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Seit 1923 ist die Türkei eine Republik, nach dem Ende des Osmanischen Reiches gegründet von Atatürk, der ein damals geradezu revolutionäres Staatswesen einführte mit westlicher Orientierung, einer strikten Trennung von Staat und Religion und einer stark nationalistischen Prägung. Die Prinzipien dieser Republik wurden vertreten von Militär, Staatsapparat und Intellektuellen, der alten Elite des Landes. Doch in dieser Republik hat das Militär geputscht, so oft Atatürks Prinzipien in Gefahr schienen, religiöse und ethnische Minderheiten wurden unterdrückt und vertrieben, die ländlichen Regionen wurden vernachlässigt. …mehr

Produktbeschreibung
Seit 1923 ist die Türkei eine Republik, nach dem Ende des Osmanischen Reiches gegründet von Atatürk, der ein damals geradezu revolutionäres Staatswesen einführte mit westlicher Orientierung, einer strikten Trennung von Staat und Religion und einer stark nationalistischen Prägung. Die Prinzipien dieser Republik wurden vertreten von Militär, Staatsapparat und Intellektuellen, der alten Elite des Landes. Doch in dieser Republik hat das Militär geputscht, so oft Atatürks Prinzipien in Gefahr schienen, religiöse und ethnische Minderheiten wurden unterdrückt und vertrieben, die ländlichen Regionen wurden vernachlässigt.
Autorenporträt
Hermann, Rainer
Rainer Hermann, geboren 1956, Dr. phil., Islamwissenschaftler und Diplom-Volkswirt, ist Mitglied der Redaktion der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' und berichtet seit 1996 aus der Türkei und der arabischen Welt. Von 1991 bis 2008 lebte er als Korrespondent mit seiner Familie in Istanbul, 2008 übersiedelte er nach Abu Dhabi. 2012 kehrte er nach Deutschland zurück und ist in der politischen Redaktion der 'FAZ' vor allem für den Nahen Osten und die islamische Welt zuständig. Titel bei dtv: 'Wohin geht die türkische Gesellschaft?' (2008), 'Die Golfstaaten' (2011), 'Endstation Islamischer Staat?' (2015).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2008

