann, den Bruce Sterling als „den einzigen wirklichen Erneuerer auf dem Gebiet der modernen Science-Fiction” bezeichnet, sei gerade dabei, sein neues Werk „Quicksilver” abzuschließen. Es spielt 300 Jahre vor „Cryptonomicon” und, um es mal vorsichtig zu sagen, es „korrespondiert” mit ihm – ob auch im Umfang, das verrät er nicht.
„Cryptonomicon” ist im Goldmann Verlag, München, erschienen.
Den Durchblick bewahren, das will jeder in Neal Stephensons Roman „Cryptonomicon”. Es geht um Kryptographie, um die Verschlüsselung von Informationen und Daten, besonders solchen, die über weite Strecken weitergegeben werden.
Illustration: Sabine Jahn
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2001

Das himmlische Jerusalem der Cypherpunks
Neal Stephensons Roman "Cryptonomicon" ist ein Verschlüsselungsprogramm unserer Ängste vor der Technik · Von Dietmar Dath

Der Erzählraum des ersten historischen Technik-Romans, der das zwanzigste Jahrhundert wirklich von außen sieht, statt diese Sicht wie viele Vorläufer nur zu simulieren, mußte zwingend mindestens zwei Brennpunkte umfassen. Das Jahrhundert war ja nicht gerade eindimensional.

Neal Stephenson hat die geheimen Nachrichtenschlachten des Zweiten Weltkriegs als ersten, die globale Computersphäre der Gegenwart als zweiten dieser Brennpunkte gewählt, beides aus guten Gründen. Denn jener Krieg schuf vorbereitende Parameter zeitgenössischer Informationsumwelten, während die Überschreitung dieser Parameter durch einen neuen technikgeschichtlichen Vektor sich erst heute abzeichnet. Ver- und Entschlüsselungsmaschinen waren seinerzeit kriegsentscheidende Waffen, im Alltag aber ungebräuchlich; heute hingegen leben wir in der beginnenden Phase des "Ubicomp", wie Industriedesigner das "ubiquitäre Computing", die bevorstehende Allgegenwart von Rechnern, abkürzen.

Das geistesgeschichtliche Klima scheint günstig für eine Infotechnik-Großerzählung: Überall hört und liest man von "Information", der damit verbundene Metaphernvorrat scheint als Bildspender für halb erahnte, halb erlebte Umschwünge bestens zu taugen. Das Schlagwort von der "Freiheit der Information", das Computerhacker geprägt haben, hätte die Strategen des U-Boot-Krieges erbleichen lassen. Die Forderung nach "Info-Selbstbestimmung", die von "Cypherpunks", das heißt freischaffenden Code-Experten mit libertär-anarchischen Neigungen wie Eric Hughes und Tim May, erhoben wird, dürfte Werbern wie Volkszählern mißfallen. Die einst so flexible freie Marktwirtschaft steht angesichts der Info-Zukunft unter Evolutionsdruck. Selbst eine ökonomische Supermacht wie der Fachverband der amerikanischen Plattenindustrie RIAA hat dies dank wild wuchernder Internet-Musikanbieter zu spüren bekommen.

Das Ausgangsszenario von Neal Stephensons Roman "Cryptonomicon" nimmt fast alle obengenannten Stränge auf, fügt noch ein paar hinzu und flicht daraus ein elastisches Kabel, durch das die abstrakte politische Idee des Buches in alle Welt gesendet wird: ein neuer, komplexer politischer Begriff von der "Freiheit der Information".

Die erste "Cryptonomicon"-Handlungsebene begleitet einige Protagonisten des Info-Krieges der Jahre 1938 bis 1945 um deutsche Verschlüsselungsmaschinen, Codes und die alliierten Helden der Entschlüsselung, allen voran Alan Turing. Stephenson erfindet einen amerikanischen Krypto-Analytiker namens Lawrence Waterhouse und einen Marine-Soldaten namens Bobby Shaftoe, die beide an unterschiedlichen Fronten am Geschehen teilhaben - Waterhouse als "Codebreaker", Shaftoe als Kommandosoldat. Nicht nur durch Kapitel-Einschachtelung mit dem Weltkrieg verbunden ist Stephensons zweite Haupthandlung, die eine Gruppe junger, mathematisch versierter und risikobereiter Köpfe der Gegenwart vorstellt, zu denen auch Waterhouses Enkel Randy gehört.