In diesem Land tut man den Tauben nichts
Neue Bücher über die Türkei beschwören vor allem die europäische Perspektive dieses Landes „zwischen Thrakien und Mesopotamien” Von Christiane Schlötzer
Die „Istiklal” ist der beliebteste Trampelpfad Istanbuls, einst putzte sie sich heraus zur Grande Rue de Pera, heute ist sie zur Fußgängerzone banalisiert. Dazwischen gab es viele Stadien des Übergangs. Zuletzt tilgten allzu eifrige Stadtplaner das bisschen Grün, das es noch gab, weil sie meinten, Bäume bildeten unzulässige Barrieren im Menschenstrom, der Tag und Nacht durch diese Stadtschneise fließt. Amalia van Gent hätte für ihr Türkei-Porträt kaum einen besseren Auftakt finden können als einen Spaziergang über diese Lebensader Istanbuls.
Fast 20 Jahre lang hat die Autorin als Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung am Bosporus verbracht. Zuvor hatte sie das Land bereits bereist, das erste Mal nach dem Putsch von 1980, und sie erinnert an die Düsternis jener Jahre, als die Istiklal, so als spiegle sie die Schmerzen jener Zeit, von rußgeschwärzten und halb verfallenen Fassaden gesäumt war. Später dann, als Kämpfe zwischen der kurdischen PKK und der türkischen Armee die Dörfler aus dem fernen Südosten nach Westen trieben, tauchten zerlumpte, bettelnde Straßenkinder im Istanbuler Zentrum auf. Mit dem Wirtschaftsboom sind inzwischen Designertempel, teure Cafés und Kunstgalerien in die prachtvoll restaurierten Altbauten aus der Glanzzeit der Grande Rue gezogen. Aber die Istiklal hat immer noch dunkle Hintergassen. Sie stehen für das „Leben auf Bruchlinien” (so der Buchtitel), für die alten türkischen Tabus, für die Armutsecken, in denen der Aufschwung noch nicht angekommen ist. Amalia van Gent hält den Erzählton weitgehend durch, dies nimmt ihren Analysen nichts. Sie beschreibt die „Krise des Kemalismus”, der herrschenden Staatsideologie, die sich so schwer tut, eine dem 21. Jahrhundert angemessene Form zu finden. Die Dogmen aus der Republikgründerzeit sind längst zur Ersatzreligion mutiert. Die Türkei werde nicht durch zu viel, sondern durch zu wenig Demokratie immer wieder destabilisiert, lautet die Diagnose des einflussreichen türkischen Industriellenverbandes Tüsiad.
Ein eindringliches Kapitel widmet die Autorin den Kurden. Kein anderer Konflikt habe der Türkei mehr Leid beschert und einen höheren Tribut an Leben, Geld und Ansehen gefordert als der kurdische, schreibt sie. Ein Leben mit mehreren Identitäten, wie es auch von den Kurden gefordert wird, kennt die Journalistin aus eigener Anschauung. Van Gent ist Griechin, kam als Jugendliche in die Schweiz und hat ihr halbes Berufsleben zwischen Europa und Asien verbracht. Sie hat schon deshalb einen besonderen Blick für den Umgang mit Minderheiten, natürlich auch für das Schicksal der Griechen von Istanbul. Gerade die Christen in der Türkei setzen auf eine EU-Perspektive für ihr Land. Amalia van Gent ist hier zurückhaltender, sie bekennt in einem als „vorläufig” bezeichneten Fazit am Ende des Buches, dass sie auch nach fast zwei Jahrzehnten Beschäftigung mit diesem Land der „ständigen Metamorphosen” nicht wisse, ob die Türkei zu Europa gehöre oder nicht.
Ganz anders der Islamwissenschaftler und Volkswirt Rainer Hermann. Auch sein Buch ist eine Bilanz. Der Autor hat 17 Jahre in der Türkei verbracht, zuletzt als Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen, und die Zusammenfassung seiner Erfahrungen weicht von der Linie des konservativen Blattes eher ab, wenn er konstatiert, die Türkei habe „ausgerechnet unter einer konservativ-muslimischen” Regierungspartei wichtige Schritte in Richtung EU getan. Hermann, der auch die arabische Welt oft bereiste, plädiert dafür, die Türkei in ihrem Beitritts-Wunsch zu unterstützen.
„Eine direkte Grenze Europas zur Konfliktregion des Nahen Ostens wird es geben”, schreibt er. Die Frage sei nur, „wo diese verläuft: in Thrakien oder in Mesopotamien”. Sollte sich Europa für Thrakien, also die Trennlinie zwischen Griechenland und der Türkei entscheiden, werde es keines seiner Sicherheitsprobleme lösen, meint Hermann. Sollte die EU die Türkei aber aufnehmen, würde Europas Einfluss bis zu den Ölquellen des Nahen Ostens reichen.
Historisch fundiert beschreibt der Journalist die Kraftquellen sowie die Krisenzonen des Landes, setzt sich mit dem „autoritären Laizismus” auseinander und mit dem speziellen türkischen Islam, dem er Reformpotential zutraut. Der so häufig beschworene Krieg gegen den Terror ist für ihn nur zu gewinnen, wenn der Westen mit den gemäßigten Muslimen zusammenarbeitet. Denn der Kampf zwischen den Zivilisationen finde statt, aber der Graben verlaufe nicht zwischen dem christlichen Westen und dem muslimischen Orient, sondern „mitten durch die islamische Welt”. In diesem Sinne ist die Türkei, die Islam und Demokratie vereine, für den Autor „das leuchtende Beispiel, was für Muslime möglich ist”.
Eine beständige Geißel der Türkei aber ist ein immer wieder aufflammender kruder Nationalismus, der sein zerstörerisches Potential vor allem nach innen richtet. Rainer Hermann wie Amalia van Gent berichten, wie sehr sie die Ermordung des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink durch einen fanatisierten 17-Jährigen im Januar 2007 geschockt hat. Beide kannten ihren Kollegen Dink persönlich. Dieser hatte sich wie kein anderer in seinem Land öffentlich mit der so lange tabuisierten Geschichte der Armenier auf dem Boden der heutigen Türkei auseinandergesetzt. Van Gent hat ihr Buch Dink gewidmet. Der ehemalige Leiter des Istanbuler Orient-Instituts, Günter Seufert, wiederum hat es unternommen, Hrant Dinks Kolumnen zu übersetzen, die dieser regelmäßig für die von ihm gegründete, in Istanbul erscheinende Wochenzeitung Agos schrieb. Agos erscheint auf Armenisch und Türkisch und wird weit über die Türkei hinaus gelesen. Dinks Texte sind äußerst hellsichtig, voll poetischer Ironie. Wie groß sein Mut gewesen sein muss, lässt sich bei dieser Lektüre nachspüren. Denn Dink betrat immer wieder vermintes Terrain. In der Türkei zu bleiben, empfand er trotz aller Anfeindungen durch Gerichte und selbsterklärte Republikverteidiger als „so etwas wie eine Pflicht allen Freunden gegenüber, die für mehr Demokratie streiten”. Er schrieb, „es liegt mir einfach nicht, brodelnde Höllen zu verlassen und mich in gemachten Paradiesen einzurichten”. Dinks Credo lautete, Türken und Armenier sollten sich nicht befehden, sie wüssten nicht, „ob sie nicht verwandt sind”. Dies war für Dink keine leere Formel. In Agos veröffentlichte er auch die Suchanzeige der Istanbuler Anwältin Fethiye Cetin. Die hatte von ihrer Großmutter zur eigenen Überraschung erfahren: Sie ist gar keine Türkin, sondern eine „versteckte” Armenierin. Cetin suchte ihre armenischen Verwandten und fand sie mit Hilfe von Agos in Amerika. Sie hat darüber selbst ein Buch geschrieben, das leider noch nicht ins Deutsche übersetzt ist – und wurde die Anwältin der Familie Dink.
„Ich weiß, in diesem Land tut man den Tauben nichts. Hier leben Tauben mitten in der Stadt und mitten unter Leuten; immer ein bisschen ängstlich, doch dafür immer auch ein bisschen frei.” So schrieb der Autor in seiner letzten Kolumne, sie erschien am Tag seines Todes. Aus den Texten formt sich das Porträt eines großen Liebenden, der nicht aufhören wollte, an Verständigung zu glauben. Dafür, so glaubte er, brauche es nur mehr Wissen und noch viel mehr Empathie.
Wie groß der Nachhall dieser Botschaft ist, zeigt auch Sibylle Thelen, die sich auf die Suche nach den „Gesichtern der neuen Türkei” gemacht hat. Sie begegnete auch Dink, ebenso wie der kurdischen Sängerin Aynur, die mit Liedern in der lange verfemten Sprache Erfolge feiert. Und der Mäzenatin Oya Eczacibasi, die mit dem Museum „Istanbul Modern” neue Farben an den Bosporus holte, und dem Musikproduzenten Hasan Saltik, der die vergessenen Lieder der vielen Ethnien der Türkei zu Gehör bringt. Sie schallen nun auch über die Istiklal, aus den Lautsprechern der unzähligen Bars. Der neue türkische Klangteppich hat so viele Töne und Tempi, dass man sich nicht vorstellen kann, dass es auf der Istiklal einmal wieder still wird.
Amalia van Gent
Leben auf Bruchlinien: Die Türkei auf der Suche nach sich selbst
Rotpunktverlag, Zürich 2008. Fotos: Linda Herzog. 314 Seiten, 24 Euro.
Rainer Hermann
Wohin geht die türkische Gesellschaft? Kulturkampf in der Türkei
dtv, München 2008. 315 S., 14,90 Euro.
Hrant Dink
Von der Saat der Worte
Hg./Übersetzung: Günter Seufert. Schiler Verlag, Berlin 2008. 183 S., 24 Euro.
Sibylle Thelen
Istanbul – Stadt unter Strom: Gesichter der neuen Türkei
Herder Verlag. Freiburg 2008. 192 Seiten, 14,90 Euro.
„Die Türkei ist das leuchtende Beispiel, was für Muslime möglich ist”
Ein Bild aus der modernen Türkei, das so gar nicht zu den Klischees über das angeblich von Europa noch so unendlich entfernte Land zu passen scheint: die Bagdadstraße in Istanbul, eine der beliebten Einkaufs- und Flanierstraßen der Hauptstadt. Foto: Carsten Koall
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2008