Diese Gruppe hat eine Marktlücke im Sicherheitsbereich vernetzter Infotechnologie entdeckt: Server stehen auf dem Boden von Staaten; die Informationsfreiheit hat demnach Grenzen. Mit Unterstützung des Sultans einer Philippinen-Insel namens Kinakuta wollen die Jungunternehmer deshalb dort eine "Krypta" einrichten und darin den ersten Server der Welt aufstellen und ans Netz hängen, der allen Zugriffen durch wirtschaftliche oder politische Mächte entzogen sein soll. Übeltäter in Regierungen und Megakonzernen machen der "Epiphyte Corporation" um Randy Waterhouse und seinen Freund Avi Halaby rasch das Leben schwer, vorbereitende Terrainsondierungen auf den Philippinen führen ins Dickicht des realen wie des Info- und Geschichtsdschungels, ganz zu schweigen von Problemen mit Randys und Avis früherem Freund Andrew, der sich jetzt für ein "Memom" hält, was immer das sein mag. Und dann ist da noch die Sache mit dem alten Nazi-Goldschatz und jenem legendären Handbuch der Kryptologie, das dem Roman den Titel leiht: "Cryptonomicon".

Die Stilsicherheit, mit der Stephenson Kolportage-Elemente mit informationstheoretischen Exkursen kombiniert, beschleunigt im Verlauf der Lektüre den Lesefluß zusehends, und man ist bald geneigt, all dies als packende Unterhaltung zu konsumieren. Da aber wird auf einmal, ziemlich genau in der Mitte des Buches, eine Engführung der scheinbar bunt durchmischten Erzählmelodien geleistet. Die Familienbeziehungen und die Doppelpräsenz einzelner Charaktere, etwa des geheimnisvollen Enoch Root, der im Weltkrieg Soldat, in der Gegenwart Emissär eines ominösen Gelehrtenbundes ist, sind nämlich nicht die einzigen Verbindungen zwischen den Ebenen. Am Scharnierpunkt des Romans erklärt der amerikanische Jude Avi Halaby seinem Freund Randy die geschichtsphilosophische Überzeugung hinter dem "Krypta"-Projekt: "Du spielst eine große Rolle bei der wichtigsten Sache der Welt."

Gemeint ist damit, führt Avi aus, die Verhinderung von Völkermorden. Der bisherige "infotechnische Umgang" mit dem Holocaust sei nicht geeignet, künftigen Genoziden vorzubeugen. Fortan müsse man verhindern, daß Mächtige jeglicher Art je wieder ein Informationsgefälle zwischen sich und den Bedrohten schaffen, um letztere zu Objekten zu machen: "Statt um die Bildung und Erziehung der potentiellen Täter von Massenvernichtungen geht es uns um die Bildung und Erziehung der potentiellen Opfer." In der Sprache politischer Theorie lautet Avi Halabys Gedanke, der das Herz von Stephensons Roman bildet: Hätten die europäischen Juden die abstrakte Repräsentation ihrer sozialen Existenz selbst kontrollieren können, wäre die Vernichtungspolitik der Nazis unmöglich gewesen - ohne zentral einsehbare Datensätze keine Deportationen. Wenn dann noch umgekehrt die Pläne der Regierung jederzeit von Betroffenen abgefragt werden können, sind Angriffe auf Leben und Freiheit praktisch undurchführbar.

Was Stephenson Avi sagen und denken läßt, bedeutet keineswegs Datenanarchismus. Es geht eher um den Versuch, politische Kategorien bürgerlicher Demokratie wie Minderheitenschutz oder Freizügigkeit auf die Datensphäre zu übertragen. Mit Science-fiction, einem Genre, in dem Stephenson mit Romanen wie "Snow Crash" und "Diamond Age" brillierte, hat das gar nicht so viel zu tun - selbst die kühnste Idee des Buches, die zugriffsgeschützte autarke Datenkrypta, ist kein Utopiestoff. Ein Unternehmen namens "Havenco" bietet vergleichbare Dienste auf dem hauptsächlich aus einer künstlichen Plattform im Meer bestehenden Territorium des "souveränen Staates Sealand" unweit der britischen Küste an, dessen Wappen mit der Parole "Aus dem Meer die Freiheit!" Cypherpunks aller Länder ein neues Jerusalem verspricht. Stephensons Zusammenarbeit mit dem Kryptographie-Experten Bruce Schneier, der im Anhang des Buches ein Verschlüsselungsprogramm vorstellt, verweist auf die Absicht des Romanciers, seine Phantasie in realer Geschichte und Gegenwart zu erden. "Je mehr ich über Geschichte lese, desto klarer wird mir, daß ich all diese Ungeheuerlichkeiten nicht übertreffen kann", erzählte er 1999 dem Science-fiction-Magazin "Locus". Eine ursprünglich geplante weitere Handlungsebene, die in der Zukunft spielen sollte, fiel dieser Einsicht zum Opfer und soll möglichen Fortsetzungen vorbehalten bleiben.