RAINER HERMANN, bis November Korrespondent dieser Zeitung in Istanbul, zieht in seinem Buch ein Fazit von siebzehn Jahren in der Türkei und zeichnet den tiefgreifenden Wandel der türkischen Gesellschaft in Politik, Wirtschaft und Kultur nach. Mit dem Abschluss der Verstädterung und Industrialisierung Anatoliens entstand eine neue Mittelschicht, die sich politisch in der AKP organisiert und die Vorherrschaft der urbanen, weitgehend areligiösen Staatselite herausfordert. Die AKP wurzelt im politischen Islam, bewegte sich aber zur politischen Mitte und demokratisierte die Türkei tiefgreifender als alle früheren Regierungen. Assimilation ist Teil der türkischen Staatsräson seit der Ausrufung der Republik 1923. Hermann analysiert diese Staatsdoktrin und den Widerstand derer, die durch sie benachteiligt werden. (Rainer Hermann: "Wohin geht die türkische Gesellschaft?" Kulturkampf in der Türkei. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008. 320 S., br., 14,90 [Euro].)

F.A.Z.

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Ein "Standardwerk über die Türkei" hat FAZ-Korrespondent Rainer Hermann nach Überzeugung von Daniel Bax mit diesem Band vorgelegt. Der Materialreichtum mutet dem Rezensenten schon beinahe wissenschaftlich an, doch gelinge es Hermann dank eines flüssigen Schreibstils, seine Auseinandersetzung mit der kemalistischen Staatsideologie der Türkei streckenweise spannend wie einen Thriller zu machen. Gut aufgebaut ist Hermanns Text nach Bax' Einschätzung zudem, auch wenn ihm der strenge Gegensatz, den der Autor zwischen staatlicher Autorität auf der einen und gesellschaftlicher Dynamik auf der anderen Seite "ein wenig schematisch" erscheint.

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