Anders als Paul Di Filippos Kultroman "Cipher" von 1997 oder Tim Mays Cypherpunk-Brevier "Cyphernomicon", dessen Titel Stephenson vor Beendigung seines Buches nicht kannte, wie er sagt, ist "Cryptonomicon" ein Text nicht nur für Eingeweihte. Die um technische Akuratesse bemühte deutsche Übersetzung bildet die Geschmeidigkeit von Stephensons Prosa unglücklicherweise selten ab, sachliche Fehler wird man ihr aber kaum nachweisen können. Natürlich verlangt auch die Lektüre, sich auf die Sprache der Infotechnik einzulassen. Darin steckt eine Kampfansage sowohl an Technikfixierung wie -ignoranz. Daß es darum geht, das Monopol geschwätziger Schwadroneure auf den Titel "politische Intellektuelle" zu brechen, macht eine Stelle im Roman deutlich, an der Randy Waterhouse und ein Geisteswissenschaftler aneinandergeraten. Der Gelehrte faselt poststrukturalistischen Unsinn übers Internet, Randy reagiert gereizt, der Gelehrte schimpft ihn einen "Technokraten", Randys Replik: "Ich bin einfach einer, der runter in die Buchhandlung gegangen ist, sich einen Stapel Lehrbücher über TCP/IP, das Standard-Kommunikationsprotokoll des Internet, gekauft und sie gelesen hat. Dann habe ich mir einen Computer besorgt, was heutzutage jeder tun kann, habe einige Jahre damit herumgespielt, und jetzt weiß ich alles darüber. Macht mich das zum Technokraten?"

Die rhetorische Frage sagt mit wenigen Worten, wie Stephensons Vorstellung von zeitgemäßer politischer Intelligenz aussieht. Wenn ein sensibles Spionagegerät eine kleine, in den Roman mit grandioser Präzison eingepaßte Fetischisten-Novelle von einem Bildschirm abliest oder ein Hacker-Gegenangriff auf Regierungsbehörden, die einen Rechner beschlagnahmen wollen, furios geschildert wird, lautet die Botschaft: Niemand soll gezwungen werden, beispielsweise Konventionen und Syntax des interaktiven Betriebssystems UNIX zu lernen. Von dessen Existenz aber nichts zu wissen und sich dafür auch nicht zu interessieren könnte für Romanciers wie für deren Leser ein Handicap sein - spätestens in politischen Auseinandersetzungen der nahen Zukunft, in denen Begriffe wie Privatsphäre, Arbeitswelt, Rezession und Demokratie noch weitreichende Umdeutungen erfahren werden.

Neal Stephenson: "Crytonomicon". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Juliane Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl. Manhattan Verlag, München 2001. 1181 S., geb., 57,99 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Auch "scheinbar grundstürzenden Innovationen" wie der Cyberspace haben eine Geschichte und die erzählt der Ex-Hacker Neal Stephenson in dem fast 1200 Seiten umfassenden "ziegelschweren Wälzer" Crytonomicon, berichtet Uwe Pralle. Damit deutet der Rezensent bereits an, was ihm an diesem Roman weniger gefällt: Zu viele historische Figuren würden hier eingeführt, die oft konturlos blieben. Hätte der Autor die ausschweifende Darstellung der Geschichte der Informationstechnologie deutlich gekürzt, dem Leser bliebe manche Ermüdungserscheinung erspart, mäkelt Pralle. Doch räumt er Stephenson auch großes Lob ein. Besonders gut gefällt dem Rezensenten, dass sich der Roman durchaus auch als "hübsche Satire" auf die New Economy lesen lasse und er "ungewöhnlich" viel Information über die Gegenwart und die Wurzeln des Cyberspace enthalte. Seine "respektlose Phantasie" gegenüber dem Diktum, "technologische Sachverhalte wie Hieroglyphen zu hüten", wirke geradezu "befreiend", atmet der Rezensent erleichtert auf. Und der Rekurs auf die europäische Geschichte der Computertechnologie wird, mutmaßt Pralle, manchen Europäer erstaunen, denn gerade der Rückgriff auf die europäischen Wurzeln dürfte für viele "heute weit und breit undenkbar" sein.

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